"Ihr habt sie lebend genommen, gebt sie lebend zurück!"

Der internationale Kampf gegen das Verschwindenlassen

Das Verschwindenlassen ist eine besondere Form der politischen Unterdrückung durch staatlichen Terror. Staatliche, staatliche unterstützte oder geduldete Organe wenden weltweit das "Verschwindenlassen" diese Form der Repression methodisch an.
Menschen die ihre Stimme gegen die herrschende Politik zum Ausdruck bringen, werden entführt. Sie "verschwinden", staatliche Stellen wissen angeblich nichts vom Verbleib der Person, leugnen sie gesehen oder gar festgenommen zu haben. Diese Stellen nutzen verschiedene Taktiken der Verschleierung und Desinformation um die Angehörigen in dieser quälenden Ungewißheit zu lassen. Spätere Nachforschungen der Angehörigen und Freunde werden von staatlichen Stellen beschimpft und bedroht, ihre Nachforschungen mit allen Mitteln blockiert, Festnahmen geleugnet und Außenstehenden der Zugang zu Haftzentren verwehrt. Spezialtruppen und Todesschwadrone entführen und ermorden im Auftrag der Regierung und des Militärs Menschen. Viele von ihnen starben in geheimen Verhörzentren. Nur wenige der Verschwundenen werden tot aufgefunden. Die meisten bleiben verschwunden. Oft stellt sich heraus, daß man sie zu Tode gefoltert oder extralegal hingerichtet. Ihr Verschwindenlassen verschleiert den Mord und bietet den offiziellen Stellen eine willkommene Ausflucht weiterhin jegliche Kenntnis über Schicksal und Verbleib der betroffenen Personen zu leugnen. Für die Angehörigen und Freunde heißt das nicht einmal eine Leiche betrauern zu können, sie in der Ungewißheit über das Schicksal der vermißten Person. Diese Ungewißheit ist tägliche Folter für die Angehörigen, der letzte Rest von Hoffnung, der jeden Tag wieder enttäuscht wird. Das Verschwindenlassen zielt somit gerade auch auf die Angehörigen und Freunde der verschwundenen Person. Die Angehörigen sollen verunsichert werden, denn gerade die Ungewißheit über das Schicksal, über das was mit den Verschwundenen geschehen es ist besonders beängstigend. Das Verschwindenlassen ist eine Warnung an alle anderen politischen oder sozialen Bewegungen, den Mund nicht auf zu machen. Politische Betätigung und die aktive Suche nach den Verschwundenen soll unterbunden werden. Solange es keine letzte Gewißheit über das Schicksal der Verschwundenen gibt, werden sich die Angehörigen hüten die Verantwortlichen zu benennen. So bedeutet Verschwindenlassen auch immer die Straffreiheit für die Täter. Sie handeln im rechtsfreien Raum, gedeckt durch staatliche Stellen, die "nichts wissen", durch Konzerne, die mit schmutzigen Geschäften schmutzige Kriege finanzieren und durch die schweigende Weltöffentlichkeit. Das Verschwindenlassen ist ein internationales Problem und wie viele Repressionsmethoden ein Exportschlager in Länder, in denen der Widerstand gegen Rechtlosigkeit und soziale Ungerechtigkeiten mit Staatsterror niedergehalten werden soll.

In Argentinien ließ die Militärjunta in den Jahren 1976 bis 1983 ca. 30.000 Menschen verschwinden. Bis auf wenige Ausnahmen blieben die Verantwortlichen bis heute unbehelligt oder wurden aufgrund von "Befehlsnotstand" freigesprochen. Der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Militär Alfredo Astiz räumte die Verantwortung für das Verschwinden von 10.000 Menschen ein. Statt einer Anklage wurde er 1997 in den Ruhestand versetzt.

Auch in Kolumbien hat der Staat seine Macht durch gezielten Terror gegen die politische Opposition benutzt. Protest wird mit Verschwindenlassen, Folter und Mord beantwortet und politischer Opposition bleibt oft nur die Flucht ins Exil. In den letzten zehn Jahren wurden 250.000 ermordet, 1.000.000 vertrieben und statisch verschwindet jeden zweiten Tag ein Mensch. In der "Demokratie" Kolumbiens herrschen das Militär, die Drogenmafia und paramilitärische Gruppen. In der Türkei verschwanden allein nach offizieller Statistik zwischen seit dem Militärputsch 1980 bis 1994 über 400 Menschen. Die wirkliche Zahl wird auf 2000 bis 3000 geschätzt. Immer wieder verschwinden Menschen durch zivile oder uniformierte Polizei, Antiterroreinheiten, Kontraguerillas, Geheimdienst und Militär. Die Verschwundenen sind MenschenrechtlerInnen, GewerkschaftlerInnen, JournalistInnen, SozialistInnen und Oppositionelle, die auf dem Weg zur Arbeit, zu einer politischen Veranstaltung auf offener Straße in ein Auto gezerrt oder von zu Hause abgeholt werden.

In vielen weiteren Länder wie Chile, Guatemala, Peru, Mexiko, Algerien, Sudan, Angola, Burundi, Marokko, Ruanda, Indonesien, Philippinen und Sri Lanka beklagen Angehörige und Freunde das Verschwinden politisch aktiver Menschen.

