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Von: Einzelperson 17.10.2001 12:00

Der Leopardentraum

Es war einmal...
[ Teil ¦ ¦¦ ¦¦¦ ]

Vor langer, langer Zeit war ich an verschiedenen "Kämpfen" und "Zusammenhängen" beteiligt: Anti-AKW, Häuserkampf, Antifa usw. Die üblichen Verdächtigen. Ich besetzte Häuser, demonstrierte, klebte Plakate, sprühte Parolen, ärgerte mich mit der Polizei herum, beobachtete Prozesse, blockierte Atomtransporte, schrieb Flugblätter und verteilte sie, malte Transparente, sammelte Geld, usw. usf. Ich gehörte wohl zu dem, was man heute wie damals als "Schwarzer Block" verunglimpft [wir lachten schon damals herzlich über die Organisationsphantasien der Bullen], und verstand mich als Anarchist, der Marx für wichtig hielt.

Es war alles sehr mühsam. Die Aktivbürger wollten uns am liebsten vergasen. Die Studenten machten lieber studentische Politik. Arbeiter riefen uns zu, doch endlich arbeiten zu gehen. Manchmal arbeitete ich in Fabriken und traf dort nichts an als die Sehnsucht nach dem nächsten Auto. Die Nazis waren genau die Arschlöcher, die sie heute auch sind, und die Bullen waren ganz sie selbst [auch damals schon war der Unterschied nicht immer zu erkennen]. Die liberale Linke hielt uns für schwarzrot verkleidete Nazis, weil wir uns nicht distanzierten [von wem auch immer]. Die damals noch existenten K-Gruppen waren uns genauso suspekt wie der DDR-Sozialismus.


Revolution war für uns ein Thema, aber keine Perspektive. Wir wußten nicht genau, was für eine Revolution wir uns vorstellen sollten. Am ehesten noch schwebte uns eine Art Räterepublik vor, eine Mischung aus München 1919 und Madrid 1936, dazu eine Prise "bolo bolo" von PM, ein wenig Marx, ein wenig Bakunin, et voilà. Der Begriff "Klasse" war extrem verwaschen, weil die "Klasse" extrem verwaschen war. Wir begriffen uns nicht als Avantgarde, nicht als revolutionäres Subjekt, nicht als Untergrund. Wir nannten uns gegenseitig nur mit Vorbehalt "Genossen", weil das die Sozialdemokraten und die Parteisozialisten, denen wir gleichermaßen mißtrauten, auch taten. Meistens waren wir mit irgendeiner Kampagne beschäftigt genug. Ich kritisierte den Hauruck-Revolutionismus, der bei manchen Genossen Platz griff, als lächerlich. Sie hielten mich deswegen für einen Zyniker.

Persönlich kann ich nicht behaupten, großer Repression ausgesetzt gewesen zu sein. Andere traf es schon eher: 129a, herbe Prügel, eine haputtgeschlagene Hand, Rausschmiß beim Job, Auftritt des Staatsschutzes bei den Eltern, Verhöre, jahrelange Prozesse.

Aber 1989 war Schluß. Ich war erschöpft von dem Kleinkram einer ohnehin nur schwammig definierten Revolution, die auf absehbare Zeit nicht stattfinden würde. Auch von unseren Niederlagen (keines der Häuser, das wir besetzten, konnte gehalten werden). Auch von dem ganzen, endlosen Gerede in verrauchten WG-Küchen. Auch von den ewigen Punkkonzerten. Auch von dem Gezeter der Tattergreise, die mit erhobenem Krückstock vor unseren Infotischen standen, und uns zum wiederholten Mal und immer wieder und immer noch einmal vergasen wollten. Dazuhin war ich von den Genossen enttäuscht. Ich hatte noch nicht begriffen, daß eine gemeinsame politische Gesinnung kein Garant dafür ist, daß man einander mag. Oft waren persönliche Sympathie und politische Präferenz schlecht vereinbar, ja, in meinem "Zusammenhängen" hielten sich genug Leute auf, denen ich "privat" lieber aus dem Weg ging. Von heute aus sieht die Verwirrung darüber wie ein geradezu kindliches Mißverständnis aus, damals war mir selbstverständlich, daß das Private ohne wenn und aber auch in diesem Bereich unmittelbar politisch zu sein hatte. Eine rigorose Idee von der Einheit des Denkens, Fühlens und Handelns, die von derWirklichkeit verworfen wurde. Ich warf das Handtuch.


II

Der Leopard

Neulich hatte ich mir im Traum einen Leoparden eingefangen. "Ich muß ihn wohl im Zoo betäubt und zu mir nachhause gebracht haben": So erklärte ich mir in diesem Traum, plötzlich der Besitzer eines Leoparden zu sein. Was für eine Angst kroch in mir hoch! In meinem Zimmer, gleich neben mir, lag ein lebender Leopard! Er würde sicher gleich aufzuwachen! Ich schlich mich mit klopfendem Herzen hinaus und verschloß die Tür hinter mir. Ratlosigkeit. Es war gewiß illegal, einen Leoparden in einer normalen Wohnung zu halten. Man würde Fragen stellen. Zu der Angst vor dem Tier kam die Angst vor der Polizei hinzu.


III

Ich könnte zu der neuen Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung die Haltung einnehmen, daß ich all das kenne: been there, done that. Siehe oben. Nur würde ich mir damit in die Tasche lügen. Denn die Lage hat sich verändert.
Es dürfte mittlerweile durchgedrungen sein, daß das Verschwinden des Ostblocksozialismus nicht zu einer Welt des Friedens und der Gerechtigkeit geführt hat. Die ärmsten Länder der Erde sind ärmer als vor zehn und zwanzig Jahren, und es sind noch ein paar neue hinzugekommen. Es gibt mehr Kriege, mehr Unterdrückung, mehr Armut und mehr Elend auf dieser Welt als vor 1989. IWF, Weltbank und andere Organisationen haben als die Inkassounternehmen des weltweit operierenden (Finanz-)Kapitals arme Schlucker am Kragen, denen das Wasser ohnehin schon zum Hals steht. Per se ist das nichts wirklich neues, nur die Beschleunigung dieses Prozesses und seine geografische Verschiebung bis an die Grenzen der ersten Welt hin (und darüberhinaus) lassen eine neue Qualität erkennen. Im Vergleich zu dem raketenbewehrten Gleichgewicht des Schreckens zwischen einem gezähmten und gehandicappten Kapitalismus auf der einen und einem versteinerten Staatssozialismus auf der anderen Seite sieht die Welt von heute erstaunlich unattraktiv aus.

