„Über Auschwitz aber wächst kein Gras...“ Dies ist die vollständige Version des im Heft nur auszugsweise abgedruckten Artikels.
 
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Geschichte „Über Auschwitz aber wächst kein Gras...“ Vor 25 Jahren hob der Bundestag die Verjährungsfrist für Mord auf. Anlass für eine kritische Würdigung eines unrühmlichen Kapitels (west)deutscher Vergangenheitsbewältigung. Das Abstimmungsergebnis im Bundestag an jenem 3. Juli 1979 war eindeutig: 255 Abgeordnete unterstützten den Antrag der SPD/FDP-Koalition, die (bis dahin 30jährige) Verjährungsfrist für „Mord“ aufzuheben. 222 Parlamentarier stimmten dagegen. Diese Gesetzesänderung, über die seit dem Beginn der 1960er Jahre sowohl in der bundesdeutschen Öffentlichkeit als auch im Bundestag äußerst kontrovers diskutiert worden war, zielte darauf, nationalsozialistische Mordtaten auch in Zukunft strafrechtlich ahnden zu können.
 
Die Entscheidung war nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Drucks aus dem Ausland zustande gekommen. So hatte im Vorfeld der Abstimmung das Europaparlament die Bundesregierung aufgefordert, die „Europäische Konvention über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einzuhalten. Ähnliche Appelle waren auch vom US-amerikanischen Repräsentantenhaus und verschiedenen osteuropäischen Staaten verabschiedet worden. In der Bundesrepublik selbst hatten besonders der seit 1975 vor dem Düsseldorfer Landgericht stattfindende „Majdanek-Prozess“ und die Ausstrahlung der umstrittenen US-Fernsehserie „Holocaust“ im Januar 1979 große Teile der Öffentlichkeit für die bis zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommenen oder verdrängten Ausmaße der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sensibilisiert. Der Beschluss des Bundestages, die Verjährungsfrist für Mord aufzuheben stieß somit auf überwiegend positive Resonanz.
 
Und dennoch enthielt die Entscheidung ein fatales geschichtspolitisches Signal: Das letztlich verabschiedete Gesetz, ermöglichte zwar weitere Ermittlungen gegen NS-Verbrecher, hatte aber einen verschleiernden und „entpolitisierenden“ Charakter. Durch die generelle Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord, setzte der Bundestag „zivile“ mit nationalsozialistischen Morden gleich. Die besonderen Umstände, Hintergründe und Dimensionen der NS-Verbrechen blieben dagegen unerwähnt. Nur wenige Redner machten in der Bundestagsdebatte am 3. Juli 1979 auf diesen zentralen Aspekt aufmerksam. So betonte der FDP-Abgeordnete Werner Maihofer: „Über Mord wächst irgendwann einmal Gras, und zwar im Regelfall schon nach einer Generation. Über Auschwitz aber wächst kein Gras, noch nicht einmal in 100 Generationen.“ Maihofers Appell blieb ungehört, widersprach er doch trotz, oder gerade wegen des politisch-gesellschaftlichen Klimas in dem die Debatte geführt wurde, einer nicht nur unter den Abgeordneten weit verbreiteten „Schlussstrichmentalität“. Dennoch werden die Verjährungsdebatten im Bundestag in den Jahren 1965, 1969 und 1979 gerne als „Sternstunden“ (Peter Reichel) des deutschen Parlamentarismus bezeichnet. Auch die Tatsache, dass sich bis heute einzelne, mittlerweile hochbetagte NS-Verbrecher wie etwa die SS-Offiziere Friedrich Engel in Hamburg (2002), Anton Malloth in München (2001) oder Herbertus Bikker in Hagen (2003) vor Gericht verantworten müssen, gilt als Nachweis einer zwar anfangs mit Schwierigkeiten behafteten, auf langfristige Sicht aber respektablen juristischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Davon kann freilich nicht die Rede sein. Die gegenwärtigen von großem Medienrummel begleiteten Prozesse gegen einige noch lebende, SS-Schergen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass unzählige NS-Verbrecher von der bundesdeutschen Justiz nahezu unbehelligt blieben. Sie kamen in den Genuss großzügig gewährter Amnestien, profitierten von Verjährungsfristen oder sahen sich im Zweifelsfall verständnisvollen Richtern und Staatsanwälten gegenüber. Die teilweise leidenschaftlich geführten Verjährungsdebatten im Bundestag sollten somit angesichts dieser aktiv betriebenen bzw. passiv tolerierten Vergangenheitspolitik in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden.
 