Diese Berichte belegen, daß das Verschwindenlassen ein internationales Problem ist. In vielen Ländern haben sich die Angehörigen organisiert. Bekannt geworden sind die "Samstagsmütter" in der Türkei und die "Mütter der Plazo de Majo" in Argentinien. Der organisierte internationale Widerstand gegen das Verschwindenlassen geht zurück auf die Kampagne gegen das Verschwindenlassen von Hasan Ocak. Hasan Ocak wurde am 21. März 1995 in Istanbul entführt. Die Familie und die Freunde führten eine 55 tägige Kampagne unter dem Motto "Ihr habt ihn lebend genommen, gebt ihn lebend wieder zurück". Mit Besetzungsaktionen, Demonstrationen und Hungerstreiks wurde eine breite Öffentlichkeit erreicht. Nachdem Hasan Ocak am 17. Mai 1995 tot aufgefunden wurde, sollte der Kampf gegen das Verschwindenlassen dauerhaft geführt. Am 27. Mai 1995 nahmen die Angehörigen der Verschwundenen mit der bis heute andauernden allwöchentlichen Sitzaktion vor dem Galatasaray-Gymnasium in Istanbul. Sie sind inzwischen international als die "Samstagsmütter" bekannt.

1996 wurde in Istanbul das International Committe Against Disappearances (ICAD) gegründet. ICAD versucht weltweit Menschen zu organisieren, die gegen die zahllosen Menschenrechtsverletzungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und ihre Auswirkungen, Widerstand leisten. Um Gegenöffentlichkeit herzustellen, veranstaltet ICAD in den Ländern in denen das Verschwindenlassen als Repressionsmittel angewendet wird, Konferenzen. Die "1. Internationale Konferenz gegen das Verschwindenlassen von Oppositionellen durch staatliche oder staatlich unterstützte Organe" wurde schon 1996 in Istanbul durchgeführt. An dieser Konferenz nahmen Delegierte aus vielen Ländern der Erde, sowie GewerkschafterInnen, MenschenrechtlerInnen, Intellektuelle und sowie Angehörige und Freunde von Verschwundenen teil. Auf der 1. Internationalen Konferenz ist die jährliche Durchführung von "Wochen der Verschwundenen" auf der ganzen Welt beschlossen.

Dem Gründungskongreß folgte 1997 ein weiterer in Bogota und in diesem Jahr wird ein Kongreß in Manila unter dem Titel "Verschwindenlassen und andere Formen von Menschenrechtsverletzungen: Die Verschlechterungen durch Globalisierung" veranstaltet. Inzwischen gibt es in verschiedenen Ländern Sektionsbüro von ICAD. Die Organisation will nicht nur "Opferhilfe" leisten, sondern auch die Ursachen, Hintergründe und Methoden der Unterdrückung öffentlich machen, um eine weltweite Ächtung der verantwortlichen Staaten und Konzerne und der betroffenen Bevölkerung Gehör und Gerechtigkeit verschaffen. ICAD sendet Delegationen in Länder in denen Menschen verschwinden gelassen werden, um die Fälle nachzuforschen und den Betroffenen beizustehen. Oft werden in diesen Ländern auch ICAD-Büros von Sicherheitskräften angegriffen und festgenommen. 1999 fand vom 17. bis 21. Mai in Manila die dritte ICADKonferenz gegen das Verschwindenlassen statt. Begleitet wurde die Konferenz mit vielfältigen Aktionen wie Demonstrationen, Veranstaltungen, Sitzaktionen und Protestfaxe in vielen Ländern. An der Konferenz nahmen 53 Delegierte aus Bangladesch, Marokko, Kongo, USA, Peru, Chile, Türkei, Kurdistan, Großbritannien, Niederlanden, Belgien, Deutschland, Frankreich, Schweiz und Philippinen teil. Am letzten Konferenztag verabschiedeten die TeilnehmerInnen eine Schlußresolution zum Thema "Verschwindenlassen und anderen Formen der Menschenrechtsverletzungen: Die negativen Auswirkungen der Globalisierung". "Globalisierung" so heißt es in der Resolution "ist nur ein vornehmes Wort für die neue Weltordnung der imperialistischen Staaten, angeführt von den USA, Japan und denen der EU. Die imperialistische "Globalisierung" ist der Ausbau der Weltbeherrschung durch die kapitalistischen Monopole. Sie ist nicht die Lösung sondern die Ursache für die Verarmung der Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt. Zum Schluß der Konferenz ehrte ICAD alle Revolutionäre, die im Kampf für Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden Opfer durch Verschwindenlassen geworden sind.
Der Kampf gegen das Verschwindenlassen kann nur erfolgreich sein, wenn sich die Öffentlichkeit mit den Verschwundenen und deren Familien und Freunden solidarisiert. Beteiligt euch an Aktionen, Demonstrationen und Sitzaktionen gegen das Verschwindenlassen und spendet!

Kontakt: ICAD Chrysanderstraße 13 21029 Hamburg Tel. 040 72697810
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