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Hurra, hurra die Schule brennt!


„Wenn ein Nagel aus der Wand ragt, so schlage man ihn ein.“ (japanisches Sprichwort)
Der/Die durchschnittliche japanische Schüler/in hat neben Schule, „freiwilligen“ Kursen und Hausaufgaben ungefähr 4 Stunden Schlaf.
In Amerika müssen ca. 6 Millionen „verhaltensauffällige“ Grundschüler/innen das Präparat Ritalin, das in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, schlucken, um aufnahmebereit für schulische Erziehung zu sein.
40% der Zwölfjährigen haben Kreislaufprobleme und ein Drittel leiden unter Haltungsschäden, Schlafstörungen, Kopf- und Magenschmerzen.
In Deutschland machen 30000 Jugendliche pro Jahr einen Selbstmordversuch, 1000 enden tödlich.
Jährlich bekommen 8000 Mädchen im Alter von 15 Jahren ein Baby, um endlich Nähe und Wärme in einer engen Beziehung zu erfahren. Selbstzerstörung in Form von „Ritzen“ nimmt bei jungen Mädchen dramatisch zu, 80% der Ritzerinnen leiden unter der Borderline-Störung, was eine schwere psychische Krankheit ist. Um Anerkennung zu gewinnen, haben Mädchen schon in sehr jungem Alter Geschlechtsverkehr und versuchen jedoch die dabei fehlende Zärtlichkeit bei ihren Haustieren zu finden.
Diese Beispiele von aus allgemeiner Sicht fortschrittlichen und hochindustrialisierten Nationen zeigen deutlich auf, wie „freie“ Gesellschaften im Stande sind, ihre Heranwachsenden körperlich, sowie psychisch durch Fremdbestimmung in Schule und im späteren Arbeitsleben zuzurichten.

Eine nicht gerade geringe Anzahl von Jugendlichen, die sich täglich mehr oder weniger freiwillig einer Wissensbestrahlung in sogenannten Bildungseinrichtungen unterziehen müssen, äußern ihre Kritik am derzeitigen Schulsystem schlichtweg und berechtigterweise mit Ausdrücken, wie „kotzt an“. Wir wollen jedoch eine Schulkritik entwickeln, welche die Schule als eines der bedeutendsten Mittel der herrschenden Verhältnisse darstellt, denn sie hat die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen auf das spätere Arbeitsleben vorzubereiten und ihnen Konkurrenzverhalten, Leistungsdruck und die Akzeptanz bestehender Hierarchien zu verinnerlichen. Schule ist nicht etwa eine herzensgute Institution, in der alle das ach so hohe Gut der Bildung kostenlos genießen dürfen, sondern die Zurichtungsanstalt schlechthin. Das heißt nicht, dass Bildung generell abzulehnen sei und man sich keine Gedanken über das Funktionieren von Natur und Gesellschaft machen müsste, sondern dass schulische Bildung, die hier kritisiert werden soll, nicht darauf abzielt, die Verhältnisse als solche zu hinterfragen.1 Denn dass das vorrangige Anliegen von Schulbildung nicht Wissensvermittlung ist, zeigt sich daran, dass einer schlechten Lernleistung oder Versetzungsgefahr nicht mit erhöhtem Lernaufwand oder verständlicherem Unterricht begegnet wird, bis sämtliche Wissenslücken gefüllt sind, sondern den Ausschluss von weiterer Bildung zur Folge hat. Hier kann man an dem Beispiel des allgemein bekannten und immer wieder sehr geschickt eingesetzten Spickzettels sehr deutlich sehen, dass der Unterrichtsgegenstand nur soweit interessiert, wie er für eine gute Note zu gebrauchen ist. Außerdem wird nach der Berichtigung weitergemacht, ohne auf die Mängel im Allgemeinen oder des Einzelnen einzugehen. So findet schon in frühem Alter eine Art Auslese statt, die maßgebend für das spätere Berufsleben ist. Doch auch schon die Unterteilung des hiesigen Schulsystems in Gymnasium, Haupt- und Realschule ist zwingend eine Einteilung von Menschen in Leistungsklassen, deren Abschluss wiederum bestimmte Gebiete des Arbeitsmarktes für sie öffnet, bzw. verschließt. Für den Hauptschüler/die Hauptschülerin bleibt eine höhere Stellung im Berufsleben, aufgrund seiner/ihrer „niederen“ Bildungsebene, verwehrt. Seine/ihre schulischen Leistungen legen also seinen/ihren „Wert“ fest, was häufig zu starken Minderwertigkeitskomplexen und anderen daraus resultierenden psychischen Krankheiten führt. Zensuren bestimmen somit, wie teuer oder billig sich der Schüler/die Schülerin verkaufen darf, oder besser muss. Durch dieses Bewertungssystem werden die Schüler und Schülerinnen zu funktionierenden, marktfähigen und leistungsorientierten Menschen erzogen. Zeit für eigene Interessen bleibt kaum, da man bis zu 10 Stunden täglich in der Schule körperlich und vor allem geistig eingesperrt ist. Und auch die Nachmittage sind nicht selten vollgepackt mit Hausaufgaben, Nachhilfeunterricht oder dem Lernen für die nächste Arbeit. Bereits im Kindesalter muss zudem begriffen