Gnadenerlasse und Amnestien
 
Entgegen den Vorstellungen der Alliierten hatte die Bundesrepublik nach ihrer Gründung, anders als etwa Österreich, darauf verzichtet, ein spezielles juristisches Instrumentarium zu schaffen, um nationalsozialistische Gewaltverbrechen konsequent zu ahnden. Entsprechende Überlegungen wurden mit dem doppelbödigen Hinweis abgelehnt, „Sondergesetze“ seien mit dem Rechtsstaatsprinzip des neuen westdeutschen Staates nicht zu vereinbaren. Als Grundlage der Strafverfolgung sollten ausschließlich die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung, schwere Körperverletzung) dienen, mit denen jedoch den Spezifika zahlreicher NS-Verbrechen kaum zu fassen waren.
 
Dennoch wurden bis 1950 von (west)deutschen Ermittlungsbehörden mehr als 5200 Strafverfahren eingeleitet, die allerdings nur in 100 Fällen Tötungsverbrechen betrafen. Hier ging es im Wesentlichen um Morde, die auf deutschem Territorium in Euthanasie-Anstalten den Konzentrationslagern Buchenwald, Ravensbrück und Kaufering begangen worden waren. Hatte die gerichtlichen Verurteilungen im Jahr 1948 mit 1819 ihren Höhepunkt erreicht, gingen die Zahlen seitdem kontinuierlich zurück: Wurden im Jahr 1949 noch immerhin 1523 NS-Täter verurteilt, waren es 1955 nur noch 21. Diese Entwicklung hatte unterschiedliche Gründe: Von Amtswegen, leiteten die Staatsanwaltschaften nur selten Ermittlungsverfahren ein, zumal zahlreiche Tatorte außerhalb der Bundesrepublik und somit vermeintlich außerhalb der jeweiligen Zuständigkeitsbereiche der Ermittlungsbehörden lagen. Versuche, etwa durch das Bundesjustizministerium oder die Bundesanwaltschaft, die Aufklärung von NS-Verbrechen zu koordinieren und auszuweiten gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. Gleichzeitig wuchs am Beginn der 1950er Jahre innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft der Unmut über die weitere Verfolgung und Inhaftierung mutmaßlicher NS-Täter. So demonstrierten im Januar 1951 im oberbayerischen Landsberg, dem Sitz des größten Kriegsverbrechergefängnisses der (ehemaligen) amerikanischen Besatzungszone über 3000 Personen gegen die Absichtserklärung der US-amerikanische Militärjustiz, nur einen Teil der von ihr gegen deutsche NS-Täter verhängten Todesurteile in Freiheitsstrafen umzuwandeln. Ferner wurden vergangenheitspolitische Lobby-Gruppen aktiv, die eine umfassende Generalamnestie forderten. Diese freilich erwies sich als nicht durchsetzbar. Allerdings verabschiedete der Bundestag im Juli 1954 ein Amnestiegesetz für Straftaten mit einem Strafmaß von bis zu drei Jahren, die zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945, „in Annahme einer Dienst- oder Amtspflicht oder auf Grundlage eines Befehls“ begangen worden waren. Ausgenommen von dieser Amnestieregelung waren „Mord“ und „Totschlag“. Ebenfalls konnten diejenigen, die nach Kriegsende aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung untergetaucht waren und eine neue Identität angenommen hatten, mit Straffreiheit rechnen, sofern sie bis zum 31. Dezember 1954 ihre falschen Angaben korrigierten.
 