Von Deutschland aus gesehen beginnt die dritte Welt jetzt hinter der polnischen Grenze. Auf dem Balkan, der nach dem Untergang des Ostblocks zur Plünderung freigegeben wurde, läßt die Festung Europa - mal im Einklang mit, mal in Konkurrenz zu den USA - ihre Muskeln spielen. Eine neue imperialistische Supermacht Europa ist im Entstehen, die sich ihren Anteil am Kuchen sichern will, und Deutschland beansprucht innerhalb dieser Supermacht eine Führungsrolle. Tausende deutsche Soldaten, die zusammen eine echte kleine Kolonialarmee ausmachen, stehen im Ausland. Die gesamte Bundeswehr wird zu einer weltweit handlungsfähigen Interventionsarmee umgebaut, und man ist sich nicht zu fein, den Grund dafür laut und deutlich auszusprechen: Der Nachschub und die Verwertungsbedingungen für die deutsche Wirtschaft sollen, wenn nötig mit aller Gewalt, gesichert werden.

Gleichzeitig geht mit diesem Prozeß der Sicherung und Verschärfung der kapitalistischen Weltherrschaft etwas wirklich Neues innerhalb der reichen Länder einher. Zum ersten Mal sinkt in der ersten Welt der Lebensstandard einer überwältigenden Mehrzahl der Bevölkerung. Das läßt sich nicht nur ablesen an den sinkenden Reallöhnen, oder an der Tatsache, daß ganze Regionen durch den Niedergang der Montanindustrie auf dem Abstellgleis deponiert werden. Auch die sekundären Auffangmechanismen, das Netz, das seit Bismarcks Sozialgesetzgebung die extremen Härten eines ungebremsten Kapitalismus auffangen sollte, wird immer dünner. Renten, medizinische Versorgung, Kinderbetreuung, alles, was in sozialer Hinsicht Geld kostet, wird Schritt für Schritt abgebaut. Komplementär dazu greift ein brutaler Sozialdarwinismus um sich, der allen den Untergang verheißt, die nicht absolut allein auf sich gestellt in einer soziotxischen Umgebung überleben können. Das betrifft nicht nur traditionell antisoziale Gesellschaftsstrukturen wie die der USA, sondern auch Westeuropa. Mittlerweile können sehr viele Menschen in den "reichen" Ländern Europas am eigenen Leib erfahren, wie ein Kapitalismus agiert, der sich seiner Sache ganz sicher ist.

Es bedarf keiner Verschwörungstheorien, um die Konzertiertheit dieser Entwicklung zu konstatieren. In der Tat sind die sozialen Einteignungsprozesse, die beim Aufbau der Festung Europa vor sich gehen, so exakt aufeinander abgestimmt wie ein Uhrwerk. Im Effekt bedeuten diese Maßnahmen die Aufkündigung des sozialdemokratischen Klassenkompromisses, der zumindest in den drei Führungsmächten Europas (Frankreich, England, Deutschland) fast fünfzig Jahre lang gegolten hat. (Die "Sozialdemokratie" verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht als eine bestimmte Partei, sondern als eine Strategie, die durch beschränkte Umverteilung gesellschaftlich erwirtschafteten Werts die Unzufriedenheit der Lohnabhängigen dämpft und auf diese Art "soziale Ruhe" erzeugt). Ironischerweise wird die Aufkündigung des besagten Klassenkompromisses in den drei europäischen Führungsmächten politisch von Sozialdemokraten (im Sinne der Parteizugehörigkeit) beglaubigt. Das lange Jahre durch die Systemkonkurrenz mit dem Staatssozialismus gehemmte Kapital trampelt über die Erde wie ein Elefant, der endlich aus seinem Gehege darf, und es ist ihm dabei auch egal, ob der Porzellanladen der "sozialen Marktwirtschaft" in Scherben fällt.

Mit einem Wort: die Klassenspaltung zwischen den Besitzern von Produktionsmitteln, die fremde Arbeitskraft verwerten können und den Nichtbesitzern von Produktionsmitteln, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen (oder selbst das nicht mehr können, weil sie nicht gebraucht werden), wird verstärkt, indem die sozialen Institutionen, die sie verschleiern sollten, vernichtet werden. Was noch Ende der Achtziger Jahre von den Gewerkschaften zögerlich als "neue Armut" beschrieben wurde, betrifft heute ein ständig sich erweiterndes Segment der Gesellschaft, und wird von den Herrschenden achselzuckend hingenommen.

Es bedarf wiederum keiner Verschwörungstheorie, um diese Gelassenheit der Herrschenden im Umgang mit der Verelendung unter ihren Augen auf ihr solides Vertrauen in einen gut geölten Sicherheitsapparat zu beziehen. Sie rechnen einfach damit, jederzeit Herren der Lage zu sein. Es ist kein Zufall, daß die willentliche Verschärfung des Klassenantagonismus mit einem rasanten Ausbau der Sicherheitskräfte und einem rasanten Abbau der demokratischen Rechte einhergeht. Juristische, polizeiliche und strukturelle Residuen aus älteren Repressionswellen, von den Notstandsgesetzen bis zu § 129a, von polizeilicher Präventivhaft bis zu Sondereinsatzkommandos wachsen in einer perversen Form von "Natürlichkeit" mit den Methoden der High-Tech zu einem schreckenerregenden Gesamtbild zusammen. Der Alptraum von Genua war vor dem Hintergrund dieser Entwicklung weder Exzess noch Ausnahme, sondern die Antrittsvorlesung der Festung Europa in Sachen "Menschenrechte" und "innere Sicherheit": Ausreiseverbote, grenzübergreifender Informationsaustausch, ein polizeilich-militärischer Sicherheitsapparat, der aussieht wie eine Roboterarmee und auch so handelt. Die Wirklichkeit gibt sich alle Mühe, wie unsere alten Vorhersagen auszusehen.

Gar nichts mehr zu melden haben die Hungerleider, die es als Flüchtlinge noch in die erste Welt schaffen. Nach einer sehr wirkungsvollen Triage, die ihre Unterscheidung in nutzlose, weniger nützliche und sehr nützliche Fremde zur Folge hat, werden sie in einem sozialen Setzkasten untergebracht, der für jede Art von ihnen ein Fach frei hat: Vernutzung als Illegale, Duldung, Sofortabschiebung, Abschiebehaft, oder gar Aufnahme in den erlauchten Kreis des zu integrierenden Nutzviehs, dem eines Tages möglicherweise sogar die Chance eröffnet wird, vom Stall ins Wohnzimmer zu wechseln, ein Bürger zu werden, d.h. ein staatlich verbriefter, vollwertiger Mensch. Bis dahin ist die Menschlichkeit des Flüchtlings Ermessenssache der Ausländerpolizei, des inländischen Nachbarn, des inländischen Passanten auf der Straße, und kann aufgrund des kleinsten Vergehens, der kleinsten Auseinandersetzung oder aus gar keinem Grund storniert werden. Je dunkler die Haut, desto schlechter die Chancen, in den Augen der Inländer ein Mensch zu sein. Im Alltag gelten für die vorläufigen Menschen Vorschriften wie z.B. die Residenzpflicht, die völlig zu Recht mit den Passgesetzen Südafrikas zur Apartheid-Zeit verglichen werden.

