Wir haben die Fratze des Faschismus gesehen!

Genua, Italien, Planet Erde, im Juli 2001

Ist das der Faschismus? Mitten in Europa? Mit Unterstützung der ganzen Welt? Manche mögen sagen, Das ist kein Faschismus, da passen die gängigen Definitionen nicht drauf und: mit diesem Begriff muss mensch vorsichtig umgehen.

Ich habe ihn gefühlt, ja ich war mir sicher, so fühlt sich Faschismus an. Als ich mich Samstag Nacht, nach der Räumung der Schule Armando Diaz hinter einem Zelt des Genua Social Forum versteckt habe, voller Angst dort wieder herauszukommen, weil ich nur ganz knapp dem Massaker entkommen bin. In der Schule waren noch zwei Freundinnen, die eine krank von den ganzen Gasangriffen, die andere nur kurz hineingegangen um sie herauszuholen. Wir wollten weg aus Genua, auf das Camp in Nervi, um ein bisschen Ruhe zu haben. Ihr Liebster war bei uns, unvorstellbar, was er gefühlt haben muss als wir die ersten Nachrichten von dieser unglaublichen Terroraktion gehört haben. Wir saßen im Auto, zwanzig Meter vor der Schule, wollten gerade losfahren. Ich sah plötzlich im Halbdunkel die Mörderbande vor dem IMC stehen. Der Weg versperrt. Nichts wie raus hier! Wir sind aus dem Auto gesprungen und die Straße runtergerannt um Distanz zwischen uns und sie zu bringen. Der zweite Reflex war, zurück und helfen. Dann sahen wir um die Ecke, von unten, noch mehr Bullen kommen und sind gerade noch in eine kleine Gasse entwischt. Um unser Leben gerannt! Noch nie vorher habe ich daran gedacht, dass mich ein Bulle umbringen könnte. Da war ich mir fast sicher, wenn die uns kriegen, machen sie uns kalt.

Zum Glück waren ein paar meiner Liebsten da. Nichts war wichtiger in dieser Nacht als die FreundInnen um mich zu wissen. Das gibt Kraft in der größten Verzweiflung und ein bisschen Hoffnung. Wir haben uns versteckt, zuerst unter Büschen in dieser Gasse, dann versucht uns unter Autos zu zwängen. Ein Hubschrauber flog immer und immer wieder über uns hinweg, über den kleinen Hof in dem wir waren. Wir dachten die suchen uns, oder euch. Der Scheinwerfer hat uns nicht gefunden, dazwischen eine knappe Minute um die Position zu ändern oder miteinander zu reden. Ich war mir sicher, die haben Infrarotkameras und werden uns finden. In einer Sackgasse. Ich wollte nicht bleiben, die Lage war zu aussichtslos und ich weiß, dass die Bullen mit statischen Situationen viel besser klarkommen. Also in Bewegung bleiben, vorsichtig! Wir waren acht oder zehn, zum Schluss unter einem Busch zusammengedrängt. Keine Zeit zu diskutieren und ein gemeinsames Vorgehen abzusprechen. So sind wir rausgegangen. Zu Zweit, die schwarze Hose möglichst weit hochgekrempelt und ein buntes Hemd geliehen. Jetzt bloß nicht auffallen.

Auf den Corso Italia, die Strandpromenade. Eine endlose Zeit auf und ab gelaufen, ständig waren wir von Zivis umgeben. Und hatten Angst. Wir haben versucht uns in einer dunklen Treppe zu verstecken, aber was sollten wir tun, wenn sie uns da finden? Besser wieder raus und dahin gehen, wo wenigstens ein paar Menschen waren. Die Reinigungsleute, die die Straße von den Spuren der Samstagsdemonstration gesäubert haben. Konnten wir uns trauen zu einem der offiziellen Plätze zu gehen? Erst einmal gingen wir zu den Zelten des GSF, dort fühlten wir uns ein bisschen sicherer. Dann haben wir uns langsam ans Convergence Center angeschlichen. Über den Strand. Weil da unser Treffpunkt war, am zweiten Beleuchtungsmast. Hinter einer Bude am Strand fanden wir zwei FreundInnen, denen wir weinend in die Arme gefallen sind. Beide waren kurz zur Schule zurückgegangen und erzählten: "Die tragen alle auf Bahren raus". Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, aber manche von euch wird es selber erlebt haben. Jetzt beim Schreiben kommen mir immer noch die Tränen hoch, zehn Tage später.

