Einleitung

Die Intifada, der Aufstand der Palästinenser in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten Westbank und Gaza seit dem Dezember 1987, ist die mächtigste Erhebung dieses unterdrückten Volkes seit der Besetzung des Landes in diesem Jahrhundert. Der Widerstand ist primär ein politischer Prozess, der die vollständige Unabhängigkeit und Souveränität zum Ziel hat.

Gleichwohl wollen wir im folgenden Abschnitt keine Schilderung des Verlaufs der Intifada geben, denn überschattet von "Medienereignissen" der täglichen Konfrontation mit der Besatzungsmacht vollziehen sich als eine wichtige Seite des Aufstands bedeutende Veränderungen im Alltag und in den Lebensgewohnheiten der Menschen, insbesondere der Frauen.

Wir wollen den Blick auf diese sozialen, politisch-ideologischen und ökonomischen Aspekte lenken, die in der aktuellen Berichterstattung und den Schlagzeilen über diplomatische Schritte beider Seiten unterschlagen oder unterschätzt werden.

Zur Organisation der Intifada

Der Aufstand ist mehr als die Konfrontation mit den Besatzern; das Volk hat seine Lebensweise verändert. Es wurden unabhängige und lokal arbeitende Institutionen geschaffen, um den Kampf weiterführen zu können wie z.B. Medizinerkomitees zur Versorgung der Verletzten, Komitees für die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln, Presseinformationskomitees u.a.

Aus diesen organisatorischen Anfängen, die notwendige Bedingung im Aufstand waren und weiterhin sind, haben sich eine Vielzahl zusätzlicher Aktivitäten entwickelt, die einen neuartigen sozialen und ökonomischen Prozess in Gang gebracht haben. Die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung wird heute von den zuständigen Komitees organisiert. Wo immer möglich, wird Obst, Gemüse, Getreide angebaut. Alle Reserven werden genutzt, und die Mittel, die nicht in der eigenen Familie Verwendung finden, werden den Komitees zur Verfügung gestellt. Ausgebildete palästinensische Landwirtschaftsingenieure, die sich zum Palästinensischen Landwirtschaftlichen Unterstützungskomitee (PARC) zusammengeschlossen haben, versuchen durch Schulungskurse, die Veränderung der landwirtschaftlichen Produktpalette und die Intensivierung der Landwirtschaft, durch Züchtung von Wüstenpflanzen und den Aufbau von Obstbaumschulen und Gemüsesämereien die Bevölkerung wissenschaftlich zu beraten. Daneben werden noch Kleintierzuchten angelegt und, wo immer es geht, die Maschinisierung vorangetrieben.

All diese Versuche geschehen in der Form von Kooperativen, deren Struktur demokratisch ist. So wird hier die wirtschaftliche Notwendigkeit politisch zukunftsweisend gestaltet. Es entstand im Verlauf des Aufstands eine umfassende und eigenständige palästinensische Infrastruktur. Und in den Kommuniqués der Vereinigten Nationalen Führung der Intifada wird immer wieder dazu aufgerufen, diese Selbstversorgungsstrukturen weiterauszubauen.

Neben der Organisierung der unmittelbaren Bedürfnisse sind die Volkskomitees auch Orte der politischen Auseinandersetzung. Man kann sie daher die Keimzellen der neuen palästinensischen Volksmacht nennen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hat die israelische Regierung bzw. der Militärgouverneur der besetzten Gebiete die Volkskomitees verboten. Sie stellen das Rückgrat des Aufstands dar, in ihnen hat sich die Bevölkerung selbst organisiert: in allen Dörfern, Lagern, Städten und Stadtteilen sind sie aktiv unter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen. Besonders die Frauen leiten in Bildungskomitees, Landwirtschaftskooperativen und bei der Gefangenenbetreuung herausragende Arbeit. Ihr Organisationsgrad in der noch halblegalen "Union der palästinensischen Frauenkomitees" (UPWWC) hat sich gegenüber Anfang der achtziger Jahre verzehnfacht - auf rund 15.000 Frauen.

