Der Versuch einer Neudefinition von Selbstverteidigung in einer rassistischen Gesellschaft

Schwarzes Überleben in den Vereinigten Staaten im Übergang

Macht kostet meistens mehr als sie wert ist; wer Macht erlangt, ohne sich auf ihren angemessenen Gebrauch zu verstehen, verliert sie am Ende, weil alles, was durch Gewalt gefesselt wird, eines Tages rebelliert.
(Notizen aus einem ungesungenen Lied)

Die konventionelle Weisheit besagt, daß friedlicher und gewaltfreier Wandel letztendlich im besten Interesse eines gesellschaftlichen Systems ist. Selten wird der Gebrauch von Gewalt als gesellschaftlich produktiv angesehen. Im Großen und Ganzen ist das zutreffend. Nur wenige Zivilisationen haben ­ unabhängig von den Ursachen ­ verheerende und gewalttätige innere Umwälzungen oder den langsamen Zerfall ihrer Institutionen zur gesellschaftlichen Kontrolle überlebt (was auf dasselbe hinausführt, denn der Zerfall der Institutionen führt zu einem ungerechtfertigten Rückgriff auf Gewalt und Repression und verursacht hierdurch eine gewalttätige gesellschaftliche Reaktion). Wenn eine Gesellschaft durch friedlichen Wandel gedeiht, dann muß die Ausübung von Macht als "gerecht" empfunden werden oder zumindestens auf eine gemeinsame moralische Identität hinweisen. Kein System und keine Regierung kann sich lange an der Macht halten, ohne die Existenz einer moralischen Integrität vorzutäuschen. Es sei denn, sie greift auf nackte Gewalt zurück. Die Geschichte zeigt, daß Gewalt alleine nicht ausreicht, um Macht zu behaupten und aufrechtzuerhalten.

Wenn wir das Konzept der "Selbstverteidigung" gegen rassistische Aggression neu durchdenken, dann versuchen wir auch eine Neueinschätzung der ethischen Grundlage für die Anwendung von Gewalt in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext. Alle Konzepte von "legaler" Gewalt sind von den vorherrschenden Ideen derer bestimmt, die über die Anwendung von staatlicher Gewalt bestimmen.

In der US­Gesellschaft bauen diese vorherrschenden Ideen auf der Vorstellung einer "weißen Privilegiertheit" auf, (im englischen Original "white­skin privilege", d.h. " Privilegien aufgrund von weißer Hautfarbe", Anm. d. Ü.) d.h. der europäischen Überlegenheit. Diese Vorstellung beinhaltet, daß das Leben einer weißen Person an sich mehr wert ist als das Leben einer Person of Colour. Und das manifestiert sich natürlich in der US­Geschichte. Der Völkermord an den Native Americans, der Sklavenhandel mit Afrikanern und die darauf folgende ära des europäischen Kolonialismus legen Zeugnis davon ab, daß die Vorstellung von einer "weißen Privilegiertheit" ideologisch die Anwendung von Gewalt bei der Verfolgung europäischer Interessen nach Profit und der Kontrolle von People of Colour gerechtfertigt hat. Dies ist der Kontext, in dem Schwarze die Idee der Selbstverteidigung diskutieren müssen. Ohne dieses Grundverständnis kann keine rationale Diskussion über Selbstverteidigung für Schwarze stattfinden.

Vielleicht wäre es sinnvoll, das Verhältnis zwischen dem amerikanischen Nationalcharakter und der Anwendung von Gewalt noch weiter zu untersuchen, beispielsweise wie dieses Verhältnis institutionalisiert worden ist. Niemand kann mit einem Anspruch auf Glaubwürdigkeit behaupten, daß die Errichtung der USA ein gewaltfreies historisches Ereignis war. Der Raub der nordamerikanischen Landmasse von der indigenen Bevölkerung war eindeutig Völkermord. Der lange Zeitraum ­ über 250 Jahre ­, in dem diese Politik stattfand, widerlegt auch die Behauptung, daß der europäische Rassismus nur die Verirrung einer bestimmten Epoche war. Die Ausbeutung afrikanischer Sklaven, die die Grundlage für das große nordamerikanische Wirtschafts­ und Industrie"wunder" gebildet hat, wurde mit grenzenloser Brutalität durchgesetzt und mit der allgegenwärtigen Androhung von Gewalt aufrechterhalten. Einige Historiker schätzen, daß in der westlichen Hemisphäre zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert über 20 Millionen Native Americans von europäischen Siedlern ermordet wurden und zwischen dem 16. und 19. mehr als 50 Millionen Afrikaner auf dem Transport von Afrika in die Amerikas ums Leben gekommen sind.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dehnten die USA ihre Macht in Zentralamerika, der Karibik etc. im Kielwasser von Kanonenbooten und mit Hilfe der Bajonette der US­Marines aus. Tatsächlich haben die USA im letzten Jahrhundert mehr als zwei Dutzend Male in Zentralamerika militärisch interveniert und haben nach "gerechten Kriegen" gegen europäische Kolonialmächte deren Territorien annektiert. Mit den Worten eines Aktivisten aus der 68er Generation: "Gewalt ist so amerikanisch wie gedeckter Apfelkuchen." Zwang und Gewalt sind Teil der männlichen amerikanischen "Volksweisheit", aufgrund derer Generationen von weißen Männern die machistische Vorstellung von Aggression gegen People of Colour vermittelt wird. Ein kleines Beispiel dafür ist das Klischee, daß der Westen durch die Macht des sechschüssigen Revolvers "erobert" worden ist. Die scheinheilige Verherrlichung von Gleichheit, die auf Zwang gegründet ist, könnte mit einem Wortspiel auf den Satz in der Unabhängigkeitserklärung der USA zusammengefaßt werden, daß "alle Menschen gleich erschaffen sind". Eine populäre Redensart im "Wilden Westen"