Gemeinsam sind wir zum GSF-Platz zurückgegangen, uns versteckend vor den Hubschraubern, die jetzt weitere Kreise zogen, und den Strand abgeleuchtet haben. Jetzt eine Knarre, habe ich mir gewünscht, um wenigstens diesen verdammten Hubschrauber abzuschießen, der so unglaublich nah war, vielleicht zehn Meter weg. Ich dachte an Vietnam und an Kurdistan. So muss es sein im Krieg zu leben und so fühlt es sich an. In dieser Nacht waren wir in einem Krieg. Allerdings in einem aus dem wir wieder wegfahren können, wenn sie uns nicht finden. Wir hatten Angst und Hunger und Durst. Jetzt wenigstens eine Kippe haben! Zu zweit sind wir wieder ins Convergence Center um etwas Essbares zu finden. Ein Stück Brot, zwei Flaschen Wasser und drei Kippen konnten wir zusammenschnorren. Die Leute dort, es waren vielleicht dreihundert, saßen um ein paar Feuer herum und es sah fast aus, wie auf einem Picknick. Wir gingen zurück um unsere Beute mit den FreundInnen zu teilen. Wir kletterten über Felsen und versuchten nicht gesehen zu werden. Ein Stück Weg unten am Hafen mussten wir überqueren. Plötzlich, zwei Meter hinter uns, ein Wagen mit Zivis. Ich musste mich selten so zusammenreißen um ruhig weiter zu gehen. Sie blieben stehen, kamen uns nicht nach.

Große Freude über die Zigaretten und Trauer und ohnmächtige Wut. Zu wissen, dass wir nichts tun können (oder hätten wir doch etwas tun können) während da oben ein Massaker passierte. Dann kamen die Panzer die Strandpromenade entlang. Mit ohrenbetäubendem Lärm. Zuerst hielten wir sie für Armeepanzer aber im Nachhinein glaube ich, es waren "nur" Räumpanzer der Assasini. Das hat den Eindruck des Kriegs noch verstärkt. Endlose Kolonnen von Bullenwagen, endlos. Und Krankenwagen, einer nach dem anderen fuhr an uns vorbei. Ein nicht auszumalendes Massaker schien sich da abzuspielen. Uns schien es so, als fahren die auch zum Camp in Alberto und Richtung Stadion Carlini. Die machen alles platt in dieser Nacht. Zitternd vor Angst und Wut legten wir uns unter die Tische in einem der Zelte und haben aus Stühlen eine Barrikade um uns gebaut. Gegen den kalten Wind. An Schlaf war nicht zu denken. Nach endlosen Stunden kam endlich die Sonne wieder heraus und hat es geschafft uns ein bisschen aufzuwärmen. Eigentlich sah alles ganz friedlich aus.

Schließlich haben wir uns getraut zum IMC zu gehen. Das war unproblematisch. Dort haben wir die gefunden, die wir so schmerzlich vermisst haben. Erst einmal alle in den Arm nehmen und sprachlose Freude ausdrücken. Dann die ganze Geschichte dieser Nacht. Die beiden FreundInnen konnten aus einem Fenster der Schule klettern und sind über ein Gerüst entkommen. So viel Glück, wie in diesen Tagen in Genua haben wir wohl noch nie gehabt! Viele einzelne Geschichten, die sich langsam zu einem Bild zusammensetzen, das Unvorstellbare plakatieren. Ich wollte in die Schule gehen um mir selber einen Eindruck zu verschaffen. Alleine bin ich durch die Flure gegangen, in alle Zimmer und musste manchmal stehen bleiben, weil ich keine kraft hatte weiter zu gehen. Die blutige Schleifspur an der Wand der Treppe, umgestürzte Tische, Stühle, eingeschlagene Scheiben und Türen. Alles zerstört. Und die vielen Blutlachen, langsam trocknend. Wer hat hier gewütet? Können Menschen so etwas getan haben? Und warum? Schlafende Menschen überfallen und so zu behandeln, das hätte ich trotz dem Mord an Carlo nicht geglaubt.