Die Inseln der Seligen drohen also unterzugehen. Ein Teil der Seligen, die unvermutet das Wasser über ihren Köpfen zusammenschlagen sehen, in dem Millionen andere schon ertrunken sind, verwandeln sich umstandslos in Bestien. Man hat zurecht darauf hingewiesen, daß Arbeitslosigkeit allein kein Grund für den Neofaschismus sein kann, in der Tat ist immer wieder beobachtet worden, daß die Nazigruppierungen sich überhaupt nicht so sehr aus den klischeebeschworenen arbeitslosen, frustrierten Jugendlichen zusammensetzen, sondern zu einem guten Teil aus Facharbeitern, Bürgerlichen und Akademikern. Es ist nicht so sehr die akute Armut, die die verstörten Erstweltler gegen "die Ausländer" geifern läßt, sondern die Angst vor ihr. Kleine Herrenmenschen, verunsicherte Arbeiteraristokraten, aussichtslose ABM-Akademiker befürchten ihre Deklassierung und halten nach den Opfern Ausschau, die straflos dafür verantwortlich gemacht werden können. Der Neofaschismus reagiert auf eine Kränkung, die erst noch kommen muß, daher seine grundsätzlich paranoide Geisteshaltung. Der Feind ist überall, vor allem aber dort, wo man in einem Akt wohlkalkulierten und -orchestrierten Volkszorns hinschlagen kann, ohne viel Gegenwehr befürchten zu müssen: bei den Fremden, die ohnehin niemand mag, bei den Juden, die man gern noch einmal vergasen würde, bei der Linken, die im Volk schiwmmt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die offzielle Politik gibt ihren inoffiziellen Standartenträgern recht. Die gleiche Polizei, die Linke zu blutigen Klumpen zusammendrischt, wenn sie protestieren, eskortiert den rechten Abschaum durch die Innenstädte, damit er dort das herausbrüllen kann, was die Regierung erst im nächsten Jahr zum Gesetz machen will.

Hölderlin behauptete: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Wenn ich das richtig verstanden habe, war Marx der Ansicht, daß der Kapitalismus auf jeder Stufe seiner Entfaltung naturnotwendigerweise seinen Antagonisten erschaffe. Zu Marxens Zeiten war das das Industrieproletariat. Wer könnte es heute sein? Auftritt die Antiglobalisierungsbewegung.


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IV Die Allianz Linker Strömungen ohne Organisation (ALSO) und ihre Freunde

Die Antiglobalisierungsbewegung existiert nicht. Was existiert, ist ein Bündel unterschiedlichster Bewegungen mit den unterschiedlichsten Anliegen und Ausdrucksformen, die keineswegs alle an einem Strang ziehen. Die Allianz Linker Strömungen ohne Organisation (ALSO) braucht nicht gespalten zu werden, sie ist es. Ihre Bezeichnung als "Antiglobalisierungsbewegung" ist ein sozialer Branding-Prozeß, der hauptsächlich über die Medien vermittelt wird und mit der Realität soviel zu tun hat, wie die Werbung zu einem Sportschuh mit dem Sportschuh. Daher ist es natürlich auch nicht korrekt, dieses konfuse Bündel an Bewegungen mit dem derzeitigen Hauptantagonisten des Kapitalismus in seiner globalen Entfaltung gleichzusetzen, in mancher Hinsicht ist es schlicht falsch.
Denn während manche dieser Teilbewegungen (interessanterweise vor allem die reaktionärsten) tatsächlich im Wortsinn Front gegen eine Globalisierung machen, die auch die letzten Winkel präindustrieller Wirtschaftsweisen mit dem ätzend hellen Licht kapitalistischer Wertschöpfung ausleuchtet, war Marx FÜR die Globalisierung. Eben WEIL seiner Ansicht nach der Kapitalismus nicht anders kann, als seine eigene Totengräber zu produzieren, ist die Voraussetzung für die Überwindung des Kapitalismus sein vorhergegangener Sieg. Marx war kein Freund der Subsistenzwirtschaft und kein Anhänger ruraler Idyllen in Selbstverwaltung. Ohne den weltweiten Triumph des Kapitalismus war für ihn an seine endgültige Niederlage nicht einmal zu denken.

Diese Theorie, wörtlich und buchstäblich genommen, hat angesichts der Praxis der Globalisierung einen gewaltigen Haken. Sie interessiert sich nämlich nicht für die Späne, die beim Hobeln anfallen. Theoretisch müßte man indischen Kleinbauern nach dieser Theorie davon abraten, sich selbst in Kollektiven und Kommunen zu organisieren, die auf dem Land in ursprünglich "kommunistischer" Weise Subsistenzwirtschaft betreiben, denn sie gehen dadurch nicht in den Prozeß um den Kampf zu Eroberung der politischen Macht und der Produktionsmittel ein, sondern errichten sich im besten Fall einen umzäunten Garten, in dem sie auskömmlich leben können, während draußen die Auseinandersetzung tobt (sie tun also das, wovon deutsche Wagenbürger träumen). Nimmt man Marx hier wörtlich, müßte man türkischen Opfern von Staudammprojekten zurufen: "Auf eure dörflichen, rückständigen Strukturen ist ohnehin geschissen. Was ihr braucht, ist die Herrschaft über den Staudamm und den Strom, den er erzeugt." - "Kommunismus ist Sowjetmacht und Elektrifizierung", wie Lenin so treffend sagte.

Tapfer gesprochen, nur haben die Regionalisierer, "kleinkarierten" Selbstverwalter, Freunde traditioneller Agrarstrukturen und andere, aus denen die ALSO auch besteht (von den indischen Monsanto-Feinden bis zu französischen Roquefort-Freunden) oftmals gar nicht die Wahl, sich kleinteilig zu wehren, zu organisieren, und für den Status Quo zu kämpfen, weil sie sonst vor die Hunde gehen. Deswegen brennen sie den genmanipulierten Nonsens ab, der sie ohne Gegenwehr in eine moderne Form der Leibeigenschaft führen würde. Daß dabei weder Sozialismus, noch die Befreiung der Frau, noch Internationalismus eine Rolle spielen, mag verständlich sein. Trotzdem wäre letztendlich natürlich auch hier zu fragen, worum der Kampf EIGENTLICH geht: um eine zunächst lebenswichtige Erhaltung bisher "funktionaler" Strukturen und Wirtschaftsformen oder etwas nie dagewesenes: den Sozialismus.