werden, dass Bedürfnisse und Privates in der Schule in den Hintergrund gestellt werden müssen und im Unterricht nichts zu suchen haben. Man lernt, dass Spielzeuge nicht in den Ranzen gehören, private Gespräche verboten sind und nur bei Aufforderung geredet wird. Sogar die Befriedigung elementarster menschlicher Bedürfnisse, wie Essen, Trinken oder der Gang zur Toilette müssen in den kleinen Zeitraum der Pause verlegt werden und sind auch dann nur innerhalb der gegebenen Richtlinien der Hausordnung erlaubt. Wer dies nicht schnellstmöglich akzeptiert und versteht, wird als Ruhestörer oder Kasper dem Spott seiner Mitschüler ausgesetzt und mit Strafen diszipliniert. Schon hier werden Parallelen zum Arbeitsleben sichtbar, da auch dort Privates und Berufsleben strikt getrennt sind. Schüler und Schülerinnen tun dies nicht etwa freiwillig, denn den meisten unter ihnen steht der Sinn nicht nach grauem Lernalltag; die Einhaltung der Schulnormen muss durch die Autorität des Lehrers, bzw. der Lehrerin gesichert werden. Für einen geregelten Schulalltag ist demzufolge eine offensichtliche Hierarchie, also eine klare Form von struktureller Gewalt, enorm wichtig. Sie ist von Anfang an Teil des Lernprozesses und kann nicht hinterfragt werden.
Bei Verstößen gegen diese Schulgesetze haben die Lehrer und Lehrerinnen die Pflicht, die ihnen zahlreich zur Verfügung stehenden Disziplinarmaßnahmen einzusetzen, und somit die Regeln gewaltsam durchzudrücken. So erziehen sie die Kinder und Jugendlichen mit Hilfe von Tadeln, Elterngesprächen, schlimmstenfalls dem unfreiwilligen Schulwechsel und auch den Kopfnoten; diese sind ein gutes Beispiel für die Übertragung kapitalistischer Wertvorstellungen und daraus resultierenden Zwängen – wer nicht konform ist, findet dies auch in seinen/ihren Verhaltensnoten wieder, welche niemals objektiv sein können und somit der Lehrer die Entscheidung nur nach Sympathie treffen kann und trifft. Eine der gefürchtetsten Maßnahmen ist wohl das Vergeben schlechter Noten aufgrund von nicht gemachten Hausaufgaben, was ganz klar ist, nehmen Zensuren doch eine, wenn nicht sogar die zentrale Rolle in der Schule ein. Diese Disziplinarmaßnahmen gehen zwar von den Lehrern und Lehrerinnen aus, jedoch macht sie das keineswegs zu den Verursachern. Sie haben ebenso Vorschriften und Einschränkungen, in denen sie sich bewegen müssen und auch sie unterliegen dem Zwang, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen, nehmen also lediglich ihre Rolle im gesellschaftlichen Ganzen ein. Zum Thema Arbeit findet ihr hier im Heft ein Referat, dass sich mit der Durchsetzungsgeschichte, ihrer Rolle in unserer Gesellschaft und ihrer Perspektive beschäftigt.
Nach dem Absolvieren eines der genannten Bildungsgrade, beginnt der „Run“ auf den Arbeitsmarkt, welcher längst nicht mehr Platz für jeden bietet. Trotzdem muss auch die nicht-elitäre Mehrheit auf ein Dasein eingestimmt werden, das sich nicht auf der Sonnenseite des Lebens abspielt und gleichzeitig von ihnen erfordert, sich der allgemeinen Arbeitswut anzuschließen, um sich ernähren zu können und gleichzeitig wirtschaftlich verwertbar zu sein. Während diejenigen das Rennen für sich entscheiden, die mit einem höheren Abschluss an den Start gegangen sind, müsste jedem arbeitslosen Jugendlichen auffallen, dass, wenn von dem „großen Problem“ Jugendarbeitslosigkeit gesprochen wird, es nicht um sein Problem geht, sondern dass er selbst eines ist: Er trägt nicht zur Steigerung des Bruttosozialprodukts bei. Die Teilnahme am Unterricht dient also dem Gerechtwerden eines Maßstabes, der Sozialisation eines/einer jeden mit Hilfe der Klassengemeinschaft als einer Gesellschaft im Kleinen (in der sich immer als Folge der Entsolidarisierung durch das antrainierte Konkurrenzverhalten „Versager“ und „Streber“ finden lassen), damit das Funktionieren ihrer Mitglieder, auf welche die kapitalistische Gesellschaft schließlich angewiesen ist, gewährleistet werden kann. Diesem Druck können natürlich nicht alle gleichermaßen standhalten und so kommt es nicht selten zu Auswirkungen wie den oben beschriebenen. Aber auch Phänomene, die uns als normal und alltäglich erscheinen, wie soziale Hierarchien oder Außenseiterrollen resultieren aus besagtem Konkurrenzverhalten sowie Leistungszwang. Anstatt soziale Differenzen auszugleichen, werden diese um so selbstverständlicher verinnerlicht. Ein Infragestellen würde somit auf ein Hinterfragen der gesamten auf Hierarchien und Zwang basierenden Gesellschaft hinauslaufen, was selbstredend im Schulunterricht unerwünscht ist.