Diese Nacht hat mich mehr berührt als alles was vorher passiert ist. Hier waren Terroristen am Werk im ursprünglichen Sinne dieses Wortes. Ob das nun Faschismus ist oder nicht, das sollen andere diskutieren, Terror war es auf jeden Fall, die Carabinieri eine Terroristenbande und diese ganze Regierungsmafia dazu.

Dabei fing alles ganz harmlos an. Wir trafen schon Montag in Genua ein, außer einer Passkontrolle an der italienischen Grenze ist uns nichts Nennenswertes passiert. Kurz zuvor hatten wir in Ciasso (schreibt sich das so?) Menschen von der Fahrradkarawane getroffen, die dort unfreiwillig festsaßen. Als Dreien von ihnen der Grenzübertritt verwehrt wurde, weil sie in Prag registriert worden waren, haben alle gemeinsam beschlossen erst mal nicht weiterzufahren und auf Verstärkung aus Zürich zu warten. Sie haben ein Haus besetzt und wurden wohl ziemlich solidarisch von der Bevölkerung mit Lebensmittel, Getränken und anderen Dingen versorgt. Später, als wir schon längst weg waren, haben die schweizer Bullen das Haus geräumt und einige von ihnen verhaftet. Nach der Freilassung wurde gleich das nächste Haus besetzt. Mit Hilfe der Schweizerinnen wurde später eine Grenzblockade durchgeführt. Wir trafen nach Genua noch einen Schweizer, dem die Bullen dabei den Arm gebrochen haben.

In Genua haben wir uns erst mal in den Camps und Infopunkten umgesehen und zunächst unsere Zelte in Alberto aufgebaut. Es war nicht leicht an Informationen über die nächsten Tage zu kommen, weil die Struktur unübersichtlich war und die Planungen ständig über den Haufen geworfen wurden. Eigentlich zog es uns zu den AnarchistInnen und Autonomen, die sich erstmals zu einem Plenum im Stadium Carlini trafen. Das hat uns nicht gefallen, einerseits weil die Menschen recht unvorsichtig über geplante Aktionen gesprochen haben, nicht auf dem Plenum, aber in den herumstehenden Gruppen, andererseits weil die Stimmung so düster und das Verhalten der TeilnehmerInnen von mackerhaft über unsolidarisch bis militaristisch reichte. Erst während des Plenums gelang es Kontakt mit den AnarchistInnen vor Ort aufzunehmen, die mehr oder weniger schulterzuckend zugaben, keine Vorbereitungen getroffen zu haben und sich auch an den Vorbereitungen des GSF nicht beteiligen mochten. Das ist schon nachvollziehbar, dennoch breitet sich bei uns der erste Frust aus. Waren das unsere Leute, die mit denen wir die nächsten Tage diskutieren und agieren wollten? Irgendwie nicht!

Am Mittwoch haben wir zum ersten mal die Stadt erkundet. Wir konnten uns relativ frei bewegen, haben aber allerlei Kunststückchen anwenden müssen um nicht kontrolliert zu werden. Die Bullen, denen wir dann doch noch in die Arme liefen, haben nur die Pässe angesehen und den Rucksack durchwühlt. TouristInnen eben, den schwarzen Kram hatten wir erst mal verbannt.

Uns wurde relativ schnell klar, dass es beim "Angriff" auf die Rote Zone wohl mehr um symbolische Aktionen gehen würde, die unseren Widerstand demonstrieren und unsere Entschlossenheit. Unser Ziel war trotz allem klar: wir wollten nach Möglichkeit rein. So ganz stimmt das nicht, es gab auch welche, die Angst hatten, wenn wir erst mal drinnen sind, werden die Cops auf uns schießen. Daraus folgt der Entschluß, dass wir uns möglicherweise trennen würden, wenn es tatsächlich so weit kommt.

Zurück im IMC fanden wir ein Plakat eines anarchistischen Kampfkollektivs, das die Invasion der Roten Zone vorbereiten wollte. Erst waren wir nicht sicher, ob es sich um ein Theaterplakat handelt. Wir kamen zu der Einschätzung, das die Sprüche durchaus ernst gemeint waren und da tatsächlich Leute eine militärische Auseinandersetzung vorbereiten. Die wurde dann hinterher aber von den Bullen angezettelt, die DemoteilnehmerInnen hatten überhaupt keine Wahl, bis auf ein kleines Grüppchen schwarz gekleideter Gestalten. Wir sind zur Zeit einfach nicht in der Lage solche Kämpfe quasi auf offenen Feld zu führen, das hätte jedeR klar sein müssen und die Ankündigung der AnarchistInnen bestärkte uns darin, uns mehr am Pink-Silver-Block zu orientieren.

