Interview mit der Zeitung Devrimci Cözüm (Nov. 1998)


? Können Sie uns die Zeitschrift Devrimci Çözüm kurz vorstellen? Was unterscheidet sie von anderen Zeitschriften?

Die Devrimci Çözüm (deutsch: Revolutionäre Lösung) ist eine sozialistische Zeitschrift, die in der Türkei monatlich erscheint. Sie will die Stimme der Unabhängigkeit, der Demokratie und des Sozialismus in unseren Land zu sein und gleichzeitig diesem Kampf eine Perspektive aufzuzeigen.
In unseren Land gibt es viele Zeitschriften mit diesen Anspruch, und man nennt sie "Sozialistische Presse". Dieser "Sozialistischen Presse" fühlen wir uns auch zugehörig.
Die wichtigsten Besonderheiten die Devrimci Çözüm, von den anderen sozialistischen Zeitschriften in unseren Land unterscheidet, sind folgende:
Der wichtigste Unterschied zu den anderen sozialistischen Zeitschriften, ist ideologisch-politischer Art. Die Devrimci Çözüm kommt aus der Tradition der THKP-C (deutsch: Volksbefreiungspartei- Front der Türkei), die den Klassenkampf in unseren Land entscheidend geprägt hat. Es ist sicherlich nicht möglich, die Politik der THKP-C im Rahmen dieses Interviews vollständig zu erläutern, jedoch kann kurzgefaßt gesagt werden, daß die Politik der THKP-C die Umsetzung der allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus-Leninismus unter den Bedingungen in der Türkei bedeutet.

Eine weitere wichtige Besonderheit unserer Zeitschrift, ist die enge Beziehung zu unseren LeserInnen. Sie ist so stark, daß jede Repression und jedes Verbot, woher es auch kommt, zum Scheitern verurteilt ist. Ganz im Gegenteil; die Solidarität mit uns und die Anteilnahme an unserer Zeitschrift, steigt mit jedem Angriff, dem wir ausgesetzt sind.

Die Devrimci Çözüm hat seit ihrem Erscheinen, weder eine populistische Publikationspolitik verfolgt, noch ist sie zu einem weltfremden theoretischen Diskussionsblatt geworden. Der Sozialismus durchlebt eine schwere Zeit. Die "Neue Weltordnung"-Theorien des Imperialismus und die Niederlagen des Sozialismus weltweit, haben viele sozialistische Zeitungen hin und her gerissen. Einige wurden von den Trümmern dieser Niederlagen erdrückt und haben, auch unter dem ideologischen Beschuß des Imperialismus, ihren sozialistischen und revolutionären Anspruch fallen gelassen und versucht, mit grob volkstümlichen Slogans zu überleben. Einige haben, trotz der großen Umwälzungen, ihre Augen verschlossen, weiterhin die alten Parolen gerufen und versucht diese Zeit zu überbrücken, so als wäre nichts passiert. Die Devrimci Çözüm hat, weder ihren sozialistischen Anspruch und ihre politische Linie aufgegeben, noch die Augen vor den Problemen des Sozialismus verschlossen. Wir sagen auch weiterhin: "Mit all ihren Errungenschaften, Problemen und Niederlagen ist der Sozialismus unser Ziel. Wir nehmen dieses Erbe an und werden es weiterentwickeln. Mit der Wissenschaft des Marxismus-Leninismus werden wir alle Niederlagen in Siege umwandeln und werden das 21. Jahrhundert, zum Jahrhundert des neuen Sozialismus machen."

? Können Sie uns etwas über die Geschichte und die Entwicklung ihrer Zeitschrift erzählen?

Wie wir schon erwähnt haben, kommt die Devrimci Çözüm aus der Tradition der THKP-C, die ihren Ursprung 1971 hat. Ab Dezember 1986 erschien monatlich die legal vertriebene Zeitschrift Yeni Cözüm (deutsch: Neue Lösung). Die Zeitschrift wird 1990 in Mücadele (deutsch: Kampf) umbenannt und erschien zuerst 14tägig, später wöchentlich.
Nach dem Auftreten des Revisionismus innerhalb der revolutionären Bewegung und der Prägung der Zeitschrift Mücadele durch diese Kräfte, wurde die alte Tradition in der im Juni 1993 neu gegründeten Zeitschrift Devrimci Çözüm weitergeführt. Die Devrimci Çözüm ist seit ihrem Erscheinen, den Angriffen von zwei Seiten ausgesetzt.
Auf der einen Seite, wurden wir in unserem Büro mehrmals von der Polizei überfallen, festgenommen, unsere Archive wurden beschlagnahmt, unser Inventar zerstört, jede einzelne Ausgabe der Zeitschrift wird beschlagnahmt und verboten, der Vertrieb zu verhindern versucht und unsere MitarbeiterInnen wurden mehrmals zu hohen Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt.
Auf der anderen Seite, wurden wir von unseren ehemaligen Genossen angegriffen. Diese Menschen, die sich als Revolutionäre und Sozialisten bezeichnen, haben unser Büro überfallen, auf uns geschossen, die Verkaufsstellen der Zeitschrift vor der Polizei aufgesucht und unsere Zeitschrift beschlagnahmt, die im Vertrieb arbeitenden Freunde, die VerkäuferInnen und die LeserInnen unserer Zeitschrift bedroht. Die Druckerei, die trotz der massiven Drohungen, unsere Zeitschrift weiter druckte, wurde von ihnen in Brand gesteckt.

