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Theoriecafé Auflösungserklärung

Wie einige vielleicht schon mitbekommen haben, hat sich das langjährige Projekt Tomorrow-Theoriecafé – veranstaltet im B12 – aufgelöst. Einige werden diesen Umstand mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben, andere wiederum sehen vielleicht einen hoffnungsvollen Versuch, Jugendliche für Gesellschaftskritik zu sensibilisieren, an seinem Ende. Mit der Initiierung des Theoriecafés Mitte 2001 gab es ein zahlreiches Angebot von Themen, welches linksangefixten Jugendlichen die Möglichkeit bot, eigene Positionen zu diskutieren und zu vertiefen, so z.B. die Untersuchung der Guerillabewegungen in Lateinamerika, des Anarchismus, Antifaschimus, Feminismus, Antisemitismus, der deutschen Vergangenheit etc. Dabei wurden verschiedene Vermittlungsformen verwendet: Vorträge, Filme, Hörbeiträge und Moderationen, welche in jedem Fall eine anschließende Diskussion initiieren sollten. Später kam die Idee auf, die gehaltenen Vorträge zu verschriftlichen und sie in dieser CEE IEH-Rubrik zu veröffentlichen sowie gleichfalls auf der Homepage tomorrow.de.ms. Damit konnten Jugendliche, welche einige Vorträge versäumt hatten, wenigstens diesen Zugang zu für sie relevanten Themen nutzen. Die Auswahl der Schwerpunkte wurde dem Anspruch der Aktualität zwar nicht immer gerecht, jedoch ging es auch nie darum, mit jedem einzelnen Vortrag die Trends der medial präsentierten Politik zu kommentieren. Die Auswahl orientierte sich zum Einen am Anspruch, ein breites Spektrum zu erreichen, zum Anderen ging es uns oft in erster Instanz um die kritische, theoretische Aufarbeitung von Zwängen und Zumutungen, welche die Realität ständig zu bieten hat. Die Zumutungen von Schule, Arbeit, Subkulturen etc. haben zwar nicht die Brisanz einer gegenwärtigen politischen Affäre, jedoch bleiben sie durch ihre Permanenz im Alltag aktuelle Problematiken. Zusätzlich zur Bereitstellung einer breit gefächerten Auswahl von Themen gab es immer die Möglichkeit, eine Anfrage per Mail zu stellen bzw. sich durch eine im Theoriecafé eingerichtete „Wunschbox“ Gehör zu verschaffen.

Die Auflösung des Theoriecafés kommt zu einem Zeitpunkt, an dem wir als Organisatoren einsehen müssen, dass eine theoretische Auseinandersetzung von Jugendlichen für Jugendliche in Leipzig nicht mehr in dieser Form zu gewährleisten ist und Kräfte verbraucht werden, die an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden könnten. In dieser Form meint dabei die von uns betriebene, inhaltlich orientierte politische Beschäftigung, welche ihre Legitimation daraus zieht, dass es die Möglichkeit einer unmittelbar emanzipatorischen Praxis momentan schlichtweg nicht gibt und die theoretische Beschäftigung mit den bestehenden Verhältnissen, die wenigstens begriffliche Kritik ermöglicht und am Leben erhält, solange von einer umwälzenden nicht die Rede sein kann. Unser Begriff von Praxis drehte sich daher um das Ausarbeiten und Diskut ieren von Referaten, Artikeln, Flugblättern usw. Das Ende dieses Konzepts in Form des Theoriecafés hat dabei mehrere Gründe, die auch in Stellungnahmen der Gruppe Tomorrow anklangen(1): Zunächst einmal sind wir älter geworden, was abgesehen vom äußeren Erscheinungsbild und der abnehmenden körperlichen Belastbarkeit zwei wesentliche Probleme mit sich brachte. Zum Einen fehlt uns der unmittelbare Bezug zu den Instanzen des jugendlichen Lebens. Wir gehen eben nicht mehr zur Schule, hängen nicht auf Sportplätzen rum usw. Die Distanz, welche durch das Auftreten als – allein schon optisch leicht zu identifizierende – ältere Person („Können SIE mir bitte auch einen Flyer geben?“) entsteht, ist einer Diskussion auf Augenhöhe nicht unbedingt zuträglich. Womit wir bei Problem Nummer Zwei wären: Ein spezifisches Merkmal des Theoriecafés war der Ausschluss von älteren Personen zur Vermeidung einer sich normalerweise etablierenden Wissenshierarchie, die in der Regel einer ausgewogenen Diskussion im Wege steht. Diese von uns ausgeschlossenen Älteren, welche schon mehr wissen, viele Argumentationen kennen und einen Jugendlichen mit wenig gefestigtem Weltbild schnell beim Diskutieren „ins Schwimmen bringen“, sind mittlerweile „Wir“. Um diese Altersgrenze nicht als Farce beizubehalten, verbietet sich unsere Teilnahme an Vorträgen automatisch.

