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4. antirassistisches Grenzcamp vom 27. Juli bis 5. August 2001 beim Flughafen Frankfurt/Main
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Orientierungsversuche im Feld antirassistischer Politik Teil 2

von NO SERVICE Kassel - - 26.07.2001 19:17

Gegen den Ausverkauf des Politischen!
Handlungsperspektivisch orientieren wir uns an der Frage, wie die "voneinander getrennten Abwehrkämpfe" (Wildcat) gegen Ausbeutungen, Zumutungen, Entwürdigungen zunächst zumindest punktuell zusammengebracht werden können und zwar gegen Expertenlogik, die Selbstmobilisierung zu aggressivster Konkurrenz und die "Individualisierung bei der Einkommensbeschaffung auf dem Arbeitsmarkt, das Ausgeliefert sein und die rechtlose Lage" (ARAB). Wir meinen wie die Leute von Wildcat: "In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, dass wir nicht die von Staat und Unternehmern vorgegebenen Spaltungs- und Konkurrenzlinien nachvollziehen, sondern die Punkte ihrer Brüchigkeit (unter)suchen. Dafür ist es notwendig, die Konflikte hier als Momente der Widersprüche des globalen Kapitalverhältnisses zu verstehen."

Uns bewegt nicht nur die Frage nach Einmischungen für solidarischere Formens des Überlebens und Lebens, sondern auch das utopische Ziel eines nicht linearen, nicht auf einen Ort und eine Sache spezialisierten Lebens (also die kommunistische Variante von morgens Nasebohren, mittags Solarzellen züchten, nachmittags rumlungern, abends Lesen, nachts Filmen, spät nachts Diskutieren und früh morgens Amüsieren). Die Idee des Experten steht für das Erfolg-Haben und hängt an der vermeintlichen Freiheit der Entscheidung für ein Expertendasein. Einer Vielzahl von "Armutsexperten" steht diese Freiheit strukturell null offen. Wir wünschen uns dagegen andere Verhältnisse, und in ihnen die Freiheit aller wählen zu können, keine ExpertInnen zu sein, sondern Breite und Varianzen leben zu können, zusammen/geteilt mit anderen zu produzieren und zu verschwenden, Neues anzufangen und bleiben zu lassen und dabei das Unvollständige und Unfertige zu bejahen.

kein mensch ist kalkulierbar!
bringt unsere Kritik an ‚jeder mensch ist eine Expert/in" gebündelt auf den Punkt. Wir wollen damit keinen neuen Slogan der Bewegung ausrufen - als solcher überzeugt er uns nicht - aber er weist die Richtung aus, in der unserer Meinung nach neue Slogans zu suchen sind. ‚kein mensch ist kalkulierbar" kann im Unterschied zu ‚jeder mensch ist ein/e ExpertIn" auf wenig bauen, was sich ‚von selbst versteht". Dass er in der vom utilitaristischen Kalkül beherrschten öffentlichen Meinung auf spontanes Unverständnis stößt, liegt in seiner Absicht, genau sie gilt es anzugreifen. Doch auch bei Leuten aus dem antirassistischen Spektrum hat er zum Teil heftige Kritik hervorgerufen, Besorgnis erregte vor allem das Menschen- bzw. Gesellschaftsbild, das der Spruch impliziere. Wir sehen den Erklärungsbedarf und möchten im folgenden erläutern, in welcher Weise wir in dem Spruch das Gesellschaftsverständnis und einen utopischen Horizont repräsentiert sehen, die wir vertreten.
In dem Kontext, um den es geht, bedeutet ‚kein mensch ist kalkulierbar" zunächst einmal die prinzipielle Ablehnung jeder ökonomischen und (staats-)politischen Berechnung eines ‚Rechts auf Migration". Sachlich falsche Polemik ist der Spruch natürlich insofern die Kalkulation, Kontrolle und Regulierung von Wanderungsbewegungen reale politische Praxis ist, deren Effektivität durch technologische Aufrüstung permanent erneuert wird. Dies abzustreiten erscheint ebenso absurd, wie die gesellschaftliche Tatsache zu leugnen, dass die Art und Weisen, in der Individuen in Beziehung aufeinander existieren, immer gewisse Regelmäßigkeiten beinhalten. All unser Handeln, Sprechen etc. vertraut auf die Mitteilbarkeit seines Sinnes (Kalkulierbarkeit) - und es funktioniert. Und es funktioniert nicht: kein System ohne Grenzen, kein Funktionieren ohne Störung, kein Wissen ohne blinde Flecken, kein Verstehen ohne Missverständnis, keine Verständigung mit anderen ohne den Rest einer Ungewissheit. Begegnungen mit Unberechenbarem - damit müssen und wollen wir rechnen. Wir meinen damit nicht die berechnete Unberechenbarkeit des Terrors, sondern jene Unvorhersehbarkeit, die nicht zuletzt die Bedingung jeder revolutionären Möglichkeit ist - dass morgen Dinge passieren können, die heute noch unvorstellbar/unmöglich sind. Und wir distanzieren uns hiermit von Gesellschaftsutopien, die ihre Erfüllung in einer allumfassenden, einigen, harmonischen und gesicherten Gemeinschaft suchen. Das utopische Ziel unserer Handelns im hier und jetzt ist vielmehr das politische Tragbarmachen von Dissens und Interessenswidersprüchen, also von Differenzen, die in keiner Ordnung aufgehen. Die Welt ist kein Wohnzimmer einer Menschheit, sondern der offene Raum einer geteilten Existenz, in der es kein Innenleben gibt, ohne ein Außer-sich-geraten. Kein Glücksversprechen! Und das ist kein Grund zur Traurigkeit. Wo es keine ‚Polizei", keine Experten und keine Beamten der Macht geben soll, die Normen im Namen einer Allgemeingültigkeit durchsetzen, darf es ungemütlich bleiben (muss aber nicht).