Auf deren Plenum, das in aller Offenheit auf dem Convergence-Center stattfand herrschte eine ganz andere Stimmung: wir tanzen in die Rote Zone. Wohl, weil ich ein pinkes T-Shirt trug wurde ich gleich von einem Kerl im rosa Kleidchen und Nylonhandschuhen aufgefordert doch bei den Radical Cheerleaders mitzumachen. Es wurde betont, dass die ganze Veranstaltung ohne HeldInnen und MackerInnen ablaufen sollte. Solidarität war die Devise, schon bei den ersten Gesprächen. Die wurden moderiert und ein bisschen vorstrukturiert, was den ganzen Ablauf vereinfacht hat. Jeder Redebeitrag wurde in drei Sprachen gehalten und von den Leuten mit Winken (bei Zustimmung), beidhändigen Winken (große Zustimmung) oder selten mal mit den Daumen nach unten kommentiert. So wurde schnell ein Stimmungsbild klar und das Plenum löste sich in die Bezugsgruppen auf um weiter zu reden. Nach zwei Stunden kamen wir wieder zusammen. Die ersten Differenzen zeichneten sich ab. Es gab drei Fragen: wie kommen wir in die Rote Zone, was machen wir, wenn die Bullen uns angreifen und die Dritte fällt mir gerade nicht ein. Einige meinten, den Bullenangriffen am Besten zu entgegnen, indem sie sich hinsetzen und Frieden simulieren, die anderen wollten sich lieber entschlossen zur Wehr setzen. Das lief auf eine Teilung des Blocks hinaus, die später aber eher unbewusst vollzogen wurde, nach den ersten Gasangriffen. Wir fühlten uns wohl bei diesen Leuten, weil sie so solidarisch miteinander umgingen und in diesem Umgang und in ihrem bunten Auftreten die Welt repräsentieren, nach der wir uns sehnen und für die wir bereit sind zu kämpfen. Eine Welt die bunter ist, widerständiger, freier und solidarischer.

Das Konzert von Manu Chao am Mittwoch Abend war ein überwältigendes Ereignis. Vielleicht Zwanzigtausend, die zusammen sangen und durch die Nacht tanzten. Der Eintritt: zehn Mark! Unkostenbeitrag. Obwohl dieser Mensch nichts verdient hat, spendete er noch die Bar Clandestino, in der wir kostenlos Pizza backen konnte, in einem riesigen Steinofen.

Am Donnerstag begannen die Protestaktionen mit einer MigrantInnendemo ab 17.00 Uhr. Wir schlossen uns dem Pink-Silver-Block an und gerieten auch schon mal zwischen Cobas, eine italienischen Basisgewerkschaft. Die ersten hatten eine Sambagruppe, die zweiten einen Lautsprecherwagen mit schöner Musik. Das war, so weit ich mich erinnern kann, meine schönste Demo. Die Stimmung war gigantisch, ein Meer von Fahnen und Transparenten und Menschen (so an die 30.000). Es war eine unglaubliche Energie in dieser Demo und wir waren zum ersten Mal wieder richtig glücklich in Genua. Total ausgelassen und am Ende völlig erschöpft.

Das änderte sich in der Nacht. Unser Camp in Alberto war mittlerweile zum Brechen voll. Bereits am Vortag hatte es einen ersten kleinen Zoff mit Bullen gegeben. Einige Menschen hatten wohl in gesperrten Bereichen der Anlage gepennt und sind von Dorfsheriffs aus dem Schlaf gerissen worden. Es gab Alarm. 30 Sekunden reichten, um aus unseren Schlafsäcken zu kommen, die nötigsten Sachen in den Rucksack zu werfen und dann rannten wir zum Vordereingang um zu sehen was los ist. Nichts! Wieder hinten angekommen, versuchten gerade ein paar Cops auf das Gelände vorzudringen um die flüchtenden Schlafenden festzuhalten. Wir hielten die Tore zu. Ein Mann, der offensichtlich auf dem Camp wohnte, versucht den Fuß dazwischenzustellen. "Das ist mein Land und ich will hier meine Arbeit machen" schrie der Ober-Bulle und "wir sind in friedlicher Absicht hier". Neben ihm standen Andere mit gezogenen Knüppeln. Auf Vermittlung eines Menschen vom Genoa Social Forum (GSF) zogen sie schließlich wieder ab.