Aufgrund der hier beschriebenen Eingebundenheit von Schule in den Kapitalismus kann eine Schulkritik also nie im Mittelpunkt einer Gesellschaftskritik und schon gar nicht nur für sich stehen. Es geht uns vielmehr darum, Schule als unbedingte Institution einer kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen, da sie eine Anstalt ist, die wie alle anderen Institutionen nicht losgelöst von den bestehenden Verhältnissen kritisiert oder angegriffen werden kann. Deshalb ist dem der Schule und den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Wahnsinn, wie Amokläufen, Tausenden von Selbstmordversuchen oder auch Drogenabhängigkeit2, durch reformierte Schulen ohne Autoritäten oder sogar ohne Noten, nicht zu entgehen. Zwar gibt es dort scheinbar keine fremden äußeren Einwirkungen (außer vielleicht die Erwartungshaltung von Eltern und Familie), welche die Schüler und Schülerinnen formen und disziplinieren, doch will man später eine Chance im Berufsleben haben, ist dies sogar eine effektivere Form der Ausbildung, da man so schon in der Schule lernen muss, sich selbst zuzurichten und auch ohne Chef mit voller Energie seine Arbeit zu verrichten.
Wir fordern somit keine Verbesserung der Schule oder ihrer Befreiung von Hierarchien, da dies nur das System modernisieren würde. Uns geht es viel mehr um die Abschaffung der gesamten kapitalistischen Verhältnisse und somit um die Befreiung der Gesellschaft vom Arbeitswahn, um allen Menschen den Weg in eine freie Gesellschaft zu ermöglichen!


1 Beispielsweise wird schulisches Wissen meist in Form von Fakten vermittelt und klammert von vornherein eine kritische Auseinandersetzung aus. Wo sie dennoch „erwünscht“ ist, wie in den „Sozialfächern“ Ethik, Gemeinschaftskunde oder Geschichte, geht es oftmals lediglich darum, „auch mal seine Meinung“ sagen zu können. Diese kann dann im Sinne des Meinungspluralismus gleichermaßen neben anderen Meinungen stehen, was sich oftmals als problematisch erweist. Zum Beispiel in der Diskussion um den Nationalsozialismus werden die Geschehnisse ohne jegliche Wertung und in der gleichen Weise wie der Aufbau eines Atoms in Chemie gelehrt. Durch diese Verfahrensweise erscheint die Schuld Deutschlands am 2. Weltkrieg und der Vernichtung des europäischen Judentums als Ergebnis der Unterdrückung durch eine machtbesessene Führerclique und nicht korrekterweise als eine Tat, die ohne das kollektive Mitwirken von der nahezu ganzen deutschen Bevölkerung nicht möglich gewesen wäre. „Führer befiehl, wir folgen dir!“ Außerdem kann die bloße Faktenbetrachtung der „Shoa“ zu einer Relativierung durch Zahlen- und Faktenvergleiche führen, ohne dass dabei auf die ideologischen Hintergründe, wie z.B. die Blut- und Bodenideologie, Rassismus oder Antisemitismus, reflektiert wird. So werden häufig sowjetische Arbeitslager mit den Vernichtungsfabriken von Auschwitz, Sobibor und Treblinka auf eine Stufe gestellt (dazu genauer der Artikel zur Singularität Auschwitz im Heft).

2 Im Übrigen ist zu bemerken, dass nach Amokläufen etc. immer zuerst danach gefragt wird, was der Schüler/ die Schülerin privat so gemacht hat oder wie seine/ ihre schulischen Leistungen waren, es werden also individuelle Beweggründe gesucht, anstatt die Umstände zu beleuchten, die allgemein gesellschaftlicher Natur sind und unter deren Zwängen jeder Mensch zu leiden hat. Individuelle private Umstände, wie z.B. mangelnde Zuneigung in der Familie, sind ebenso nur Ausdruck dieser für alle geltenden Zwänge.