Die Rechnung geht nicht auf!
Zu jenen Allgemeingültigkeiten und Gesetzmäßigkeiten, von denen es sich zu verabschieden gilt, zählen auch alle Ideen eines Zwecks oder Nutzens menschlichen Lebens. Michel Foucault macht ihren Unsinn deutlich (siehe Kasten).

Michel Foucault: "Ich glaube, es ist notwendig, dass man sich in Bezug auf die Menschheit mit einer Position abfindet , die der Position entspricht, welche man gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Bezug auf die anderen Lebewesen angenommen hat, als man sich darüber einigte, dass die Lebewesen nicht für jemanden - weder für sich selbst, noch für den Menschen, noch für Gott - funktionieren, sondern dass sie einfach existieren. Der Organismus funktioniert. Wozu existiert er? Um sich zu reproduzieren? Um sich am Leben zu erhalten? Keineswegs. Er funktioniert. Er funktioniert in sehr zweideutiger Weise: zum Leben, aber auch zum Sterben; es ist ja wohlbekannt, dass sich das Funktionieren des Lebens ständig abnutzt, dass gerade das Funktionieren des Lebens zum Tod führt. Also funktioniert eine Spezies nicht für sich selbst, und auch nicht für den Menschen oder zur größeren Ehre Gottes: sie beschränkt sich darauf zu funktionieren. Dasselbe gilt nun auch für die menschliche Spezies. Gewiss verfügt die Menschheit über ein Nervensystem, mit dem sie ihr Funktionieren bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann. Und es ist klar, dass diese Kontrollmöglichkeit fortwährend die Idee nahe legt, die Menschheit müsse auch einen Zweck haben. Diesen Zweck entdecken wir in dem Maße, in dem wir unser eigenes Funktionieren kontrollieren können. Wir aber drehen die Dinge um. Wir sagen: Weil wir einen Zweck haben, müssen wir unser Funktionieren kontrollieren. In Wirklichkeit können nur aufgrund dieser Kontrollmöglichkeit all die Ideologien, Philosophien, Metaphysiken, Religionen entstehen. Verstehen Sie, was ich sagen will? Die Möglichkeit der Kontrolle führt zur Idee des Zwecks. Tatsächlich hat die Menschheit keine Zwecke. Sie funktioniert, sie kontrolliert ihr Funktionieren und bringt ständig Rechtfertigung für diese Kontrolle hervor. Wir müssen uns damit abfinden, dass es nur Rechtfertigungen sind. Der Humanismus ist eine von ihnen, die letzte."
(aus: Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault, in: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987, S. 25)