Eine nachlassende Bereitschaft, NS-Verbrechen zu ahnden, wurde aber auch im Kontext des sich zuspitzenden Kalten Krieges bei den Westalliierten deutlich. So erließen die US-amerikanischen, französischen und britischen Hochkommissare im Verlauf der 1950er Jahre zahlreiche Gnadenentscheidungen, die die ursprünglichen Strafen der Militärgerichte erheblich abmilderten. Bemerkenswert war, dass in den Genuss dieser Strafnachlässe nicht nur ehemalige Wehrmachtsangehörige kamen, sondern auch einige hochrangige Führer der berüchtigten Einsatzgruppen des SD. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit festigte sich in diesen Jahren die Überzeugung, dass die (juristische) Bewältigung der NS-Vergangenheit weitgehend abgeschlossen sei.
 
Der „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ und die Gründung der „Zentralen Stelle“
 
Die Diskussionen um die künftige Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen flammten am Ende der 1950er Jahre jedoch wieder auf. Diese Entwicklung hatte unterschiedliche Ursachen: Zum einen war 1953 das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) in Kraft getreten. Um Entschädigungsleistungen zu erhalten, mußten NS-Opfer, in oftmals entwürdigenden Verfahren, ihre erlittene „politische, religiöse oder rassische Verfolgung“ durch das NS-Regime nachweisen. In diesem Zusammenhang wurden zahlreiche bislang unbeachtet gebliebene Tatkomplexe bekannt. Zum anderen kehrten im September 1955 die letzten deutschen Kriegsgefangenen - insgesamt ca. 15000 - aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik zurück. Unter ihnen befanden sich zahlreiche offenkundige Kriegs- und NS-Verbrecher, gegen die verschiedene Staatsanwaltschaften nun Ermittlungsverfahren einleiteten. Große Bedeutung kam nicht zuletzt dem „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ 1957/1958 zu. Begleitet von einem bis dahin außergewöhnlich großen Medieninteresse, mußten sich der frühere Polizeichef von Memel Bernhard Fischer-Schweder sowie neun weitere Personen, allesamt ehemalige Angehörige der Einsatzgruppe A, wegen ihrer Beteiligung an Massenerschießungen im Baltikum vor dem Landgericht Ulm verantworten. Die Angeklagten wurde des Mordes und der Beihilfe zum Mord in bis zu 4000 Fällen schuldig gesprochen und zu Zuchthausstrafen zwischen 3 und 15 Jahren verurteilt.
 
Die in diesem Prozess verhandelten, in ihren Dimensionen kaum fassbaren Verbrechen, machten auf eine in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft vielfach verleugnete und verdrängte Tatsache aufmerksam: Die Feststellung nämlich, dass entgegen der zahlreichen anders lautenden Behauptungen, ein Großteil der nationalsozialistischen Massenverbrechen, bislang ungeahndet geblieben war. Der „Ulmer Einsatzgruppenprozess“, später dann der Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) sowie der Auschwitzprozess in Frankfurt (1963) verdeutlichten, dass der in den 1950er Jahren gleichermaßen postulierte wie herbeigesehnte Schlußstrich unter die juristische Vergangenheitsbewältigung doch nicht so einfach gezogen werden konnte. Die Bemühungen, etwa der bürgerlich-konservativen Bundesregierung unter Bundeskanzler Adenauer, zielten allerdings weiterhin darauf, das Ausmaß der Strafverfolgung im Zusammenhang mit NS-Verbrechen möglichst zu begrenzen.
 
Diesen Bestrebungen gewissermaßen entgegengesetzt, war jedoch die Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ (Zentrale Stelle) im Jahr 1958 als Konsequenz aus den Erfahrungen des „Ulmer Einsatzgruppenprozesses“. Der Auftrag der in Ludwigsburg bei Stuttgart angesiedelten Zentralen Stelle bestand darin, erste Vorermittlungen in Fällen bislang unaufgeklärter NS-Verbrechen aufzunehmen, die in den von den Deutschen besetzten Gebieten begangen worden waren. Explizit ausgeklammert blieben jedoch Wehrmachtsverbrechen. In der Praxis sahen sich die Staatsanwälte der Zentralen Stelle mit zahlreichen Schwierigkeiten bis hin zu gezielten Obstruktionen konfrontiert. So verfügte die Einrichtung mit ca. 130 Beschäftigten - einschließlich Hausmeistern und Reinigungskräften - nur über ein relativ kleine Zahl an MitarbeiterInnen (zum Vergleich: in der Birthler-Behörde sind bis zu 3500 Personen beschäftigt). Die von der Zentralen Stelle angestrebte Kooperation mit Archiven und Ermittlungsbehörden osteuropäischer Staaten und der Sowjetunion wurde bis weit in die 1960er Jahre von der Bundesregierung bzw. dem Auswärtigen Amt unterbunden. In Ludwigsburg selbst stand man der Behörde noch in den 1970er Jahre distanziert bis feindselig gegenüber. In Teilen der Bevölkerung war die Zentrale Stelle als „Judenladen“ oder „kommunistische Dienststelle“ verschrien. Mitarbeiter und deren Familien sahen sich im Alltag bisweilen mit einer ressentimentgeladenen Stimmung konfrontiert. Trotz dieser Widrigkeiten leitete die Zentrale Stelle zahlreiche Ermittlungsverfahren wegen Mord, Totschlag oder Beihilfe zum Mord ein.
 
