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In Bewegung bleiben: Campen in Thüringen!

Als Teil einer Gruppe, die sich an der Vorbereitung des 5. antirassistischen Grenzcamp beteiligen will, möchten wir im Folgenden noch einmal darstellen, welche Möglichkeiten und Perspektiven ein Camp in Thüringen unserer Meinung nach eröffnen kann.

Die konkrete Situation in Thüringen lässt die inhaltliche Ausrichtung des Camps in ganz verschiedene Richtungen denkbar und wichtig erscheinen, für uns lebt das Grenzcamp von dem Ensemble von politischen Ansätzen und Ideen.
Allem voran gehen wir stark davon aus, in Thüringen wieder auf eine Verdichtung rechter Hegemonie, sprich auf einen rassistischen Konsens, zu treffen, der sich insbesondere auf die Lebensbedingungen der MigrantInnen und Flüchtlinge vor Ort auswirkt. Natürlich ist Rassismus in der gesamten BRD virulent, jedoch scheint die Situation in Thüringen für Nichtdeutsche besonders unerträglich, äußert sich der alltägliche Rassismus dort in einer sehr offensiven Form. Während durch die Isolation (eingezäunte Unterbringung im Wald, Bewachung durch Sicherheitsfirmen, Versammlungsverbote, kleine Residenzpflichtkreise) und rassistische Überfälle, AsylbewerberInnen terrorisiert, homogenisiert, stigmatisiert und unsichtbar gemacht werden, sorgen sich 2000 Jenaerinnen nach mittlerweile zwei rassistischen Überfällen auf einen chinesischen und einen russischen Gastprofessor auf einer Demonstration um den Wirtschaftsstandort Jena. Gleichzeitig versuchen Nazis im weißen Strickpullover ein nationales Jugendzentrum zu gründen. Hier zeigt sich, dass der Paradigmenwechsel unter RotGrün, der die Nützlichkeit der ImmigrantInnen und deren Trennung in "ungewünscht" und "auf Zeit gewünscht" für den Wirtschaftsstandort Deutschland entdeckt hat, die Situation hier lebender MigrantInnen nicht verbessert hat - eine Prise „Antifaschismus“ rettet das Weltstadtimage Jenas.
Deshalb gilt es, wieder mehr nach den Ausmaßen von alltäglichem, gesellschaftlichen Rassismus zu fragen und das Verhältnis bzw. die Bedingtheit zur staatlichen Flüchtlings- und Migrationspolitik auszuloten und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen.

Die Entscheidung für Thüringen ist zugleich die Entscheidung für eine Zusammenarbeit von mehrheitsdeutschen AntirassistInnen und Linksradikalen mit AktivistInnen migrantischer Selbstorganisation auch auf der Ebene der überregionalen Grenzcampvorbereitung. Das bedeutet vor allem, homogenisierende Wahrnehmungsmuster über "die Flüchtlinge" aufzubrechen, Vorurteile zu überwinden und Bilder im eigenen Kopf zu verändern. Langfristig kann es nur um eine Aufhebung der Trennung zwischen "wir" und "die" und dem Nebeneinanderher gehen.
Gleichberechtigte Kooperation bedeutet für uns, die unterschiedlichen sozialen Positionen ernst zu nehmen - ungleiche Zugangsbedingungen zu Ressourcen, unterschiedliche Möglichkeiten der Mobilität, unterschiedlicher gesellschaftlicher Status, Nicht-/Betroffenheit von rassistischen Kontrollen, Bildern und Diskriminierungen etc. - und gleichzeitig nach den gemeinsamen poltischen Ansatzpunkten zu suchen, um handlungsfähig zu sein. Das Versprechen des Politischen liegt also im Zusammentreffen (auf verschiedenen Ebenen) und mündet zunächst in der Frage, vor welchem politischen Horizont welche Kämpfe geführt werden; auch um der Tendenz entgegenzuwirken, das alles was das Bestehende in Frage stellt, als kriminelle, terroristische, abnormale Krankheit begriffen wird, die im Namen der Sicherheit mit Medikamenten wie Schily-Gesetzen, ethnisierter Rasterfahndung u.ä. behandelt wird.

