land in sicht ordnungswidrige aktionstage 16. bis 22. august 2002 in hamburg

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Hintergründe zum Stadtspaziergang gegen Kolonialismus und Rassismus

20.08.2002 - Vorbereitungsgruppe

Lust auf Entdeckung?

Schon dem ersten Blick des Besuchers und der Besucherin zeigt sich Hamburg mit prächtigen Bauten einer Stein und Stahl gewordenen Geschichte: eine Speicherstadt mit enormer Lagerkapazitaet, palastartige Kontorhäuser, Villen im Grünen an der Elbchaussee und am Horizont die in den Himmel ragenden Krähne und Containertürme. Vielerorts findet sich der Bezug zum Überseehafen, dem Tor zur Welt, Beginn und Ende von Verkehrswegen für Menschen und Waren.

Genauer hingeschaut und richtig gewendet finden sich zwischen den Fugen der prunkvollen Fassaden Einsichten in die elende Seite der hamburger Kolonialgeschichte. Es wird deutlich, wie von den Früchten der Arbeit von Menschen, deren Enkel heute nicht einmal eine Aufenthaltserlaubnis erhalten würden, in Hamburg gut gelebt wurde und wird. Aus dieser Tradition der Expansion, der Ausbeutung und des Rassismus führen Spuren bis in die Gegenwart.

Folgen Sie einem jungen, engagierten HistorikerInnenteam bei einer Entdeckungsreise der etwas anderen Art. Diese verspricht nicht nur neue Erkenntnisse, sondern auch eine direkte Bezugnahme auf einige "Orte der Zivilisation", deren barbarische Kehrseite sie enthüllen wird beim

ORDNUNGSWIDRIGEN SPAZIERENGEHEN

Beim ordnungswidrigen Spazierengehen wollen wir nicht in historisch-aufklärerischem Sinne darstellen, daß Hamburgs Glanz und Reichtum Ergebnis von Herrschaftsstrukturen ist, die neben den Freiheiten einiger die Ausbeutung und Unterdrückung anderer ermöglichten. Das Aufsuchen verantwortlicher Institutionen soll vielmehr zu der Frage führen, wie sich diese herrschaftsförmigen Lesarten und Denkweisen herstellten und bis heute tradieren, wie das damit verbundene Welt- und Menschenbild heute noch begründet und legitimiert wird. Auch haben wir Vorschläge für eine Umgestaltung der zu besuchenden Orte entwickelt, die wir dem interessierten Publikum gerne zur Diskussion stellen möchten.

Deutsche Kolonialgeschichte und Hamburger Kaufleute

Die Rolle Deutschlands bzw. des Deutschen Reichs im Kolonialsystem wird wenig behandelt. Die Kolonialisierung von Gebieten an der afrikanischen West- (Deutsch-Südwest heute Namibia, sowie Kamerun und Togo) und Ostküste (Deutsch-Ostafrika, heute Tansania) von der Mitte des 19. Jh. bis zum Ende des ersten Weltkrieges ging mit Massenmorden, Zwangsarbeit und Vertreibung der afrikanischen Bevölkerung einher. Sie wurde maßgeblich von hamburger Kaufleuten vorangetrieben.

Hamburger Kaufleute hatten - das ist kaum bekannt - in den Jahrhunderten zuvor schon am Sklavenhandel und an der mit "Freihandel" umschriebenen Ausplünderung Afrikas gut verdient. Ende des 19. Jahrhunderts wollte man sich den weitergehenden Zugriff auf Ressourcen und Arbeitskräfte des afrikanischen Kontinents sichern und afrikanische wie europäische Handelskonkurrenz ausschalten. Es gelang schließlich, das Deutsche Reich zu militärischem Eingreifen zu bewegen. Im 17. Jahrhundert schon war der Anbau von und Handel mit Palmöl interessant, das den Walfischtran ersetzen sollte - hatte man die Wale doch fast ausgerottet. Später ging es um den Raub von Bodenschätzen und den Anbau von bzw. Handel mit Kaffee, Früchten, Kautschuk, Elfenbein und Gewürzen sowie darum, neue Absatzmärkte zu erschließen – zum Beispiel für Textilien und Schnaps.

Der Widerstand der afrikanischen Bevölkerung wurde blutig niedergeschlagen. Einige afrikanische Chiefs und Traders sicherten sich mit "Schutzverträgen" mit den deutschen Kaufleuten ihre Stellung im Handel. Die ganze Tragweite der Verträge wurde erst später deutlich, die Preisgabe der politischen Souveränität und der Verlust fast des gesamten Grund und Bodens der AfrikanerInnen waren die Folge. So konnten hamburger Kaufleute schließlich gut "geschützt" die Kolonien systematisch ausplündern. Die Kolonialmächte umschrieben die Invasion der "Schutztruppen" – auch dieser Begriff hat sich gehalten – mit "Befriedung des Landes". Man nannte es auch den AfrikanerInnen die "Zivilisation" nahe bringen. Auch dies aktuell gerne formuliertes Erklärungsmodell zur Kriegslegitimation.