Inzwischen erwägt die Vereinigte Nationale Führung im Einklang mit den Komitees einen neuen Schritt: die Übernahme von Staats- bzw. Verwaltungsfunktionen. Der seit dem ersten Jahr der Intifada anhaltende Steuerboykott wird weitergeführt. Darüber hinaus sollen Komitees für allgemeine Verwaltungsaufgaben und Komitees zur Schlichtung der Streitigkeiten eingerichtet werden. Bereits im Februar

1988 waren die von den Israelis eingesetzten palästinensischen Stadtverwaltungen zurückgetreten. Generell wird eine höhere Vereinheitlichung der Komitees der jeweiligen Bereiche angestrebt, was zugleich eine bessere Koordination und Zentralisierung erlaubt und eine nationale Vertretung der örtlichen Komitees darstellt. Insgesamt ist also die Intifada ein wohlorganisierter und von den breiten Massen getragener Widerstand, der zu einer demokratischen Bewegung geworden ist.

Errungenschaften der Intifada

Der Wiederaufbau der von der Besatzungsmacht in den letzten 20 Jahren zerstörten Selbstversorgung, die Reaktivierung alter hauswirtschaftlicher Techniken, der Versuch, neue Methoden im Agrarsektor einzuführen usw., sind nur die materielle Seite des veränderten Lebens. Gleichzeitig hat dieser ökonomische Prozess tiefe Auswirkungen auf die Moral- und Wertvorstellungen. Der soziale Prozess der kollektiven Arbeit, die gemeinsame Planung und Kommunikation, die gegenseitige Hilfe und Zuverlässigkeit, die politische Debatte, die gleichberechtigte Teilnahme der Frauen und die allgemeine Solidarität in den Aktionen haben den gesellschaftlichen Lebensstil verändert. Besonders die alte Rolle der Frau ist einer neuen Wertschätzung und einem Selbstbewusstsein gewichen, das ihrer jetzigen zentralen Stellung im Widerstand entspricht. Hier wird die Verschmelzung der nationalen mit der sozialen Befreiung angestrebt und hoffentlich mit Erfolg durchgehalten.

Eine Frau des palästinensischen Roten Halbmonds im
Einsatz

 

Eine Frau des palästinensischen Roten Halbmonds im Einsatz

 

Die Notwendigkeit der Eigeninitiative der Massen ist im Verlauf der Intifada von allen begriffen worden; es sind nicht die Vereinigte Nationale Führung oder der PLO-Apparat in Tunis, die "diktieren". Dieser soziale Prozess ist eine wichtige Errungenschaft des Aufstands und kennzeichnet eine neue Dimension des palästinensischen Befreiungskampfes. Trotzdem bleibt die Identifikation der Bevölkerung Palästinas mit ihrer politischen Führung, der PLO/ die Grundlage des Kampfes und bildet eine wichtige Voraussetzung für dessen Verbindung mit der diplomatischen Ebene. Die PLO ist unumstritten die legitime Vertretung.

Die politisch-ideologische Einheit an der Basis und der Pragmatismus der Volkskomitees, deren zentrale Forderungen der Palästinensische Nationalrat vom November 1988 bestätigt hat, haben den Richtungsstreit der Fraktionen in der PLO erstmal hintangestellt und eine neue Phase der Zusammenarbeit eingeleitet. Sie ist vor allem durch grösstmögliche Einheit und politische Nüchternheit gekennzeichnet mit dem vorrangigen Ziel, die Anerkennung des Staates Palästina und seine Unabhängigkeit durchzusetzen.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass Jordanien gezwungen wurde, seinen Souveränitätsanspruch auf die Westbank aufzugeben und es gelungen ist, die alte, zu Jordanien loyale Bourgeoisie zu isolieren und die mit Israel kollaborierenden Kräfte aus der Führung des Kampfes herauszuhalten. Überhaupt hat der Aufstand die Palästina-Frage wieder in den Vordergrund der internationalen Öffentlichkeit gebracht und das Kräfteverhältnis zu Ungunsten Israels verschoben.

Auch das Verhältnis von Drinnen (Westbank, Gaza) und Draussen hat auf die Intifada gewirkt. Der zentrale Kampf der Palästinenser findet nicht im Libanon, sondern im besetzten Palästina statt. Die Volkskomitees mit ihrer Vereinigten Nationalen Führung sind heute die bestimmenden Faktoren palästinensischer Politik. Die diplomatischen Manöver auf internationalem Parkett finden hier ihre Orientierung. Und die unzähligen "Friedenspläne" der arabischen Regimes und der USA erfahren hier die gebührende Ablehnung.

Desweiteren haben sich durch den Aufstand hervorgerufene Widersprüche im israelisch/zionistischen Lager aufgetan. An der Intifada kann niemand vorbei; der Status quo ante war ein Luxus und ein trügerischer Schein, den heute wohl keine politische Partei für sich ernsthaft wiederherstellen kann.

Palästina-Arbeitskreis im KB