Das alljährliche Grenzcamp bildet einen immens wichtigen Rahmen, sich in eine Auseinandersetzung zu begeben und neue Kommunikationsräume zu erschließen. In diesem Jahr könnten sich beispielsweise durch die Einführung von Englisch als "Campsprache" die Positionen der Beteiligten verändern und der sozialen Realität Rechnung getragen werden. Als wesentlichen Schritt hin zur Kooperation betrachten wir auch den Versuch, die bisherige Delegation von Zuständigkeiten aufzubrechen: The Voice und die Brandenburger Flüchtlingsinitiative sind für "die" MigrantInnen und Flüchtlinge zuständig, die Mehrheitsdeutschen für die Infrastruktur und die symbolischen Aktionen. Für die unmittelbare Aktionsebene stellt sich die Frage, wie unterschiedliche Politikansätze wirkungsvoll zusammengebracht werden können. Wie kann eine linksradikale Politik den unterschiedlichen sozialen Positionen Rechnung tragen und die Polarisierung von UnterstützerInnenarbeit/StellvertreterInnenpolitik und symbolischen Aktionen produktiv aufbrechen?
Hierzu möchten wir ein Beispiel aus Bremen bringen, in dem unserer Meinung nach eine Aktion den individuellen Einzelfall verlässt und den staatlichen rassistischen Diskurs angreift. Dort ging es um die Verhinderung der Abschiebung einer kurdischen Familie aus dem Libanon. An dem betreffenden Tag fand nach Absprache mit der Familie vor deren Haus eine Blockade statt. Um dem Anliegen Nachdruck zu verleihen, wurden Straßensperren errichtet, während sich die Familie zu diesem Zeitpunkt allerdings schon längst nicht mehr in dem Haus befand...
Vielleicht lassen sich solche Aktionen weiterdenken in eine Richtung, die auch den rassistischen Konsens angreift, also jenes Zusammenwirken rassistischer Handlungs-, Wahrnehmungs-, und Bedeutungsschemata, welches soviel Zustimmung und so wenig Widerspruch erfährt, dass sich eine rassistische Hegemonie auf persönlicher (z.B. stereotype Bilder), staatlicher, struktureller etc. Ebene durchsetzen kann.

Besonders nach den Erfahrungen mit dem autonomen Gemischtwarenladen auf dem letzten Camp, möchten wir überlegen, wie das Nebeneinander der Teilbereichspolitiken zu verhindern ist. Breite Gesellschaftskritik heißt im Rahmen des Camps, die eigenen Politikansätze mit anderen in Beziehung zu setzen!
Auch geht es uns hier darum, die Versäumnisse der letzten Camp-Jahre aufzuzeigen. Dabei möchten wir im Rahmen des nächsten Camps an bestimmte interne Debatten anknüpfen. Hier denken wir insbesondere an die recht produktive Diskussion auf dem Abschlussplenum des letzten Grenzcamps, in der es um die Verschränkung von Rassismus und Sexismus ging. Die Thematisierung dieser Verflechtungen könnte und sollte unserer Meinung nach sowohl auf einer inhaltlichen, als auch auf einer Aktionsebene weitergeführt und zugespitzt werden.
Auch in Thüringen leben die meisten Menschen in Kleinfamilien. Rechten, konservativen Psychologinnen und Kirchenleuten gilt sie, auch wenn ihr Bedeutungsverlust vielfach beklagt wurde, immer noch als zuverlässigste Garantin für die Stabilität der Gesellschaft, und nicht zuletzt "als Keimzelle jeder staatlichen Gemeinschaft" (vgl. die Diskussion zur "Homoehe", Stellungnahme der CDU). Genau: Die Kleinfamilie reproduziert par excellence rassistische, sexistische und kapitalistische Strukturen unserer Gesellschaft. Wie kein anderes Modell vermag sie Gefühle und Beziehungen in vorgesehene Kanäle zu lenken sowie Männern und Frauen vorherbestimmte Rollen zuzuweisen. So nehmen wir die Institutionen Ehe und Familie - auch die postfordistisch weiterentwickelten Formen - ins Visier unserer Politik.

Nicht nur in Familien findet Hierarchisierung von Tätigkeiten und deren Zuschreibung nach Staatsangehörigkeit und Geschlecht statt. Im gesellschaftlichen Durchschnitt teilen sich Frauen mit MigrantInnen schlechter bezahlte und niedriger bewertete Tätigkeiten. Die Jobs des "Hire and Fire" am untersten Ende der Prestigeleiste bleiben zum großen Teil illegalisierten Flüchtlingen, MigrantInnen und AsylbewerberInnen vorbehalten.
Besser situierte Frauen verfügen über die Möglichkeit, sich durch Migrantinnen von der Reproduktionsarbeit freisetzen zu lassen, um selber lohnarbeiten zu können. Die Zuständigkeit von Frauen für diesen Bereich wird dadurch nicht aufgehoben.

Mit dem Modell der Kleinfamilie werden gleich mehrere Grenzen, zwischen öffentlich und privat, zwischen Innen und Außen (Zugehörigkeit und Ausschluss, Eigenheim und Gartenzaun) gezogen und als nationales Modell verallgemeinert auf anderer Ebene fortgesetzt: Flüchtlinge werden In der BRD in Heimen (oftmals und in Thüringen buchstäblich in the middle of nowhere) separiert und so aus den ordentlichen Wohngegenden der deutschen Kleinfamilien sowie den sauberen Stadtbildern ferngehalten. Geheiligte Privatsphäre gibt es für sie bei Massenunterbringung in engen Räumen nicht.
Für die Aktionsebene könnte dies heißen: deutsche Privatsphäre (Gartenzäune, Grillidylle, Eigenheimwerker, Sauberwahn und Unsichtbarmachen) angreifen. Auch öffentliche Orte, an denen sich die Kleinfamilie repräsentiert und patriarchale und nationale Strukturen reproduziert werden, wie Feste, öffentliche Veranstaltungen "Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Maßnahmen" etc. bieten sich als Aktionsfeld an.
Unserer Phantasie wenigstens sind keine Grenzen gesetzt!

Camp02 - another challenge!

Grenzcamp-AG von Subcutan

05.05.2002