Strafverfolgung oder „innere Befriedung“?
 
Doch schon kurz nachdem die Einrichtung ihre Arbeit aufgenommen hatte, wurde ein weiteres Problem offensichtlich, das die künftige Strafverfolgung von NS-Tätern nicht nur erschweren, sondern sogar unmöglich zu machen drohte. Bereits im Jahr 1955 waren die Verjährungsfristen für Delikte, wie schwere Körperverletzung oder Freiheitsberaubung, die mit bis zu 10 Jahren Gefängnis bestraft werden konnten abgelaufen. Größere Debatten darüber hatte es damals weder in der Öffentlichkeit noch in Justizkreisen gegeben. Am 8. Mai 1960 endete die 15jährige Verjährungsfrist für Totschlag. Bundestag und Bundesregierung blieben im Hinblick auf dieses Datum jedoch passiv, wohl wissend, dass mit dem Eintreten der Verjährung für Totschlag, ein großer Teil der sich in Vorbereitung befindenden Ermittlungsverfahren gegen NS-Täter nicht mehr eröffnet werden konnten.
 
Im März 1960 brachte die SPD-Bundestagsfraktion allerdings einen Gesetzesentwurf ein, der vorsah, die Verjährungsfristen für Mord und Totschlag erst ab September 1949 laufen zu lassen, um somit die Strafverfolgung zumindest noch für weitere fünf Jahre zu ermöglichen. Die SPD begründete ihre Initiative mit dem faktischen „Stillstand der Rechtspflege“ in den Jahren zwischen 1945 und 1949. Die Mehrheit des Bundestages lehnte jedoch den Antrag ab. Justizminister Schäffer (CSU) erklärte ein pünktliches Inkrafttreten der Verjährung, sei wünschenswert, da es der „inneren Befriedung“ diene. Ferner behauptete der Minister, explizit auf die Arbeit der Zentralen Stelle Bezug nehmend, eine Verlängerung der Verjährungsfristen sei überflüssig, da „alle bedeutsamen Massenvernichtungsaktionen der Kriegszeit systematisch erfasst und weitgehend erforscht“ seien. Es war unverkennbar, dass diese Feststellung nicht der Realität entsprach. Deutlich wurde in diesem Kontext aber auch die „Pazifizierungsfunktion“ (Rüdiger Fleiter), die sich die Bundesregierung von der Zentralen Stelle erhoffte: Der Hinweis auf die erfolgreiche Arbeit der Behörde diente als Argument, die ablaufenden Verjährungsfristen nicht anzutasten, um auf diese Weise zu einem allmählichen Ende der Strafverfolgung zu gelangen.
 
Somit zeichnete sich schon zum damaligen Zeitpunkt eine weitere Verjährungsdiskussion ab, da im Mai 1965 die (20jährige) Verjährungsfrist für Mord endete. Die Bundesregierung ging davon aus, diesen Termin schlicht aussitzen zu können und beschloss im November 1964 die Verjährungsfrist für Mord nicht zu verlängern. Hierbei wußte sie - Meinungsumfragen zu Folge - eine knappe Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung hinter sich. Im gleichen Jahr hatte allerdings die Zentrale Stelle angesichts der unmittelbar bevorstehenden Verjährung von Mord ihre Ermittlungstätigkeit intensiviert und war dabei auf weitere, bislang unerforscht gebliebene Tatkomplexe gestoßen.
 