Parallelen ergeben sich zu neokolonialer Praxis: Vor kurzem schloß die senegalesische Regierung einen Vertrag mit der EU. Der EU - die heimischen Meere sind so gut wie totgefischt - werden darin auf fünf Jahre die Fischfangrechte vor der Senegalesischen Küste zugesichert. Daß nach dieser Zeit dort kaum noch Fischfang möglich sein wird und somit die Senegalesische Bevölkerung einer wichtigen Proteinquelle dauerhaft beraubt wird, ist abzusehen.

Zurück nach Hamburg: Afrikanisierende Schmuckelemente, auch Palmblattmotive an einigen Häuserfassaden zeugen vom Stolz auf die historische Kolonialgeschichte. Von den Wurzeln des Reichtums in der kolonialen Ausbeutung ist jedoch auf den in der Hansestadt an vielen alten Kaufmannshäusern ebenfalls zu findenden "Informationstafeln" keine Rede. Von "Zeugen des Hamburger Kaufmansstolzes" ist da zu lesen.

Brechmitteleinsatz gegen schwarze Dealer in Hamburg

Ist nicht eben diese "stolze" kolonialistische Denkordnung von Zivilisierten versus Barbaren, denen die Regeln des weißen Mannes und der weißen Frau notfalls mit Gewalt beigebracht werden mußten noch enthalten z.B. in der Brechmittelfolter, unter der Achidi J. im letzten Winter starb? Geleitet wurde dieser Brechmitteleinsatz übrigens von einer Frau - Dr. Ute Lockemann. Woher rührt diese unglaubliche Ignoranz gegenüber Leib und Leben, diese Selbstverständlichkeit des Ausschlusses via Kriminalisierung, die einem Menschen dann das Recht auf körperliche Unversehrtheit entzieht und ihn extralegal und ohne Gerichtsverfahren faktisch einem Todesurteil aussetzt? Wir denken, daß diese Gewaltanwendung weitgehend als gerechtfertigte Maßnahme akzeptiert wird, weil sich hier kolonialistisch-rassistische Denkordnungen tradieren.

Schwarze Deutsche

Die verbreitete rassistische Vorstellung, daß Schwarze keine Deutschen sein könnten, gründet ebenfalls in der Kolonialzeit. Obwohl spätestens seit dem 19. Jahrhunderts Schwarze Teil der deutschen Gesellschaft waren, wurden sie kaum Teil gesellschaftlicher Repräsentation, es sei denn als exotistisches Stereotyp. Den "Sarottimohr" kennt jede/r.

So erhielten die afrikanischen BewohnerInnen der deutschen Kolonien auch nicht die deutsche Reichsangehörigkeit. Diejenigen, die als Sprachgehilfen des "Instituts für Kolonialsprachen", als Diener von Kaufleuten oder als Teil von Hagenbecks "Völkerschauen" ins Deutsche Reich einwanderten, genossen dort kein sicheres Aufenthaltsrecht. Einige ließen sich gleichwohl im deutschen Reich nieder, konnten jedoch schon bei geringen Gesetzesverstößen "heimgeschafft" wurden, wie das damals hieß. Eine offensichtliche Parallele zur Abschiebung von "straffällig gewordenen Ausländern", wie das heute heißt.

Demgegenüber waren die Nachfahren der deutschen KolonisatorInnen, die, als Namibia 1990 die Unabhängigkeit erlangte, empört, daß sie nicht eine doppelte Staatsangehörigkeit - deutsch-namibisch beanspruchen konnten, ungeachtet der Tatsache, daß es diese in Deutschland auch nicht gab.

"Zurück" nach Afrika

Eine weitere Tradierung kolonialer Denkordnungen und -praxen läßt sich finden: So wurden damals im Deutschen Reich geborene Kinder afrikanischer Eltern teilweise Missionaren mit "zurück" nach "Afrika" gegeben, ungeachtet der Tatsache, daß sie dort noch nie gewesen waren. Die Parallele zur heutigen Abschiebung von Immigranten-Kindern in "Herkunftsländer", die diese teils noch nie gesehen haben, ist augenfällig.

Zudem bediente diese Praxis das Bild des homogenen "schwarzen Kontinents", in den aus europäischer Sicht alle Schwarzen quasi naturgemäß gehören, wie es sich auch in einer weiteren heutigen Abschiebepraxis wiederfindet: Für ImmigrantInnen, die aus einem afrikanischen Staat nach Deutschland gelangen und deren Herkunft nicht festgestellt werden kann, wird ein beliebiger afrikanischer Staat gefunden, der bereit ist, sie – z.B. im Gegenzug für finanzielle Zugeständnisse - aufzunehmen.

Kolonial-Denkmäler

In den Kolonien waren Kolonial-Denkmäler errichtet worden, oft als Ehrung der Schutztruppen, die den wirtschaftlichen Interessen den Weg freischlugen. Nachdem das Deutsche Reich nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg alle seine Kolonien durch die im Versailler Vertrag festgelegte Verzichtserklärung räumen mußte, wurden diese durch die neuen Mandatsmächten abgetragen und zum Teil später an Deutschland zurückgegeben. Einige davon wurden in Hamburg aufgebaut. Andere Denkmäler entstanden in der Nach-Kolonialzeit, in den 1930er Jahren, als Teil der Vorbereitung für einen geplanten, erneuten Kolonialismus.