Zurück zu Donnerstag: Es verbreite sich die Einschätzung, die Bullen würden möglicherweise versuchen, dieses und andere Camps zu umstellen, um möglichst viele Menschen an der Teilnahme der Freitags-Aktionen zu hindern. Einige wollten sich wohl auf einen gewaltsamen Ausbruch aus dem Camp vorbereiten. Wir hielten das für irrwitzig, angesichts der Anwesenheit von Flüchtlingen und vielen friedliebenden Menschen, die bestimmt keinen Bock hatten in eine militärische Konfrontation zu geraten ohne wenigstens gefragt worden zu sein. Es war nicht möglich mit den "Ausbrechern" zu reden, es war wohl schon zu spät, die meisten schliefen bereits. Wenigstens zwei Menschen zeigten sich betroffen über die möglicherweise entstehende Situation. Wir verließen noch in der Nacht das Camp um im IMC zu übernachten. Noch mehr Menschen schlossen sich uns an. Unser Ziel war nicht Gefechte mit Bullen zu haben, jedenfalls nicht am Camp. Wir wollten zur Roten Zone und wenn es da zu Riots kommen sollte, hätten wir uns das wenigstens so ausgesucht.

Freitag zogen wir los, mit dem Pink-Silver-Block. Wieder in einer unglaublichen Stimmung, trotz der wahnsinnigen Hitze. Viele Leute hatten noch vor der Demo aus den herbeigeschafften Bastelsachen Transparente und Verkleidungen gebastelt und Lärminstrumente. Wir versuchten vom Convergence-Center aus an die südlichen Bereiche des Zauns zu kommen. Das bedeutete erst mal einen riesigen Fußweg, auf dem wir anderen Demo-Gruppen begegneten, die schon bald in erste Riots verwickelt waren. Nahe des Zauns kreuzte eine große Menschenmenge von Attac unseren Weg und versperrte ihn mit Rumsitzen und Blümchen-an-den-Zaun-hängen. Wir saßen fest. Ratlosigkeit machte sich breit. Nach einer Stunde gelang es uns, uns durch die Sitzblockade (zu Blockieren gab es da außer uns nichts) zu schlängeln und wir erreichten in einer Parallelstraße den Zaun. Davor standen vielleicht zwanzig Riot-Cops. Die von vielen als "Weicheier" verschmähten Pinks schoben die Cops ohne weiteres zur Seite. Die mussten sich erst mal zurückziehen. Wir waren da und machten erst mal ein gigantisches Kriegsgeschrei. Unterwegs hatten wir Müllcontainer mitgenommen, auf denen getrommelt wurde. Eine Frau wurde auf die Hände genommen und am Zaun hochgehievt. Sie versuchte dort einen Haken zu befestigen mit dem der Zaun umgezogen werden sollte. Die Bullen quittierten diesen ersten Versuch mit einem Wasserstrahl aus einer Hochdruckspritze auf ihr Gesicht. Die Gasmaske flog zur Seite. Sie blieb oben und schaffte es tatsächlich einen Haken am oberen Ende des Gitters zu befestigen. Jetzt zogen viele Leute am Seil, bis es riss. Schade! Gleich der nächste Versuch, wieder die gleiche Frau, die Bullen wurden langsam nervös. Andere eilten herbei um mit den Deckeln von Müllcontainern die Wasserstrahlen abzuwehren. Ich glaube es ist dieser Frau viermal gelungen da raufzukommen und einen Haken zu befestigen. Leider ohne Erfolg! Ich fand sie aber wahnsinnig mutig und tapfer und außerordentlich bewundernswert. Schließlich wurde es den Bullen zu bunt. Sie schossen Gasgranaten über den Zaun. Beim ersten Mal noch CS. Scheiße, das brennt vielleicht in den Augen! Ich konnte nicht mehr viel sehen, habe mich trotzdem noch nach einer Gasgranate gebückt um sie zurückzuwerfen. Ich rannte ein Stück zurück, um die Augen auszuspülen. Wir hatten noch Wasser verwahrt und extra NaCl-Lösung gekauft. Nach kurzer Zeit ging es mir und den anderen besser und wir gingen zurück an den Zaun. Hinter uns hatten sich die eben vertriebenen Bullen aufgestellt und den Fluchtweg versperrt. Zum Glück gab es daneben noch eine kleine Treppe. Vor den Bullen stand die Sambagruppe und einige andere, um uns den Rücken freizuhalten. Irgendwann tauchten hinter den Bullen eine Menge Leute auf. Sie kamen von oben die Straße runter. Sofort ging ein Gejubel los und die Bullen wurden weggedrängt. Sie beschlossen in ihre Autos zu steigen und wegzufahren. Das fanden, die, die von oben kamen nicht besonders lustig und sind in Seitenstraßen geflüchtet. Also haben die Bullen wieder die Straße versperrt, diesmal mit ihren Autos und fingen an, den Platz von zwei Seiten mit Gasgranaten zu beschießen. Diesmal war es wohl CN-Gas. Die Wirkung jedenfalls viel stärker. Wir erreichten mit Mühe die Treppe und rannten eine schier endlose Zeit bergauf, bis zu einer Stelle, wo kein Gas mehr hinzog. Am Fuß der Treppe standen drei abgefackelte Roller. Wem die wohl was getan haben? Einen von uns hat es ziemlich heftig erwischt. Wir machten uns große Sorgen und beschlossen erst mal auf der Treppe zu bleiben um uns auszuruhen. Wir waren unglaublich kaputt aber noch voller Tatendrang. Egal, wo wir in diesen Tagen waren, als erstes haben wir immer einen Fluchtweg gesucht und meistens gefunden. Das hat möglicherweise unser Leben gerettet. Wir haben gelernt uns wie auf Glatteis in dieser Stadt zu bewegen.