Die Frage, wie damit umzugehen ist, daß ein Gutteil der globalisierungskritischen Bewegung in der dritten Welt von religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Vorstellungen getrieben werden, die nicht einmal die Standards der europäischen Aufklärung, geschweige denn die strengen DIN-Normen des "wissenschaftlichen Sozialismus" erfüllen, kehrt auf vielen Ebenen wieder. Sie ist ein ungelöstes Relikt des abstrakten und romantischen Internationalismus, der der linken Bewegung in den Sechzigern und Siebzigern die bittersten Niederlagen beigebracht hat. Vielleicht sind wir heute schlauer und können begreifen, daß nicht jeder, der eine Kalaschnikow zur "nationalen Befreiung" in die Hand nimmt, schon dadurch automatisch ein Verbündeter wird, genauso wenig wie jeder Bauer, der einer von naiv religiösen und vage kommunitaristischen Vorstellungen bestimmte Landkommune beitritt, automatisch dadurch ein reaktionärer Quatschkopf wird.

Eine starke und wirkungsvolle ALSO müßte zum Beispiel in der Lage sein zu erkennen, daß die klerikalfaschistische Form, die der Widerstand der Palästinenser gegen die israelische Besetzung angenommen hat, keineswegs irgendeine "Befreiung" von irgend etwas verheißt, sondern im Falle des Erfolgs eine palästinensische Form des Taliban-Regimes; diese Erkenntnis angesichts der katastrophalen Lage der Palästinenser und der erschütternd dummen und herzlosen offiziellen israelischen Politik klar auszudrücken und auszuhalten, wäre eine kritische Aufgabe der ALSO.


VI Verbündete?

Wenn wir auch heute wissen, daß Kommunismus eben nicht Elektrifizierung plus Sowjetmacht ist, so hatte der Genosse Lenin doch mit einem anderen seiner berühmten Zitate recht. Am Beginn eines Krieges ist das wichtigste immer die Philosophie, und eine philosophische Aufgabe der ALSO ist der genaue Blick und die Einzelfallprüfung, wer wirklich als Bündnispartner in Frage kommt und wer nicht.

Die ALSO wird sich entscheiden müssen, ob sie im Widerstand gegen den Kapitalismus mit Strömungen zusammenarbeiten will, die im Kapitalismus nicht das eigentliche Problem sehen, sondern in seinen Epiphänomenen, z.B. den Schulden. Das starrsinnige Beharren auf einer fiktiven "Regelung", "Eindämmung", "Zähmung" des Finanzkapitalismus von den Wertpapier- und Devisenbörsen bis zum IWF und der Weltbank verkennt teilweise ganz bewußt die Grundlage für die Existenz des Zins- und Schuldsystems, nämlich die kapitalistische Wertschöpfung und die Marktwirtschaft, und das hat durchaus Methode. ATTAC und verwandte Gruppen, die in Regulierungsmaßnahmen wie der "Tobin-Steuer" das einzig wahre Gegenmittel sehen, betreiben im Grunde einen Reparaturbetrieb für die kapitalistische Globalisierung. Es soll ein Kapitalismus mit menschlichem Antlitz werden, ein friedlicher, sozial und ökologisch bewußter Kapitalismus, der auch noch einen substanziellen Spargroschen für die dritte Welt übrig hat. Brot für die Welt, die Wurst bleibt hier.

Passend zur falschen Analyse vom Finanzkapitalismus als Urgrund allen Übels wird eine kleine verschworene Gemeinschaft von elitären Bänkern und Spekulanten als der Drahtzieher des Weltelends ausgemacht (und nicht die die kapitalistische Struktur, das Gewaltverhältnis zwischen Produktionsmittelbesitzern und -nichtbesitzern), und von dieser schon halb wahnhaften Idee ist es nicht mehr weit zu der Vorstellung die Finanzjuden seien unser Unglück. Schon vor Jahren ist darauf hingewiesen worden, daß sich in der ALSO rechtes Gedankengut breit zu machen in der Lage ist, weil dieser Verwechslung des Finanzkapitalismus mit dem Kapitalismus schlechthin nicht Einhalt geboten wird. So können sich dann auch wieder Theorien wie die "Freigeldtheorie" und ähnlicher Unfug etablieren, der mit einer ernsthaften Kritik der Verhältnisse nichts zu tun hat, antisemitische Untertöne besitzt, und Energie von der Bearbeitung des wirklichen Problems abzieht. Es gibt eine starke rechtsradikale Globalisierungskritik, die in einer Bewahrung "traditioneller Strukuren", sozialer und geographischer Immobilität ("Europa der Vaterländer"), und im Kampf gegen die "Plutokratie" die Mittel der Wahl sieht, mit der Globalisierung fertig zu werden. Bezeichnenderweise sieht eine Susan George, die mit ihren Verschwörungstheorien zu den internationalen Finanzmärkten ganze Romane füllt, kein Problem darin, mit solchen Sumpfblüten der Globalisierungskritik zusammenzuarbeiten. Daher sollte die ALSO in Susan George ein Problem sehen.

Wenn alte Bündnisse oder Mißverständnisse sich überlebt haben, wo sind die neuen, die Sinn machen? Oben habe ich geschildert, daß die Überschwemmung der Insel der Seligen zur Barbarisierung eines Teils der Seligen führt, die zu ertrinken fürchten, sprich, zum Neofaschismus. Ein anderer Teil der bisher Seligen wird bereit sein, die wahre Ursache für seine Misere zu erkennen. Insbesondere die deutschen Gewerkschaften sind für ihre systemstabilisierende Wirkung schon lange berüchtigt. Man weiß heute, daß der DGB ein Geschöpf der CIA ist, und daß er seine ihm von der CIA zugedachte Rolle jahrzehntelang wie ein tapferer Zinnsoldat erfüllt hat. Trotzdem wird es auch hier Aktive geben, die einsehen, daß ihr Problem nicht in der "Anwerbung ausländischer Spezialisten (Greencard)" oder in der "billigen chinesischen Massenproduktion" besteht, und die Lösung nicht in unbezahlten Überstunden, um den "Wirtschaftsstandort Deutschland" wieder für die internationalen Großkonzerne attraktiv zu machen.
Daß es bei der sinkenden Bedeutung der Schwerindustrie nicht darum gehen kann, ein Revival der untergegangenen proletarischen Kultur vergangener Jahrzehnte abzufeiern, sollte klar sein, auch wenn das Industrieproletariat keineswegs so obsolet ist, wie manche Soziologen das glauben. Niemand kann Information essen, und man sollte den Leuten nicht auf den Leim gehen, die glauben, daß das Internet in seiner letztem Ausbaustufe als totales Informationsweltnetz als letzte Industrie übrigbleiben wird. Trotzdem ist bei nüchterner Betrachtung wahrscheinlich, daß sich die IT- und Kommunikationsindustrie zu DER strategischen Industrie neben den klassischen Industrien und einer industrialisierten Landwirtschaft entwickeln wird.
Ein in den Krisenzyklen der modernen IT-Wirtschaft unweigerlich entstehendes IT-Proletariat könnte durchaus einen vorzüglichen Bündnispartner für die ALSO abgeben. Man muß dabei nicht einmal an destruktive Aktionsformen wie politisches Hacking oder gekonnte Beschädigung von Hardware denken. Schon allein das Herausfinden, Verteilen und Aufbewahren von Information kann ein politischer Akt sein (das beste Beispiel dafür ist Indymedia selbst). Aber mit Bündnissen in diese neuen Industrien hinein, oder gar mit der Eroberung der Produktionsmittel in diesen Industrien hat sich die ALSO bisher relativ zurückgehalten, auch wenn Initiativen wie Indymedia ein ermutigendes Zeichen sind und auch wenn die Debatte um Linux/Open Source durchaus Perspektiven für eine breite Aneignung der zentralen IT-Produktionsmittel durch die User selbst bietet. Ein im weitergehenden Sinne politisches, sozial bewußtes Linux-Hacking ist bisher kaum zu beobachten. Subversivität im Bereich der Computer beschränkt sich bisher allzu oft auf Dumme-Jungen-Streiche wie das Knacken von DVD-Ländercodes und pubertäres Potenzgeprotze beim Website-Cracking. Ein Bewußtsein von der Notwendigkeit der Massenaneignung dieser Schlüsseltechnologien ist noch so gut wie gar nicht vorhanden.