Ein Teil dieser Denkmäler befindet sich noch heute auf dem Gelände von Militärkasernen, so z.B. der (noch immer so heißenden!) Lettow-Vorbeck-Kaserne an der Jenfelder Allee, in der inzwischen der BGS untergebracht ist.

Eines, das im Dritten Reich hergestellte, 1955 enthüllte "Deutsch-Ostafrika-Gedächtnismal" steht in Aumühle, vor dem Komposthaufen des Hotels Waldesruh (S-Bahn Aumühle).

1968 stürzten StudentInnen das Kolonialdenkmal des Schutztruppenkommandeurs Hermann v. Wissmann, das in den 20er Jahren vor der Universität aufgestellt worden war. Seither gab es immer wieder Anfragen z.B. vom Hamburger Übersee-Klub an die Uni Hamburg sowie an das Amt für Denkmalschutz, dieses Denkmal erneut im öffentlichen Raum aufzustellen, was immer abschlägig beschieden wurde.

Zur Zeit verhandeln Schill-Partei, CDU und Bürgerinitiativen in Hamburg über die Wiederaufstellung kolonialer Denkmäler unter anderem auf dem Geländer der Lettow-Vorbeck-Kaserne.

Universität

Die Geschichte der Hamburger Universität wie auch einiger Wirtschaftsinsitute ist eng verbunden mit der Hamburger Kolonialgeschichte. Um die Jahrhundertwende noch entschied sich der Hamburger Senat gegen die Errichtung einer Universität für Hamburg. Als das Wüten der Kaufleute und Schutztruppen zu einer unerwünscht starken Dezimierung der als Arbeitskräfte notwendigen afrikanischen Bevölkerung geführt hatte, wurde die Notwendigkeit eines "aufgeklärten" Kolonialismus gesehen. 1908 wurde nach einer zwischen dem Reichskolonialamt und dem Hamburger Senat getroffenen Vereinbarung entsprechend das hamburger "Kolonialinsitut" gegründet, das "Überseewirtschaft und -wissenschaft" vermitteln sollte. 1909 wurde die "Zentralstelle" des Kolonialistituts als Informations- und Dokumentationsstelle eingerichtet, 1929 wurde sie eigenständig und trägt seither den Namen Hamburger Weltwirtschaftsarchiv (HWWA).

Zahlreiche weitere Institute und Vereine, außerdem das heutige Afrikainstitut der Universität, die Ethnologie - früher Völkerkunde - das renommierte Bernhard-Nocht-Institut für Tropenkunde und das Deutsche Überseeinstitut haben ihre Wurzeln in der Kolonialgeschichte und gingen später großteils in der 1919 dann doch gegründeten Universität auf.

Bis zum Ende des Nationalsozialismus wurde im Deutschen Reich und maßgeblich an der Hamburger Universität darauf hingearbeitet, wiederum Kolonien zu gewinnen und künftige KolonisatorInnen auszubilden.

Später gelang manchen der Institute ein teils auch personell nahtloser Übergang zur sogenannten "Entwicklungshilfe"-Politik. Die koloniale Geschichte der Hamburger Universität und der Institute ist bis heute kaum aufgearbeitet. Traditionslinien finden sich bis in die Gegenwart, so hat auch ein führender Mitarbeiter des HWWA einen Beitrag zum Zuwanderungsgesetz geschrieben.

In der Kolonialzeit war es eine der Universität von einem Hamburger Kaufmann - C. Woermann - gestellte Forschungsaufgabe gewesen, nach den kolonialen Massakern und der Zwangsarbeit die Gesundheit und Fortpflanzungswilligkeit der als Arbeitskräfte benötigten AfrikanerInnen zu erforschen und wieder herzustellen - in diesem Zusammenhang steht auch die Gründung des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenkrankheiten. Das europäische Interesse für afrikanische Bevölkerungspolitik, das sich noch immer gerne "wissenschaftlich" gibt, hat sich bis heute gehalten, nur die Fragestellung hat sich umgekehrt...

Wir konnten hier nur erste Hinweise zum ordnungswidrigen Spazierengehen geben, nur einige wenige ausgewählte Orte der Kolonialgeschichte besuchen, nur einige Denkordnungen und ihre Tradierung in die Gegenwart benennen. Dem Spürsinn sind aber keine Grenzen gesetzt. Sehr inspirierend für unsere ersten und sicher hilfreich bei weiteren Schritten ist das Buch von Heiko Möhle: Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus - eine Spurensuche in Hamburg, Hamburg 1999, Verlag Libertäre Assoziation

Viel Spaß bei allerlei weiteren Spaziergängen in Hamburg wünscht Ihr HistorikerInnen-Team Ordnungswidrig Camp(f)en