Nach einer Pause zogen wir weiter. Der Platz vor dem Zaun war mittlerweile von Bullen besetzt und es herrschte Picknickstimmung. Leute saßen herum und auch die Bullen waren wieder ganz friedlich.

Das war nicht mehr unser Platz, wir wollten versuchen noch mal an den Zaun zu kommen und hatten unseren Block verloren. Wir machten uns auf die Suche nach anderen Leuten mit dem gleichen Ziel und wurden gleich von einer Passantin vor dem heranziehenden schwarzen Block gewarnt: "Die Hausbesetzer kommen". Aus der Ferne sahen wir schwarze Rauchwolken in immer kürzerer Entfernung. Das sah nicht gut aus. Wir erwarteten jeden Augenblick einen Bullenaufmarsch um das zu beenden. Also verhielten wir uns erst mal abwartend. Dann sahen wir sie, nein, nicht die Bullen, sondern das, was uns als schwarzer Block angekündigt worden war. Vielleicht zweihundert Leute mit Benzinkanistern, Flaschen, die bevor sie zum Molli wurden, mit Schnaps gefüllt waren und aus denen zumindest einige tranken, wie aus Wasserflaschen. Autos wurden angezündet und Plastik-Müllcontainer. Sie entwickelten einen beißenden Rauch, der wohl weitaus giftiger und gefährlicher war als das Gas der Bullen. Aber jedenfalls haben sie ordentlich gequalmt und ich dachte, dass das die Bonzen in ihrem Knast auch sehen würden und so wenigsten ahnen, dass es Widerstand gibt. Wir würden ihnen wohl nicht nahe genug kommen, um es sie auf andere Weise spüren zu lassen. Bonzenkarren gab es da keine und so wurden Kleinwagen angezündet und zerschlagen. Was würden wohl die Menschen denken, denen diese Autos gehören, zum Beispiel so ein kleines Dreirad-Auto? Die Menschen, die uns am Tag zuvor noch zugewinkt haben. Das sah so aus, als würde hier der ganze Widerstand diskreditiert, keine Chance mehr zu vermitteln, warum wir hier sind. Militanz ohne Verstand! Kein Verständnis!