Bei kleineren, radikalen Arbeiter-Organisationen wie der FAU, linken Jobberinitiativen o.ä. ist das Verständnis um die wahre Natur der kapitalistischen Globalisierung ohnehin vorhanden, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wäre fruchtbar. Die in die Jahre gekommenen europäischen Autonomen haben die radikale Globalisierungskritik Mitte der Achtziger Jahre durch Diskurse über die "Festung Europa", das Schengener Abkommen, Sinn und Zweck des IWF und der Weltbank vorbereitet. Die Texte aus dieser Zeit erweisen sich plötzlich als hochaktuell, um nicht zu sagen visionär, und die ein oder andere Erfahrung im Umgang mit Repression, Polizeitaktik und Medienmacht haben die Aktiven von damals sicher auch noch anzubieten.

Die radikaleren Teile der Umweltbewegung bieten sich als natürlicher Bündnispartner an, weil die Umweltzerstörung heute, in einem noch viel stärkeren Ausmaß als in den Achtziger Jahren, von vielen Menschen weltweit als direkte Folge eines globalen Kapitalismus erfahrbar ist.

Dabei ist streng zu unterscheiden zwischen einer politisch wachen Ökologiebewegung, die die Verflochtenheit ökologischer Probleme mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und seiner staatlichen Absicherung klar im Blick hat, und einem ökologischen Reparaturbetrieb, der ganz ähnlich wie die "Sozialökologen" von ATTAC dem Kapitalismus nur die Ecken abschleifen will, damit er besser in die Landschaft paßt.

Der natürliche Bündnispartner unter den Ökologiebewegungen für die ALSO ist die Anti-Atom-Bewegung, weil die Atomwirtschaft DAS Beispiel für das Ineinander von sozialer und ökologischer Destruktivität ist. Aufgrund ihrer Gefährlichkeit bedarf die Atomwirtschaft wie keine zweite polizeilicher und militärischer Absicherung, und sie produziert gleichzeitig das drängendste ökologische Problem von allen. Das macht sie, zusammen mit den enormen Geldern, die sie verschlingt, zu einem Schulbeispiel für die Fortsetzung einer vernunftwidrigen, antidemokratischen Wirtschaftsweise, deren unmittelbare und langfristige Gefährlichkeit über jeden Zweifel hinaus bewiesen ist. Die alte neue Anti-Atom- Bewegung hat ausgedehnte Erfahrungen mit der staatlichen Repression, kennt sich mit den verschiedensten Möglichkeiten der Aktion und der Gegeninformation aus, und hat immer wieder bewiesen, daß sie sich in kurzer Zeit eine regionale Massenbasis erkämpfen kann. Sie ist, aufgrund des notwendigerweise globalen Charaters einer entwickelten Nuklearwirtschaft, per se Gegner der kapitalisischen Globalisierung; in der Tat hat sich die Anti-Atom-Bewegung schon mit den Auswirkungen von Uranerzförderung und nuklearer Abfallbeseitigung auf indigene Gesellschaften befasst, als die meisten Aktivisten der ALSO noch nicht im Kindergarten waren. Außerdem, und das ist besonders bemerkenswert, hat sie auf praktischer Seite Modelle einer demokratischen, dezentralen Energieversorgung entwickelt, die von dem umweltschonenden Einsatz modernster Technik ausgehen. Im Gegensatz zu den noch kaum erkennbaren sozialen Computertechnikern sind die Ansätze zur Eroberung der Produktionsmittel hier viel weiter gediehen. Nie war die Anti-Atom-Bewegung so wertvoll wie heute.

Eine echte Überraschung ist die Wiederkehr eines hedonistischen, lustbetonten "Hippie-Elements" in der ALSO, das von der "taktischen Frivolität" der Pink-Silver-Blocks bis zu der Ablehnung des pazifistischen Masochismus durch die tute bianche reicht: Der Körper und sein unmttelbares Bedürfnis ist ein Thema in der ALSO, weil die kapitalistische Globalisierung den menschlichen Körper zu etwas zurechthobeln will, was ihm kaum noch gleicht. Gleichzeitig sind die Pink Silver-Aktiven keine unpolitischen Träumer, die von Frieden und Liebe faseln, und dazu eine dicke Tüte rauchen, damit sie es auch glauben. Es ist erstaunlich, Cheerleaders in Silver und Pink rufen zu hören: "Widerstand muß praktisch werden, Feuer und Flamme den Abschiebebehörden." Das Thema vom menschlichen Körper und seinem Bedürfnis wird unmittelbar in Solidarität mit Menschen umgesetzt, die in Folter und Not abgeschoben werden sollen, übrigens ist auch das eine interessante Parallele zu einer der bekanntesten Aktionen der tute bianche, die mit einer erfolgreichen Aktion einst die temporäre Schließung eines Abschiebegefängnisses in Italien erzwangen. (Was absolut nicht bedeutet, daß die tute bianche per se und in toto gut und richtig wären. Es gibt beunruhigende Anzeichen dafür, daß diese Bewegung zu sehr auf ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit schielt, und daß einigen ihrer Anführer der Erfolg zu Kopf gestiegen ist).

