Tina Modotti (1896-1942)

Berichte über die Lage in Lateinamerika

Die Frauen Lateinamerikas
Überall in Lateinamerika, im Bergbau und in den Regionen, in denen Früchte und Zucker angebaut werden, herrscht echte Sklaverei. Ganz schrecklich ist die Lage der Frauen, die rechtlos und unterdrückt sind und die Schwerstarbeit erledigen. Die Frauenarbeit ist billiger als die des Mannes. Darum werden in den Industrieunternehmen, die auf Schwarzarbeit beruhen und in denen keine qualifizierten Kräfte benötigt werden, größtenteils Frauen eingestellt. Das Anwerben verläuft dabei fast in derselben Form wie zur Zeit der Sklaverei.
Auf der Insel Kuba beispielsweise werden die Frauen, wie uns ein Reisender erzählte, direkt bei Auktionen verkauft. Sie werden von den Inseln Haiti und Jamaika geholt, wo Arbeitskraft billiger ist als die örtliche. Auf den Zuckerplantagen Kubas arbeiteten heutzutage mehr als 100 000 Einheimische Haitis und Jamaikas, größtenteils Frauen. Für einen Arbeitstag von 12-14 Stunden verdienen sie 40 Cents (1 Cent entspricht 2 Kopeken). Mit diesem Geld zu leben ist es unmöglich zu leben, es reicht gerade, um nicht zu verhungern.

Spezielle Agenten schleusen die Frauen aus den nahegelegenen Inseln heraus, und zwar nicht nur, um sie an die Auktionshäuser zu verkaufen. Sie organisieren einen regelrechten Handel mit Frauen. die sie bei Auktionen an jeden Interessenten verkaufen - angeblich für Dienste im Haushalt. In der Regel beträgt der Preis für eine Frau 5 Dollar. Aber wenn ein junges Mädchen besonders anziehend ist, kann der Preis bis auf 20 Dollar ansteigen.
In den letzten Jahren der Wirtschaftskrise sind die Löhne nie fast überall gefallen, und wenn die Männer auf den Plantagen Kubas nicht mehr als 2,5 Dollar in der Woche verdienen, ist es einer einzelnen Person unmöglich, eine Frau für 5 Dollar zu kaufen. Daher ist es eine ganz gewöhnliche Erscheinung, wenn drei, vier oder auch fünf Männer sich zusammentun und gemeinsam eine Frau kaufen. Sie muß kochen, waschen und jedem von ihnen als Frau zu Diensten sein.

Das Geschäft des An- und Verkaufs verläuft genau wie in den Zeiten der Sklaverei. Die aus Haiti und Jamaika importierten Frauen werden gezwungen, sich vor den Augen der Käufer auszuziehen. Die Lage der Arbeiterin auf den Plantagen, in Fabriken und Werken, und die Lage der Tagelöhnerin auf dem Lande, die gezwungen ist, von früh bis spät für den Gutsbesitzer zu arbeiten, ist nicht besser. In den Ländern Lateinamerikas wird die Arbeiterin gewöhnlich als Sklavin betrachtet.
Geschlagen und unterdrückt arbeitet die von katholischen Priestern erzogene Bäuerin zusammen mit ihren Kindern vollkommen gratis auf den Feldern der Großgrundbesitzer. Ihre Arbeit wird als Teil der Arbeit ihres Mannes betrachtet, der dafür ein kleines Stück Land, eine Hütte und ein wenig Brot bekommt, um nicht zu verhungern.

Diese unterdrückten eingeschüchterten, an Zwangsarbeit gewöhnten Bäuerinnen sind die Reserve der Arbeiterinnen auf den Tabak-, Zucker- oder Kaffeeplantagen deren Besitzer fast überall amerikanische Kapitalisten sind.