Wir gingen weiter nach Osten, liefen endlose Wege und fanden nicht, was wir suchten. Als wir uns der "Trotzkistenzone" näherten, drehten wir um. Wieder den ganzen endlosen Weg zurück, stundenlanges Laufen in glühender Hitze. Überall sahen wir Brände, in der Stadt verteilt. Irgendwann, ich weiß nicht mehr die Straße, es war jedenfalls da, wo kurz später Carlo Giuliano ermordet wurde, fanden wir wieder eine ansehnliche Menschenansammlung, vielleicht 2-3.000, die unverdrossen eine Absperrung der Roten Zone attackierten. Genau war es nicht zu sehen, die ganze Szenerie lag unter einer gespenstigen Gaswolke. Wir näherten uns der Spitze der Angriffe über eine Brücke. Es war kaum auszuhalten, obwohl die Leute fast alle Gasgranaten auf die unter der Brücke liegenden Bahngleise warfen. Wir gingen immer wieder vor und zurück und ich erinnere mich nur noch schemenhaft an das was passierte. Wir waren noch nicht lange da, als plötzlich die Bullen ausbrachen. Erst kam ein Wasserwerfer und blies den Bereich am Zaun frei. Wir standen gerade wieder auf der Brücke, und die Bullen konzentrierten sich auf die Straße geradeaus. Wir rannten mit vielen Menschen zusammen weg. Ohne Gasmaske waren wir weitgehend handlungsunfähig und außerdem wollten wir sicher nach Hause kommen. Weil wir mit einem Flüchtling zusammen unterwegs waren, haben wir besonders aufgepasst, nicht den Bullen in die Hände zu fallen.

Aus einiger Entfernung haben wir unglaubliche Szenen gesehen. Die Bullen kamen hinter dem Wasserwerfer hergestürmt und knüppelten alle brutal zusammen, die ihnen im Weg standen. Wenn ich brutal sage, dann meine ich nicht die Brutalität, die wir von unseren Bullen kennen. Ich habe schon viele Demos erlebt und schon viele Bullenknüppel gesehen, aber nie etwas vergleichbares. Die waren drauf aus zu morden. Ich sah Leute in eine Einfahrt flüchten, einige Bullen rannten hinter her. Die Bullen kamen wieder raus, die Leute nicht. Ich mag mir nicht ausmalen, was denen passiert ist. Sicher sind sie wie so viele andere im Krankenhaus gelandet und anschließend auf den Folterstationen. Räumpanzer und gepanzerte Wannen rasten in unglaublicher Geschwindigkeit in die Menschen, die in totaler Panik versuchten zu fliehen. Aber rechts war eine Mauer und Gebäude und links ging es sehr tief zu den Bahngleisen runter. Also sind sie gerannt, gerannt, ich weiß nicht bis wo, bald konnten wir sie nicht mehr sehen. Die, die noch rennen konnten.

Wir saßen ziemlich geschockt auf irgendeinem Bordstein herum, als sich das Gerücht verbreitete, es sei jemand erschossen worden. Ich lief umher und fragte alle Menschen, die ich traf, ob sie wohl etwas genaueres wüssten. Zwei Indymedia-Mitarbeiter haben das Gerücht bestätigt. Wie soll ich das beschreiben? Ich weiß es einfach nicht. Während ich schreibe, fange ich schon wieder an zu heulen, weil dieses Gefühl noch so nah ist. Ich wusste nicht, wer dieser Mensch war. Zu der Zeit konnte ich nicht ausschließen, dass es sich um eine FreundIn handelt. Es war ein Gefühl, wie der Tod einer Liebsten. Und Wut, Wut, Wut, Wut, Wut, Wut, und die Gewissheit ich würde nie mehr aufhören zu kämpfen, so lange nicht, bis es eine Welt gibt, in der so etwas mit Sicherheit nicht mehr passieren kann.

Wir gingen dann zum IMC, um uns zu informieren, wortlos, manchmal schreiend und weinend. Überall Gruppen von Menschen, die leise miteinander redeten und das Unfassbare versuchten zu begreifen. Der Tod ist nicht nur ein Meister aus Deutschland!

Abends schliefen wir, von Albträumen geschüttelt auf dem nackten Beton des Convergence-Center. Wir wollten unter Menschen sein, den Lebenden.