Angesichts dieser Entwicklung und unter dem Eindruck der bereits erwähnten spektakulären Prozesse in Jerusalem und Frankfurt waren sogar einige Bundestagsabgeordnete der CDU nicht mehr bereit, der Täter-freundlichen vergangenheitspolitischen Haltung der Bundesregierung bedingungslos zu folgen. So beantragte der CDU-Abgeordnete Benda im Bundestag eine Verlängerung der Verjährungsfrist um weitere 10 Jahre, in einem überarbeiteten Antrag forderte er sogar, Mord grundsätzlich nicht verjähren zu lassen. Auch die SPD-Fraktion brachte eine Gesetzesinitiative ein, die die Nicht-Verjährung von Mord und Völkermord vorsah. Justizminister Bucher (FDP) beharrte jedoch auf dem Standpunkt, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus im Wesentlichen aufgeklärt seien, von einer weiteren Strafverfolgung daher abgesehen werden könne. Nach leidenschaftlicher Debatte, verabschiedete die Bundestagsmehrheit im März 1965 lediglich einen dürftigen Kompromiss. Die Verjährungsfrist sollte nun erst ab dem 31. Dezember 1949 laufen. Deren nachhaltige Verlängerung oder gar vollständige Aufhebung wurde dagegen abgelehnt. So war eine weitere Verjährungsdiskussion vier Jahre später faktisch vorprogrammiert. Im April 1969 beschloss der Bundestag dann die Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord um weitere 10 Jahre.
 
„Kalte Amnestie“: Das EGOWiG
 
Die Tatsache, dass nun auch die Abgeordneten von CDU/CSU und FDP eine Entscheidung mehrheitlich mit trugen, gegen die sie zuvor Jahrelang vehement zu Felde gezogen waren, hatte seine Ursache möglicherweise auch in einem vergangenheitspolitischen Schachzug, der wie kaum eine andere Maßnahme, bereits laufende sowie künftige Ermittlungen gegen hochkarätige NS-Täter zunichte machte.
 
Im Zuge einer breit angelegten Strafrechtsreform, war nämlich am 1. Oktober 1968 das sogenannte Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz (EGOWiG) in Kraft getreten. In den insgesamt 167 Artikeln des auf den ersten Blick unspektakulären Gesetzes, ging es vor allem um die Neubestimmung von Ordnungswidrigkeiten im Bereich des Straßenverkehrs. Tatsächlich enthielt das EGOWiG jedoch „rechtspolitischen Sprengstoff“ (Ulrich Herbert). Versteckt in Artikel 1 Ziffer 6 des Gesetzes wurde nämlich die Frage der Schuld bei „Beihilfe zum Mord“ (§ 50 Abs. 2 StGB) neu geregelt. In einem in den betreffenden Paragrafen des StGB eingefügten Absatz hieß es: „Fehlen besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer [an der Mordtat], so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern.“ Mit anderen Worten: „Beihilfe zum Mord“, sollte künftig - sofern „besondere persönliche Merkmale“ nicht nachzuweisen waren - lediglich als „Mordversuch“ gewertet werden. Dementsprechend reduzierte sich auch das für dieses Delikt vorgesehene Strafmaß und die damit verknüpfte Verjährungsfrist, die ursprünglich wie bei Mord selbst, 20 Jahre betragen hatte auf 15 Jahre.
 