Die alterspezifische Blockade bei Jugendlichen ist letztlich auch eine Frage der Methoden von Jugendarbeit: Es müssen neue Formen der Vermittlung gefunden, die Wirkung auf Jüngere hinterfragt werden und Auseinandersetzungen mit den heutigen Problemen der Jugendlichen stattfinden, was sich in der Vergangenheit als nicht immer einfach erwiesen hat. Ohne einen Einblick in die Gedankenwelt der Jugendlichen von heute scheint es schier unmöglich, eine theoretische Auseinandersetzung zu fördern. Die Welt von vor zehn Jahren erschien uns in dieser Hinsicht einfacher gestrickt: Jugendliche haben über die „ganze Scheiße“ abgekotzt, haben gegen ihre Eltern rebelliert, sind mal „gegen Bullen an den Start gegangen“ und es galt als selbstverständlich, Nazis nicht zu tolerieren usw. Es bleibt zwar offen, inwieweit das nur unser Eindruck von Leuten aus unserer Umgebung war, aber der Trend in Diskussionen mit Jüngeren lässt ein zunehmendes Einverständnis mit den herrschenden Zumutungen erkennen. Schule, Arbeit, Karriere und Deutschland sind für viele die Perspektiven des Lebens schlechthin, die Familie wird als erstrebenswertes Ziel in Umfragen angegeben, Punks und andere Subkulturen reden wie selbstverständlich über Studium, Politik und über den neuesten Schrei der Mode wie auch über Popsendungen in den Medien. Aber dass die sozialen Zumutungen sich auf dem Arbeitsmarkt noch verschärfen werden, die Rente für kaum jemanden mehr gesichert ist und die politische Situation der Welt sich zusehends verschlechtert, scheint niemanden mehr dazu zu bringen, sich auch nur einen kritischen Gedanken zu machen. Die Verwirklichung einer utopischen Gesellschaft, in der alle ohne Angst verschieden sein können, sollte eine in ihrer Einfachheit selbstverständliche Forderung sein, doch durch die allgemeine Konformität einer von allen Menschen gemeinsam erzwungenen, unfreiwilligen Teilhabe am gesellschaftlichen Betrieb wird der Gedanke an etwas jenseits des Bestehenden verdrängt, vergraben und mundtot gemacht. Dagegen ankämpfend sollte das Theoriecafé einen winzigen Teil dazu beitragen, sich wenigstens theoretisch mit der Gesellschaft in all ihren Ausprägungen auseinanderzusetzen und dadurch auch das eigene Leben in den vorgeschriebenen Bahnen kritisch zu reflektieren. Denn ohne Kritik „der Scheiße“ keine Klospülung, die das Problem ein für alle Mal runterspült. Das Theoriecafé litt aber auch an einem anderen Problem. Jugendarbeit in Leipzig wurde in der Vergangenheit nur von Tomorrow, wenigen Einzelpersonen und nach mehreren Jahren Desinteresse der aktiven Leipziger Gruppen schließlich auch im Conne Island Eiscafé vorangetrieben, wobei die Unterstützung durch inhaltliche Auseinandersetzung mit Jugendarbeit an sich ausblieb und dadurch in Leipzig organisatorisch zusehends ins Stocken geriet. Auch die aktiven Mitglieder von Tomorrow verloren mit der Zeit an Zahl und somit verteilten sich die Aufgaben auf immer weniger Leute, weswegen einige Ideen schlicht und einfach wegen ihrer organisatorischen Unmöglichkeit nicht umgesetzt wurden. Einer der letzten Versuche, welche in einem Rundschreiben an alle nennenswerten politischen Initiativen um thematische Unterstützung bat, blieb von allen nur unbeantwortet.

Ein Projekt um seiner selbst Willen zu betreiben, ist sinnlos und zehrt unnötig an den Kräften der Organisatoren und Referierenden, daher steht mit diesem Ende gleichzeitig die Frage auf dem Plan, wie es weitergehen kann. Jugendarbeit ist ein wichtiger Bestandteil für eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, darum müssen neue Wege gefunden werden, ihr den nötigen Platz einzuräumen.

Und diese Aufforderung ist explizit nicht an Leute wie uns oder noch ältere gerichtet, welche ihre eigenen Gedanken auch mal an Jugendliche loswerden wollen. Diese Aufforderung richtet sich an Jugendliche selbst: Es ist an euch!

Mit dieser Auflösungserklärung sei allen sehr herzlich gedankt, die sich für das Theoriecafé eingesetzt haben, ausdrücklich dem B12, dessen Räumlichkeiten uns immer zur Verfügung standen.

Anregungen und Kritiken bleiben weiterhin erwünscht: tomorrow@left-action.de.

Anmerkung

(1) Bspw. in der Incipito August 2003 "jung. dynamisch. sexy."