Es geht nicht darum, sich von universellen Werten zu verabschieden, sondern darum klar zu haben, dass sie stets als Rechtfertigung und Rahmung für bestimmte Praktiken dienen.
Wir wollen mit dem Ein-Satz ‚kein mensch ist kalkulierbar" das selbstzweckhafte Gebilde einer Nation delegitimieren, welche die Einzelnen ihrem Nutzen unterwirft, ebenso wollen wir die kapitalistische Verwertungslogik zurückweisen, welche die Menschen als Ware Arbeitskraft kalkuliert und an ihren Wünschen nur in Form von Kaufkraft interessiert ist. Der Spruch insistiert darauf, dass all diese ‚Rechnungen" niemals zur Gänze aufgehen werden. Das Leben, das einem Kalkül nur mithilfe permanenter Kontrollen unterworfen werden kann, gehorcht diesem nicht. Eine Grenze, die nicht überschritten werden kann, ist nicht existent (vgl. Foucault 1987, S.32). Auch die Strategen des Grenzregimes wissen das, Europol weiß es, die Leiterin des Frankfurter ‚Amts für Multikulturelle Angelegenheiten" (Amka) weiß es: " ‚Wir werden nicht verhindern können, dass arme Leute immer versuchen werden, über die Grenze zu kommen." Aber: ‚Wir können das managen."" (FR, 18.07.01) - Ach so. Und wie könnt ihr euch sicher sein, dass ihr das könnt? Genau hierin sehen wir den Ansatzpunkt einer radikalen öffentlichen Kritik am Grenzregime und an den Migrationsgesetzen: diese Regulierungspraktiken am realen Kern jener (paranoiden) Kontrollverlustängste zu packen, die ihre Erneuerung antreiben (das ‚Boot" ist so ein paranoides Ding: mal zu ‚voll" mal zu ‚leer" - es ist immer am ‚sinken"). Der reale Kern besteht darin, dass, wie die Zeitschrift Diskus schreibt, keine Institution ‚alles und jeden im Griff hat": "Das Grenzregime mag die Sichtbarkeit (von Schleichwegen und Schleichenden) erhöhen, Wahrscheinlichkeiten (dass jemand auffällig wird) optimieren und den Zugriff erleichtern - es vermag ‚staatliche Unwissenheit" über die Praktiken und Wege Vieler nur einzugrenzen, nicht aber auszuräumen. [...] So mächtig die [...] Politiken auch sein mögen, Ressourcen zu nutzen und die anderer zu begrenzen, so jagen sie den Praktiken der Verfolgten mitunter doch hinterher." Die Widersetzlichkeit der "GrenzgängerInnen" ist unser Bezugspunkt, ohne sie als ‚Widerstand" zu idealisieren (Diskus Nr.1.01, Mai 2001, S.9). Und ohne darin schon den "Aufbruch in eine andere Welt zu sehen", legen wir angesichts der globalen Migrationsprozesse wert auf die Feststellung, dass es nicht ausgemacht ist, wie weit es gelingt, diese massenhafte "Suche nach einem besseren Leben" immer wieder zu kapitalisieren und "in Akkumulation zu übersetzen" (vgl. Wildcat in: kmii-rundbrief #15).
In diesem Zusammenhang stellt sich für uns die Frage, ob es möglich ist, den Terminus ‚Globalisierung" gegen den herrschenden Gebrauch auszulegen, angesichts der Logik von ‚Gefahren" und ‚Sachzwängen", die damit verknüpft ist? Unter ‚Globalisierungsängsten" laufen heute die same old rassistischen und antisemitischen Projektionen mit: die ‚Überfremdungsangst", die ‚McDonaldisierung der Kultur", die ‚entfesselte Macht des Finanzkapitals".... Wenn von katastrophisch-unkalkulierbaren Folgen der Globalisierung die Rede ist, haben wir es wiederum mit der kalkulierten Form von Unsicherheit zu tun, die nach der Paranoia-Formel greift: Sie verleugnet die Krisen, die das Innere durchziehen, um sie statt dessen in der Form einer äußeren und deshalb kontrollierbaren Bedrohung zu bekämpfen.
Innerhalb des Komplexes der ‚Inneren Sicherheit" etablieren sich zusehends auch ‚aufgeklärte" Strategien eines Risiko- und Unsicherheitsmanagements. Ausgehend von der Einsicht, widergesetzliche Handlungen, seien es ungenehmigte Grenzgänge oder andere Delikte, nicht abschaffen zu können, verlagert man sich darauf, diese zu überwachen und sekundär so zu verwalten, dass ihre Auswirkungen klein gehalten werden. Nicht zuletzt daraus speist sich die Sympathie ‚von oben" für periodisch ‚bereinigende" Legalisierungserläße: "Der Staat kann ja an diesem irregulären System nicht interessiert sein. Diese Leute entziehen sich seiner Kontrolle, der Meldepflicht, Steuerpflicht, der Gesundheitsvorsorge. Die Kinder wachsen zu Analphabeten heran. Womöglich hat einer eine ansteckende Krankheit. Da muss man sich jenseits des Strafrechts und der Ausweisung eben Regulierungssysteme einfallen lassen." (Rosi Wolf-Almanasreh; Amka in: FR, 18.07.01)
Um unsere Kritik abzugrenzen gegen den ‚Willen zu regieren", sei es in der Logik der Gefahrenabwehr oder der des Risikomanagements, müssen wir die Verteidigung des Unvorhersehbaren und der Unsicherheit in unseren Gegendiskurs aufnehmen. Die Unsicherheit zu bejahen heißt aber nicht, die systemisch produzierten Krisen und die Verunsicherung der Existenz in der Armut zu akzeptieren. Und das Hereinholen des Unvorhersehbaren bedeutet nicht, Willkür zu naturalisieren oder Gewalttätigkeiten zuzustimmen.

Linke AntirassistInnen brauchen eine Position und neue Strategien in der Einwanderungsdiskussion und wir sollten dringend daran arbeiten. Diskutieren Ja Bitte: Am Sonntag, den 29.07.01 abends im Camp zur "Talk-Show: Jeder Mensch ist ein Experte." Am Montag 30.07.01 wird es eine Arbeitsgruppe auf dem Camp geben zum Thema: "Einwanderungsdebatte und soziale Revolution."
Macht mit, campt und diskutiert!

N O S E R V I C E Kassel, Juli 2001