Samstag: wir dachten zur Großdemonstration würden nicht mehr Viele kommen, aus Angst. Aber sie kamen. 280.000 wurde in einer italienischen Zeitung später geschätzt. Um die G8 anzuklagen: Assasini, Mörder und wurden schon wieder von den Carabinieri massakriert. Am östlichen Ende des Convergence-Center hatten sich die Bullen aufgebaut. Sie wurden, als die Demo losging, angegriffen. Mit Mollis, mit Steinen und mit bloßen Händen. Sie versuchten, die Lage mit Gasgranaten unter Kontrolle zu bringen. Barrikaden aus Autos brannten und eine Bank und ein Lufthansabüro. Als die ersten Granaten auf den Platz geworfen wurden, schlossen wir uns der Demo an. Die Stimmung war zuerst anders, bedrückt, traurig, nichts mehr von der Begeisterung der Vortage. Aber viele Menschen, entschlossen ihre Anklage vorzubringen und den Widerstand fortzusetzen. Nach einer Stunde, wir sahen am Ende der Demo noch immer Gaswolken, die uns manchmal auch erreicht haben, kam aus irgendeinem der Lautsprecherwagen die Information, der Gipfel sei abgebrochen. Dann begann eine unvorstellbare Party auf den Straßen von Genua, wir haben gejubelt, getanzt und was mensch alles so machen kann. "Genua libera - freies Genua". Wir dachten: "Wir haben gewonnen". Die hauen ab. Was das bedeuten könnte? Was für ein Signal an die ganze Welt!

Daraus wurde nichts. Langsam kam die Gewissheit, dass wir verarscht worden sind und die Stimmung sank tiefer und tiefer. Was für ein unglaublicher Propaganda-Coup. Wir feiern die Party unseres Lebens und ein paar Kilometer weiter, das wurde uns erst später klar, wurden mehr als 100.000 Menschen von den Bullen eingestampft. Niemand hat das gewusst, oder wenn es jemand gewusst hat, wurde es nicht weitergegeben. Der größte Fehler dieser Tage! Wenn wir zurückgegangen wären, hätten wir mit Sicherheit helfen können. Die Bullen in der Zange zwischen so vielen Menschen. Wer weiß, das hätte womöglich noch viel mehr Tote bedeutet. So waren es "nur" ein Paar Hundert Verletzte. Was sich da abgespielt hat, habe ich nicht gesehen, es wurde mir erzählt. Menschen, die in Panik auf den Strand runtersprangen und da liegen blieben, Menschen die über Zäune fliehen wollen und sich auf den Eisenstangen aufspießen, Menschen die zu Hunderten zusammengeknüppelt wurden, verhaftet, gefoltert und erniedrigt. Ich mag mir das nicht mehr ausmalen, ich habe genug gesehen.

Mein Leben nach diesen Tagen ist nicht mehr das gleiche, es hat sich alles verändert. Nach Hause zu fahren und weiter im Alltag herumzugraben kann ich nicht mehr. Genua erfordert eine Antwort, von jedem und jeder, und noch mehr Anstrengung als vorher, um eine Welt zu erschaffen, der vielen Welten und eine Welt, in der so etwas mit Sicherheit nicht mehr passiert. Wir haben viel geredet in den Tagen danach und versucht das Geschehen aufzuarbeiten und überlegt, wie es für uns weitergehen kann. Das Leben und der Kampf gegen das Terrorregime von Regierungen, Konzernen, G8, WTO und diesen ganzen Bastarden. Wir waren uns einig, dass wir kein italienisches Problem zu bewältigen haben, dass dieser Terror auf der ganzen Welt ausgeübt wird und auch bei uns die Repression an Qualität und Quantität drastisch zunehmen wird in den nächsten Jahren. Wir müssen vorsichtiger werden und entschlossener, wir wollen den Widerstand auf eine breitere Basis stellen, weil die s.g. Globalisierung alle Menschen betrifft und wir hoffen, dass sich viele dagegen wehren werden.

Also sagen wir einmal mehr: Ya-basta! Es reicht und jetzt erst recht!

Wir haben die Fratze des Faschismus gesehen und wir haben den Wind der Veränderung gespürt!

Pink lebt!

Aus dem Ya-Basta - Netz, Aachen, Kaltland, Planet Erde