Für die Strafverfolgung vor allem nationalsozialistischer „Schreibtischtäter“, gegen die meist wegen „Beihilfe zum Mord“ ermittelt wurde, hatte das EGOWiG dramatische Auswirkungen: Praktisch über Nacht mussten aufgrund der verkürzten Verjährungsfristen hunderte von Verfahren eingestellt werden. Besonders 300 ehemalige zum Teil hochrangige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) konnten sich freuen. Gegen sie hatte die Berliner Staatsanwaltschaft seit 1963 zunächst nur auf ausländischen Druck hin, dann aber doch mit großem Aufwand ermittelt. Hätte das RSHA-Verfahren, das 1968 kurz vor der Eröffnung stand, tatsächlich stattgefunden, wäre es, so urteilt der Historiker Michael Wildt, „ohne Zweifel der größte Prozeßkomplex zur Ermordung der europäischen Juden, Polen, sowjetischen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter, ‘Asozialen’ und anderer Opfer geworden, der jemals vor Gericht verhandelt worden wäre.“ Das EGOWiG und eine grundsätzliche Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) im Mai 1969 machten den Ermittlungsbehörden in diesem und in anderen Verfahren einen Strich durch die Rechnung: Die Schreibtischtäter des RSHA, die die Massenmorde an zentraler Stelle koordiniert hatten, blieben von der Justiz unbehelligt. Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit, besonders aber Opferverbände und ausländische Beobachterreagierten empört. Der israelische Botschafter in der Bundesrepublik sprach zu Recht von einer „kalten Amnestie“ für NS-Verbrecher. Die Bundesregierung (CDU/CSU/SPD-Koalition) und das mittlerweile sozialdemokratisch geführte Justizministerium, das letztlich die Verantwortung für die Gesetzesänderung trug, versuchten das EGOWiG mit seinen rechtspolitischen Folgen als nicht beabsichtigte „Panne“ zu verharmlosen. Diese Version erscheint jedoch äußerst zweifelhaft. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die fatalen Auswirkungen, die das Gesetz auf die Verfolgung von NS-Tätern hatte, bewußt intendiert waren. Auffällig war z.B. die Eile, mit der das EGOWiG durch den Bundestag gepeitscht wurde. Merkwürdig auch, dass keiner der hochqualifizierten Juristen, die in der Großen Strafrechtskommission an dem Gesetz gearbeitet hatten, die angebliche „Panne“ rechtzeitig bemerkt haben wollte.
 
Eine tragende Rolle in diesem Gremium spielte nicht zuletzt Dr. Eduard Dreher, der als Ministerialdirigent die Strafrechtsabteilung im Justizministerium leitete. Während des Zweiten Weltkrieges war Dreher Erster Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck gewesen und hatte in dieser Eigenschaft an mehreren Todesurteilen - meist für Bagatelldelikte - mitgewirkt. In den 1950er Jahren war Dreher im Justizministerium mit Amnestie-Regelungen für NS-Täter befasst. In dieser Funktion unterhielt er auch enge Kontakte zur Kanzlei des Rechtsanwaltes Achenbach, der sich gemeinsam mit dem ehemaligen SS-Ideologen Werner Best auf die juristische Beratung schwer belasteter ehemaliger Gestapo-, SS- und SD-Mitarbeiter spezialisiert hatte. Achenbach, wie auch Best waren als umtriebige und einflußreiche Verfechter der Forderung nach einer Generalamnestie für NS-Verbrecher in Erscheinung getreten. Dieses Ziel erwies sich als unrealistisch. Daher war die Möglichkeit eine „kalte Amnestie“ gewissermaßen durch die Hintertür über ein anderes Gesetz zu erreichen, von Best bereits seit Beginn der 1960er Jahre angedacht worden. Das EGOWiG von 1968 stellte exakt jenes rechtspolitische „Trojanische Pferd“ dar, auf das der ehemalige SS-Mann gehofft hatte.
 
„Fürsorgliche“ Mörder
 
Angesichts der hier skizzierten Fülle täterfreundlicher vergangenheitspolitischer Maßnahmen erscheinen die Entscheidungen des Bundestages die Verjährungsfrist für Mord zu verlängern und schließlich vollständig aufzuheben als reines „Schattenboxen“ (Ingo Müller). Dieser Eindruck verstärkt sich, blickt man auf die in zahlreichen Fällen abenteuerliche Urteilspraxis deutscher Gerichte in NS-Verfahren.
 
Als geradezu klassisches Rechtfertigungsargument diente unzähligen wegen NS-Verbrechen Angeklagten, die Behauptung, sie hätten im Falle der Verweigerung von Mordbefehlen, mit schwersten Repressalien durch Wehrmachts- bzw. SS-Justiz zu rechnen gehabt. Obwohl der Mythos vom „Befehlsnotstand“ bereits am Beginn der 1960er Jahre durch juristische und zeitgeschichtliche Studien widerlegt war, erwies sich diese Verteidigungsstrategie bis in die 1970er Jahre als durchaus erfolgreich. So wurde etwa in München die Eröffnung eines Verfahrens gegen ehemalige SS-Schergen des Vernichtungslagers Belzec mit dem Hinweis auf einen angeblichen „Befehlsnotstand“ abgelehnt. Die Beschuldigten hätten zwar Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 90.000 bis 450.000 Fällen geleistet, ein „Schuldvorwurf“ können ihnen jedoch nicht gemacht werden, da sie „in dem Bewußtsein gehandelt (hätten), sich in einer völlig aussichtslosen Zwangslage zu befinden und nichts anderes tun zu können, als den ihnen erteilten Befehlen zu gehorchen.“
 