In den letzten Jahren ist die Zahl dieser Arbeiterinnen im Zusammenhang mit dem langsamen Verschwinden der Bauernschaft bedeutend gewachsen. Eine der Gewerkschaften Kubas vereinigt allein 18.000 Frauen; in den Zigarrenfabriken Kubas arbeiten fast nur Frauen, ebenso auf den Kaffeeplantagen.
Diese Arbeiterinnenreserve stellt jetzt die revolutionäre Vorhut der Frauen Lateinamerikas dar. Die dumpfe, nicht klassenbewußte Arbeiterin, die hunderte Jahre lang unter dem Einfluß katholischer Priester stand und in Wirklichkeit dem Kapitalismus dient, beginnt langsam, sich aus ihrer hundertjährigen Unterdrückung und Ergebenheit zu befreien und sieht im revolutionären Kampf gegen ihre Unterdrückung und die Unterdrückung anderer den einzigen Weg zur Befreiung.

Als sich 1926 in Mexiko der Kampf gegen die katholische Kirche zuspitzte, führten die Arbeiter von Jalisco, einer der größten Kohlebergbauregionen Mexikos einen entschlossenen Kampf gegen die Übermacht der Priester. In diesem Kampf waren die Arbeiterinnen und die Frauen der Bergleute sehr aktiv. Aufgrund ihrer Forderungen wunden die Kirchen geschlossen und in Clubs verwandelt, in denen Meetings und Konferenzen stattfanden. Die Frauen selbst entfernten aus ihren Häusern alle Abbildungen von Göttern und Heiligen und schmückten ihre Häuser mit roten Fahnen mit dem Emblem Hammer und Sichel. Kürzlich bildeten bei einem Streik in den Kohleregionen Mexikos die Frauen der Bergarbeiter zusammen mit ihren Männern Streikposten. Standhaft leisteten sie bei allen Zusammenstößen mit Polizei und Militär Widerstand, die herbeigerufen wurden, uni die Streikbewegung niederzuschlagen.

In Kolumbien, Peru und Chile beteiligen sich die Arbeiterinnen genau wie ihre Männer am Kampf gegen die Kapitalisten. Deswegen trifft sie der weiße Terror genau wie ihre Männer. So wurden beispielsweise im November vergangen Jahres in den Salpeterminen Chiles einige Arbeiterfrauen wegen revolutionären Propaganda verhaftet. Sie wurden aus den Betten gerissen und halbnackt durch die Straßen geschleppt. In den Haftanstalten wurden sie mit eiskaltem Wasser übergossen; später waren viele von ihnen sehr krank und manche starben sogar. Die Jüngsten von ihnen wurden von den Soldaten, die sie festnahmen, vergewaltigt. In Mexiko wurden kürzlich vier junge Frauen - Mitglieder der Kommunistischen Partei - festgenommen und in den Militärbaracken untergebracht, wo sie gezwungen wären, mit den Soldaten zu leben.
Die Kinder leiden genauso wie ihre Mütter. Im Dezember 1928, als in den Bananenregionen Kolumbiens 1500 Streikende hingerichtet wurden, kannten die zur Niederschlagung der Streikbewegung herbeigerufenen Truppen keine Gnade gegenüber Frauen und Kindern. Noch Tage später lagen die Leichen der Opfer in den Straßengräben, und die Mütter hielten ihre Kleinen noch immer fest an sich gedrückt.
Ähnliches spielte sich in Peru ab, wo ein Bergarbeiterstreik bestialisch in Blut ertränkt wurde. Die Zahl der Frauen, die wegen Beteiligung am Streik festgenommen wurden, war ebenso hoch -und manchmal sogar höher- als die Zahl der festgenommenen Männer.
Ungeachtet der Verfolgungen, der Folter und der langen Gefängnisstrafen werden die Frauen Lateinamerikas, die den Kampf um ihre Freiheit aufgenommen haben, bis zum endgültigen Sieg keinen Schritt zurückweichen.

Erschienen in Internazionalni Majak, Zeitschrift der MOPR, Rote Hilfe der Sowjetunion, Nummer 6/1931