An dieser Stelle entpuppt sich die ALSO als eine Bewegung zur Ablehnung des konkreten Schmerzes durch Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung. Die Reclaim-the-Streets-Idee mit ihrer Forderung nach einer Wiederaneignung öffentlicher Räume durch JEDERMANN zeigt in die gleiche Richtung. Wenn es stimmt, daß es in der ALSO einen hedonistischen, körper- und lustbetonten Subtext gibt: wie wäre die Rave- und Technokultur politisierbar, jenseits von bloß negativer Parodie durch die "Fuck-" und "Hateparades", die mittlerweile jede Love-Parade begleiten? Genua hat gezeigt, daß schnell Schluß mit lustig ist, wenn der Karneval politisch wird, wie könnte man dennoch mehr Karneval in die Politik bringen, damit er die Verhältnisse zum tanzen bringt?
Die NGOs haben sich von den radikaleren Teilen der ALSO viel Tadel anhören müssen, und das zu Recht, waren es doch sie, noch vor ATTAc und anderen, die sich mit dem Gegner an einen Tisch setzten und glaubten durch Appelle, Verhandlungen oder politische Einflußnahme eine Veränderung der Verhältnisse erreichen zu können. Prompt wurden sie zu demokratischen Feigenblättern im Sinne der Herrschenden umfunktioniert, die den "Dialog" mit einigen Wohltätigkeitsverbänden als Beweis für ihre Gutmütigkeit ins Feld führten. In einem Akt beispielloser politischer Naivität ließen sie sich sogar zu humanitären Treuhändern von Angriffskriegen umfunktionieren, wie im Falle der NATO-Aggression gegen Restjugoslawien 1999. Andererseits sind die Erfahrungen vieler dieser NGOs unverzichtbar. Wenn die ALSO sichtbar und aktiv bleiben will, wird sie sich mit den Tagesfragen konkreter Solidarität auseinandersetzen müssen, viele NGOs wissen darüber genau Bescheid. Manche von ihnen, wie medico international, sind ohnehin aus den Internationalismus-Debatten früherer Zeiten entstanden, den Wert ihrer mühsamen Arbeit für das Entstehen der ALSO kann man kaum überschätzen.

Es ist mir peinlich, aber Teile der Kirchen sind Bündnispartner. Damit sind natürlich nicht der Klerus an sich oder die religiösen Organisationen als Ganze gemeint, sondern diejenigen Kirchenmitglieder, die Christentum als ein religiös geleitetes Programm zu konkreter Solidarität mißverstehen. Kirchenasyl ist konkrete Solidarität gegen die konkreten Auswirkungen kapitalistischer Globalisierung. Die ALSO wird sich an diesem Punkt damit auseinandersetzen müssen, daß sie sich in einem sinnvollen praktischen Bündnis mit Strömungen befindet, die sie ideologisch aufs Schärfste bekämpfen muß, weil sich organisierte Religion und Befreiung per definitionem ausschließen. Wie dieses Bündnis in gegenseitigem Respekt und ohne gegenseitige Missionierung gestaltet werden soll, ist mir ein Rätsel.

Es geht definitiv nicht darum, wer bei den nächsten Wirtschaftsgipfeln am militantesten auftritt und die schönsten Barrikaden baut oder die meisten Bankfilialen verwüstet). Es geht um die langwierige Organisation sozialer Gegenmacht, die ideologisch und praktisch im Armdrücken mit dem Gegner eine echte Chance hat, und sich nicht darauf beschränkt, ab und zu ein paar Nadelstiche anzubringen. Nur wenn die ALSO bei ihrer Bündnispolitik klug vorgeht, und auf der einen Seite notwendige Spaltungen anerkennt, die auf eine Schwächung, Demoralisierung und Kompromittierung des Widerstands hinauslaufen, und auf der anderen Seite Spaltungen überwindet, die eine gezielte und effektive Widerstandsarbeit verhindern, kann sie ihre Aufgaben lösen. Die erste Aufgabe sehe ich hierzuande vor allem in der täglichen, praktischen Arbeit, die z.B. darin bestehen kann, Abschiebungen und Atomtransporte zu verhindern, soziale Freiräume zu erkämpfen (Hausbesetzungen, Jugendzentren), ideologisch und praktisch die Spielräume des Neofaschismus einzuengen, die Gen-Technologie praktisch und ideologisch zu behindern, wo es nur geht, konkrete soziale Enteignungen durch Privatisierungsprojekte zu verhindern, durch gewerkschaftsinterne und -unabhängige Organisation Arbeitskämpfe als Klassenkämpfe sichtbar zu machen, staatliche Repression durch starke interne Solidarität (Rote-, Schwarz-Rote-, Bunte Hilfen) abzufedern und allgemein in allen denkbaren Bereichen den unüberbrückbaren und sich immer weiter öffnenden Spalt zwischen den haltlosen Versprechungen einer "parlamentarischen Demokratie" auf kapitalistischer Basis und den Interessen der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung deutlich zu machen.

All diesen Teilbereichen eine globale Perspektive zu geben, ist nicht immer einfach, aber leichter, als es je zuvor war. Es kann durchaus sein, daß ein international operierender Baukonzern Eigentümer von Häusern in der Frankfurter Innenstadt ist, die er leer stehen läßt, weil ihm die Mieten in Frankfurt immer noch zu niedrig sind. Der gleiche Baukonzern kann an der niederträchtigen Atom-Exportpolitik der rot-grünen Bundesregierung beteiligt sein, er kann auf seinen Baustellen Lohndrückerei betrieben und die Spaltung der Arbeiter betreiben, indem er ausländische Lohnsklaven vernutzt, die noch weniger verdienen und noch länger arbeiten. Gleichzeitig könnte dieser Konzern als Großnutzer von Zwangsarbeit in der Nazizeit seinen Beitrag zum ohnehin nur symbolischen Entschädigungsfonds schuldig bleiben, er könnte rechtsradikale Schlägertrupps finanzieren, um die Linke auf Trab zu halten, er könnte billige, radonverseuchte Drecklöcher bauen, in die die Proleten abgeschoben werden, die für ihn arbeiten, usw. usf.

Die zweite Aufgabe der ALSO krieje mer später.