Auch in Mordprozessen konnten NS-Täter oftmals mit großem richterlichen Einfühlungsvermögen rechnen. Im Juni 1974 verließ etwa der ehemalige Polizeihauptkommissar Heinz Gerhard Riedel das Landgericht Kiel als freier Mann. Zwar stand außer Frage, dass er als Chef der Geheimen Feldpolizeigruppe 570 befohlen hatte, sieben festgenommene Partisanen in einen LKW zu sperren und sie durch das Einleiten von Autoabgasen zu töten. Die Tat, entschied der Richter, sei jedoch nicht als Mord zu werten, da sie weder „grausam“ noch „heimtückisch“ gewesen sei. Die Partisanen hätten nämlich wissen können, dass die Deutschen Gaswagen zum Einsatz brachten. Dieser absurden Argumentation zu folge waren die Opfer somit nicht „arglos“ gewesen. Der Tat habe daher das entscheidende Merkmal der „Heimtücke“ gefehlt. An Zynismus kaum zu überbieten war auch Begründung, mit der das Kölner Landgericht im Oktober 1951 den Freispruch für den Nervenarzt Dr. Leu begründete, der sich an der Durchführung zahlreicher Euthanasiemorde beteiligt hatte. Das Gericht bescheinigte dem Arzt, er habe die Taten lediglich aus „Idealismus“ begangen. Diese Einstellung sei nicht zuletzt in der „Fürsorglichkeit“ zum Ausdruck gekommen, „mit der er sich [...] um die Beschaffung der zur Bestattung der Euthanasieopfer erforderlichen Särge bemühte.“
 
Bilanzen und „letzte Chancen“
 
Eine Bilanz der Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik fällt somit enttäuschend aus. Zwar leiteten die Staatsanwaltschaften seit Kriegsende gegen über 106.000 Beschuldigte Ermittlungsverfahren ein, rechtsgültig verurteilt wurden jedoch nur 6.494 Personen. In lediglich 166 Fällen sprachen die Richter lebenslange Freiheitsstrafen aus. Einige Tätergruppen blieben von systematischer Strafverfolgung offenkundig weitgehend unbehelligt. So gab es im Zusammenhang mit der groß angelegten „Euthanasie“-Aktion „T4“ lediglich 53 rechtskräftige Verurteilungen. Überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen wurden die Richter und Staatsanwälte des NS-Staates, die an mehr als 50.000 Todesurteilen mitgewirkt hatten. Kein einziger der ehemaligen Angehörigen des Volksgerichtshofes oder der verschiedenen Sondergerichte, mußte jemals vor einem bundesdeutschen Gericht erscheinen. Im Gegenteil: „Schreibtisch“-Täter, wie der bereits erwähnte Eduard Dreher, machten nach 1945 glänzende Karrieren.
 
Richter und Staatsanwälte, wie etwa der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer oder die Mitarbeiter der Zentralen Stelle, die vehement für die konsequente Aufklärung und Ahndung von NS-Verbrechen eintraten blieben dagegen lange Zeit Außenseiter innerhalb der Justiz. Erst allmählich vollzog sich in diesem Bereich, nicht zuletzt bedingt durch generationelle Umbrüche, ein Bewußtseinswandel. Wie auch schon im Kontext der Diskussion um die Entschädigung von NS-Opfern, spielte für die Strafverfolgung von NS-Tätern internationaler Druck sowie die Proteste und Interventionen von Opferverbänden eine entscheidende Rolle. So war das 1963 eingeleitete Berliner RSHA-Verfahren, das letztlich am EGOWiG scheiterte, vor allem durch das beharrliche Drängen ausländischer Staatsanwälte zu Stande gekommen. Auch die internationalen Appelle im Vorfeld der Bundestagsentscheidung über die Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord am 3. Juli 1979, dürften das Ergebnis der Abstimmung mit beeinflusst haben.
 
60 Jahre nach Kriegsende ist die Strafverfolgung von NS-Tätern immer noch kein abgeschlossenes Kapitel. Erst im Januar 2004 wurde etwa in München der 86jährige Ladislav Niznansky festgenommen. Die Staatsanwaltschaft München I wirft dem ehemaligen Journalisten von „Radio Free Europe“ vor, Anfang 1945 in der Slowakei als Kommandant einer Spezialeinheit der Wehrmacht an der Ermordung von 164 Zivilisten beteiligt gewesen zu sein. Um Hinweise auf noch lebende, bislang unbehelligt gebliebene NS-Täter zu erhalten, will das Simon-Wiesenthal-Zentrum nun die Kampagne „Letzte Chance“ starten. Eine Aktion, der in erster Linie symbolische Bedeutung zu kommen wird. Dennoch sollte diese „letzte Chance“ genutzt werden.
 

 
Kurzinfo DDR
 
Nach einer von der DDR veröffentlichten Statistik ergingen zwischen 1945-1965 insgesamt 12807 Urteile im Zusammenhang mit NS-Verbrechen. Gegen 118 Personen wurde die Todesstrafe verhängt. In 231 Fällen sprachen die Gerichte lebenslange Freiheitsstrafen aus. Zwischen 1965 und 1978 gab es 54 weitere Verurteilungen. Auf je 100.000 Einwohner wurden in der DDR fast doppelt soviel Personen wegen NS-Tötungsverbrechen verurteilt wie in der Bundesrepublik. Im Gegensatz zu Westdeutschland, kamen in der DDR unterschiedliche Rechtsnormen zur Anwendung. Neben dem Strafgesetzbuch der DDR griffen die Gerichte auch auf alliiertes Besatzungsrecht zurück.
 
Kurzinfo Österreich
 
Zwischen 1945-1955 waren in Österreich für die Ahndung von NS-Verbrechen die so genannten Volksgerichte zuständig. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren mit dem „Nationalsozialistengesetz“ (NSG) (1945/1947) und dem „Kriegsverbrechergesetz“ (KVG) (1945/1947) besondere Gesetze zur Verfolgung von NS-Verbrechern erlassen worden. Bis 1955 mussten sich 23.477 Personen vor Gericht verantworten, davon wurden 13.607 schuldig gesprochen. Die Gerichte verhängten in 43 Fällen die Todesstrafe (30 Vollstreckungen) und 29 mal lebenslänglich. Der Großteil der Freiheitsstrafen fiel relativ niedrig aus. Nach 1955 wurden die Volksgerichte abgeschafft, NS-Verfahren finden seither vor ordentlichen Geschworenengerichten statt. Im März 1957 wurden umfangreiche Amnestieregelungen erlassen, das KVG aufgehoben. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen war damit fast zum Erliegen gekommen. Bis 1975 wurden nur noch 20 NS-Täter verurteilt.
 
Verwendete Literatur
 
Willi Dreßen: Probleme und Erfahrungen der Ermittler bei der Aufklärung von NS-Gewaltverbrechen, in: Förderverein „Freundeskreis zur Unterstützung der Polizei Schleswig-Holstein e.V.“ (Hg.): Täter und Opfer unter dem Hakenkreuz. Eine Landespolizei stellt sich der Geschichte, Kiel 2001, S. 225-238.
 
Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München 1999.
 
Rüdiger Fleiter: Die Ludwigsburger Zentrale Stelle und ihr politisches und gesellschaftliches Umfeld, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1/2002.
 
Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
 
Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996.
 
Marc von Miquel: Juristen: Richter in eigener Sache, in: Norbert Frei (Hg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt/M. 2001, S. 181-237.
 
Marc von Miquel: Aufklärung, Distanzierung, Apologie. Die Debatte über die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in den sechziger Jahren, in: Norbert Frei/Sybille Steinbacher (Hg.): Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001, S. 51-70.
 
Marc von Miquel: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004.
 
Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987.
 
Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001.
 
Adalbert Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1984.
 
Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.