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V

Crowd Replication

Das Internet ist das größte Ding seit der Druckerpresse. Ehrlich. Wer weiß, was in der 68er-Zeit Raubdrucke für eine Rolle spielten, und welche Kämpfe später um so lächerliche Dinge wie illegale Radiostationen mit ein paar Watt Sendeleistung ausgefochten wurden, dem ist die Bedeutung eines weltumspannenden Informationsnetzes mit 50 Millionen Nutzern allein in der BRD auf Anhieb klar.
Allerdings bringt die Benutzung des Netzes durch die ALSO auch einige Probleme mit sich. Anonymität ist eine feine Sache, wenn Dinge gesagt werden sollen, die die Polizei nicht gerne hört, aber auch die Polizei kann anonym in Diskussuionsforen, Chats, Newsgroups mitmischen, und sie tut es kräftig.
Was brauchen die Schlapphüte großartige Beschattungs-Szenarien, wenn ihnen ihre Opfer die Informationen frei Haus liefern, weil sie, sei es nun legal oder illegal, Zugriff auf die Server haben, über die der Mailverkehr der Zielpersonen geht?
Eine weitere Gefahr liegt darin, die Massenwirksamkeit des Netzes zu überschätzen. Bei modernen, computeranimierten Filmen spielt oft die Technik der "crowd replication" eine Rolle, die Filmproduzenten den Einsatz unüberschaubarer Statistenmassen erspart, weil die Massen vom Computer aus wenigen Vorlagen geklont werden. Gerade die Anonymität der Benutzer könnte die ALSO zu dem Trugschluß veranlassen, "sie sei überall", obwohl sich dieser Eindruck auf die Tatsache bezieht, daß einige sehr aktive mit x verschiedenen Nicknames im Netz unterwegs sind, und auf diese Weise "crowd replication" betreiben. In dieser Hinsicht, und das war sehr lehrreich, war der globale Aktionstag am 20.8.2001, einen Monat nach dem Tod von Carlo Guiliani, eine Niederlage, denn es zeigte sich, daß die ALSO zwar tatsächlich überall war, daß die Teilnehmerzahlen an den einzelnen Aktionen aber oft - vor allem in Deutschland - sehr gering waren (von der inhaltlichen Schwäche vieler Aktionen ist dabei noch gar nicht die Rede).


VI Rouge et noir

Marxisten haben recht. Sie haben das große Buch gelesen ("Das Kapital") und begreifen deswegen, wie der Wert einer Ware zustandekommt, was ihren Fetischcharakter ausmacht, warum es im Kapitalismus Früh-, Spät- und Nachtschicht gibt, warum Ladendiebstahl schlimmer als Völkermord ist, und vieles andere mehr. Sie haben die Sendung mit der Maus gesehen. Deshalb wissen sie, wie die Löcher in den Käse kommen, das Schiff in die Buddel, das Bild in die Kamera, der Schinken auf den Tisch. Was sie vor allem begreifen, und dieses Wissen haben sie in der Tat 90 % von allen anderen Menschen voraus, ist, daß es in Politik und Gesellschaft nicht darauf ankommt, ob der Kanzler nett ist, ob der Vorstandsvorsitzende Klavier spielen kann, ob es 2 oder doch nur 1,9 % Prozent Lohnerhöhung gibt, ob die CDU regiert oder die Grünen, ob das Geld D-Mark heißt oder Euro, ob Jesus katholisch war oder evangelisch, ob Michael Schuhmacher doch wieder Weltmeister wird oder nicht, sondern einzig und allein darauf, wer die Produktionsmittel hat und die Gewehre.

That's it folks: Zukunft wird nicht aus Ideen gemacht. Erst kommt die Zukunft according to the Bewegungsgesetze des Kapitals, dann kommen die Ideen, die das Ganze so erklären, daß es nicht begriffen wird. (s. Frankfurter Schule "Kulturindustrie", "Verblendungszusammenhang"). In Bezug auf die Globalisierung begreifen sie vor allem, daß dieser Prozeß nicht die fixe Idee einer kleinen Hinterzimmerverschwörung von skrupellosen Onkel Dagoberts ist, sondern der Struktur und der Natur des Kapitalismus entspricht: Er war schon immer so, und das jenseits jeder Frage nach Moral. Kapitalismus ist nicht unmoralisch, er ist amoralisch. Deshalb ist es vollkommen unsinnig, dem Kapitalismus "Gier" oder "Grausamkeit" vorzuwerfen. Auch ein Tyrannosaurus Rex bliebe von solchen Vorwürfen unbeeindruckt, noch würden sie ihn auch nur treffen. Ein Kapitalist versteht gar nicht, was das Elend der dritten Welt ihn angehen sollte, weil das Elend der dritte Welt nicht sein Thema ist. Kapitalisten haben auch das große Buch ("Das Kapital") gelesen, deswegen bestehen sie auf Früh-, Spät- und Nachtschicht. Sie sind keine schlechten Menschen. Aber wenn es Probleme mit der Früh-, Spät- oder Nachtschicht gibt, kommt die Einsatzbereitschaft mit den Maschinengewehren. Sie bleibt solange da, bis Früh-, Spät-, und Nachtschicht wieder reibungslos vonstatten gehen.

Marxisten wiederum begreifen das. Sie rechnen weder mit Gefühlen, noch mit Gnade, noch mit Einsicht. Daher planen die ernsthaften Marxisten die Revolution. Revolutionäre Kommunisten begreifen sich als Antagonisten in einer jahrhundertealten Auseinandersetzung, die vielleicht noch Jahrhunderte andauert. Das macht sie im Verein mit der Tatsache, daß sie Recht haben, manchmal ein wenig schwierig im Umgang. Jahrhundertelange Kämpfe führen, das weiß man, zu schrecklicher Verbitterung, und Marxisten, die ihre Sache ernst nehmen, können daher beängstigend humorlos sein. Weil sie bereit sind, ihr Leben für eine Welt ohne Ausbeutung aufs Spiel zu setzen, erwarten sie das gleiche von allen anderen auch. Weicheier sind ihre Sache nicht. Man muß nur einmal Brechts Ansichten über den Wert unausgesetzten Kampfes, des lebenslangen Kampfes, des Kampfes bis zum Tod hören, um zu wissen, was ich meine, und was war Brecht für ein kluger und humorvoller Mensch im Vergleich zu, sagen wir einmal, Abimael Guzmán. Die Organisationen, die von revolutionären Kommunisten gegründet werden, mögen die unterschiedlichsten Formen annehmen, wenn sie es wirklich ernst meinen, zeichnen sie sich stets durch eine gewisse Unerbittlichkeit aus. Da braucht es schon einen Dandy wie Che Guevara, um die Verhältnisse wieder zum Tanzen zu bringen.

Für Marxisten ist die Politik also kein Spaß, sondern ein Martyrium. Ganz besonders empfindlich reagieren sie auf die Tatsache, daß ihre Revolution schon einmal nicht funktioniert hat, jedenfalls nicht so, wie sie sich das gewünscht haben, und die Realitätsverleugnung kann dann durchaus den Charakter einer Veteranenneurose annehmen: "Im Felde unbesiegt ...". Könnte es sein, daß Marx hier und da unrecht hatte? Wie ist das wohl gekommen mit der Sowjetunion? Hat Stalin seine Opfer wirklich ganz allein umgebracht? Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei? Das sind die Fragen, die einen gläubigen Marxisten in der Schwärze der Nacht wirklich quälen.

Anarchisten hingegen lieben die Freiheit über alles. Herrschaft riechen sie meilenweit gegen den Wind, und die Akademiker unter ihnen haben es in der Erforschung von Herrschaftsstrukturen weit gebracht. Da sie keine Parteizentrale oder Zelle um Erlaubnis bitten müssen, kann ihre Reaktion spontan sein. Das Beharren auf der Wichtigkeit des Individuums macht sie unberechenbar. Als Erben einer radikalisierten Aufklärung wollen sie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sofort und ohne Ausreden. Hochherzig, mit überzogenen Erwartungen an die Menschheit stehen sie da, wie begeisterungsfähige und intelligente Schüler, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Denn während sie viel über Freiheit nachdenken, vergessen sie die ökonomischen Voraussetzungen von Freiheit. Während sie große Hoffnungen auf die freie Assoziation freier Menschen setzen, übersehen sie, daß das nicht reicht. Kleinkommunen eng miteinander verwobener, persönlich miteinander bekannter Idealisten sind schön, wenn sie funktionieren, aber sie sind keine Antwort auf die Frage nach der Alternative zum Kapitalismus, genauso wenig wie eine politische WG die Verwirklichung des Sozialismus bedeutet. Wo es an den ökonomisch-politischen Voraussetzungen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fehlt, soll es der Wille allein richten. Die Ungeduld der Absolutisten der Freiheit macht sie anfällig für den Voluntarismus, der hundert Taler für real hält, nur weil er sie sich vorstellen kann, und den Terrorismus, für den die Geduld eine Sünde ist. Noch schlimmer das Abgleiten in den Individualanarchismus, der sich um andere Menschen überhaupt nicht mehr kümmert. Von der erbärmlichen Selbstverabsolutierung eines Stirner, der ja bekanntlich als Kaufmann scheiterte, weil er nicht rechnen konnte, ist es so weit nicht mehr bis zur Haltung der Faschisten in Pasolinis "120 Tage von Sodom", die sich selbst für die wahren Anarchisten halten, weil sie alles tun können, was sie nur wollen. Im besten Fall bleibt von dem abstrakten Freiheitsbestreben die notorische Quertreiberei über, im schlechtesten das Gegenteil der Anarchie: der Faschismus. Es ist peinlicherweise kein Zufall, das Mussolini seine politische Karriere als Anarchist begonnen hat. Das Ideal der abstrakten persönlichen Freiheit kann sich unter der Hand des Machtmenschen, der in jedem Anarchisten steckt, in das Ideal der totalen persönlichen Macht verwandeln. Sie tanzt zum Schluß auf den Knochen all der anderen, die schon immer wertlos waren: Der hochgebildete Bombenleger in der Pariser Hinterhofwohnnung hat sich in den faschistischen Brüllaffen auf dem römischen Balkon verwandelt. Zwischen der Einsicht Kants, daß die Anarchie "Ordnung ohne Herrschaft" ist, und dem kindischen Beharren darauf, alles tun zu können, was man will, klafft ein Spalt, den manche Anarchisten nicht wahrnehmen. Hätten sie nur die Sendung mit der Maus gesehen und sich um den tendenziellen Fall der Profitrate gekümmert, wäre die Wahrscheinlichkeit für solche politische Blindheit schon geringer.
1872 wurden die Anarchisten aus der I. Internationale entfernt. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß das sinnvoll war, denn Bakunin war ein Spinner. Gleichzeitig kann es keinen Zweifel daran geben, daß dieser Ausschluß all der hochherzigen Spinner aus der Internationale einen bürokratischen, autoritären, hierarchischen Flügel des Sozialismus gestärkt hat, in dem die Saat des stalinistischen Desasters schon angelegt war.


VII Geleitwort

Alle lieben die ALSO. Das kommt daher, daß alle um den Zustand der Welt wissen, der zum Verzweifeln ist. Andere halten die Hoffnung aufrecht, und das ist herzerwärmend, auch wenn man selbst an ihrer Vereitelung arbeitet. Sogar ein wenig Remmidemmi darf dann sein: So ist das halt, wenn die Jungen sich die Hörner abstoßen, und schließlich war man selber auch mal so. Die Klügeren unter den Reaktionären sind sich auch sicher, daß in der ALSO von heute die Manager von morgen heranreifen, so hat man es mit dern 68ern gemacht, so wird es auch mit diesen hier gehen. Schon die Tatsache, daß Teile der ALSO so pragmatisch und realitätsverbunden sind, daß sie gar nichts anderes wollen, als die Verbesserung des ohnehin schon Guten, macht sie so sympathisch für die verständnisvoll lächelnden Sachwalter der extremen Mitte. Die Politik wird eine Frischzellenkur nötig haben, wenn die regierenden Alt-68er in Rente gehen, man muß auch an den Nachwuchs denken. Ein wenig Revolutionsfolklore hat noch keinem geschadet, die Polizei bleibt in Bewegung, die Jugend macht Erfahrungen, die sie später noch gut brauchen kann (vor allem die Erfahrung der Niederlage), das Bauchfleisch der Gesellschaft bleibt geschmeidig.

Keiner mag die ALSO. Jetzt hatte man den Sozialismus besiegt, da bleibt er für einige aktuell. Von allen Gespenstern, die in Europa umgehen, ist die radikale Kapitalismuskritik immer noch das unangenehmste gewesen, man hielt doch die Geisterjagd für beendet? Es ist so peinlich, daß unter den wohlgesitteten, nützlichen und hoffnungslosen Forderungen nach einem Sozialplan für die Welt Farbtöne hervorlugen, die keiner mag: rot und schwarz. Es ist der Extremismus wieder einmal, nicht wahr? Wie unfair, die demokratisch gewählten Regierungschefs der Welt bei ihren kleinen undemokratischen Mauscheleien aufzustören! Wie überflüssig, diese peinlichen und kleinlichen Fragen nach dem eigentlichen Funktionieren der Herrschaft! Wie garstig allein schon der Begriff: Ausbeutung! Auch die Traditionslinke ist verstört: Wir warten seit fünfzig Jahren an Gleis 1 auf den Zug. Haben diese Leute überhaupt eine Bahnsteigkarte? Man hatte sich so praktisch eingerichtet in dem Jammertal seit dem Ende des Staatssozialismus, man wartete auf den belebenden Odem des Weltgeistes: Da er nun kommt, ist man ratlos und überrascht. Aber immerhin wird im ZK schon diskutiert, daß man auf den Zug noch aufspringen kann, wenn die Analyse stimmt. Einstweilen sollen die Jugendorganisationen einmal abfischen, was an Parteinachwuchs zu holen ist, später sieht man weiter.

So viel Liebe, so viel Hass, so viel Verwirrung. Gemessen an dem Blätterrauschen, daß die ALSO erzeugt, könnte man fast auf die Idee kommen, der politische Modetrend des Jahrhunderts bereite sich vor. Oder wir haben uns einen echten Leoparden eingefangen.