?Eigentlich erscheint die Zeitschrift Devrimci Çözüm in der Türkei legal. Warum wird fast jede Ausgabe trotzdem verboten und beschlagnahmt?

Das Demokratieverständnis der Bourgeoisie hat zwei Normen. Demokratie gilt nur für sie. Ihre Gegner bekommen die Repression und die Verbote zu spüren. In den Ländern, in denen die bürgerliche Herrschaft sicherer zu sein scheint, sind die Grenzen dieser relativen Demokratie breiter gezogen.
Aber in Ländern, wie den unseren, kann sich die Macht der politischen Herrscher nur auf Repression und Gewalt stützen. Mensch stelle sich vor, in der Türkei wäre der 1 Mai-Kampftag der Arbeiterlnnenklasse nicht verboten, die Versammlungs-, Demonstrations- und Organisationsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung wäre gewährleistet, wie könnten unter diesen Bedingungen die Herrschenden ihre Macht sichern? Die Unzufriedenheit und das Mißtrauen der Massen gegenüber dem System ist so tief und groß, daß der exzessive Staatsterrors gegenüber der Bevölkerung notwendig ist, den der Staat fürchtet die Opposition des Volkes auf den Straßen.
Die Devrimci Çözüm wird oft während der Drucklegung von den Staatsanwälten des Devlet Güvenlik Mahkemesi DGM (deutsch: Staatssicherheitgerichte) eingesehen und verboten, bevor die Zeitschrift im Vertrieb ankommt. Manchmal wird die ganze Auflage beim Vertrieb beschlagnahmt. Falls die Ausgabe verboten wird, nachdem sie schon ausgeliefert und an die Verkaufsstellen verteilt wurde, dann wird sie in jedem Laden, Kiosk etc. eingesammelt. In der Türkei ist die Herausgabe einer sozialistischen Zeitschrift gesetzlich nicht(!) verboten. Diese Zeitschrift an die Frau/Mann zu bringen ist jedoch mit so vielen Hürden verbunden, daß generelles Verbot nicht notwendig erscheint.

? Wie kommt die Devrimci Çözüm, trotz der Verbote, an die LeserInnen?

Unsere LeserInnen wissen, daß sie die Zeitschrift an ihrem Erscheinungsdatum kaufen müssen, sonst ist es zu spät. Die Zeitschrift könnte schon am nächsten Tag von der Polizei eingesammelt werden. Dieser Zustand hindert es natürlich, daß die Zeitschrift von neuen LeserInnen gelesen werden kann.
Unsere Zeitschrift kann auch wegen der Drohungen einiger sogenannter "Revolutionäre" (s.o.) gegen Verkaufsstellen nicht ausgelegt und offen verkauft werden. Aus diesen Gründen, wird die Zeitschrift hauptsächlich durch mobile VerkäuferInnen vertrieben. Der Verkauf der Zeitschrift kann nach der offizielle Beschlagnahmung der jeweiligen Ausgabe einfach durch Verfügungen der Polizei an die Verkaufsstellen, verhindert werden. Diese Verbote können natürlich bei unserem Handvertrieb nicht so leicht durchgesetzt werden.

?Die Verbote werden von den DGM ausgesprochen. Könnt Ihr etwas über die Geschichte dieser Gerichte sagen?

Nach der Gründung der Republik Türkei gab es zur Bekämpfung von Volksaufständen in Anatolien und Türkei-Kurdistan, die außerordentlichen "Istiklal Mahkemeleri" (deutsch: Unabhängigkeitsgerichte). Die "SIkIyönetim Mahkemeleri" (deutsch: Ausnahmezustandsgerichte) wurden später als außerordentliche Gerichte geschaffen. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen, sobald die Opposition der Bevölkerung nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist. In Orten, in denen der Ausnahmezustand gilt, werden Ausnahmezustandsgerichte gegründet, die sich u.a. mit Straftaten befassen sollen, die vor und während dem Ausnahmezustand, also auch vor der Gründung der zuständigen Gerichte, begangen worden sein sollen. Nach dem faschistischen Militärputsch vom 12. März 1971 wurden die außerordentlichen Gerichte wieder notwendig. 1973 wurden die DGM durch eine Verfassungsänderung eingeführt. Aufgrund der Proteste, besonders in der Arbeiterbewegung, mußte das Einführungsgesetz zurückgenommen werden. Der faschistische Militärputsch vom 12. September 1980 verankerte schließlich die DGM in der neugeschaffenen Verfassung. Die Verfassung von 1982 erklärt die DGM zum Verfassungsorgan, was eine Ausnahme darstellt und die Staatssicherheitsgerichte schon dadurch gegenüber den anderen Gerichten eine besondere Rolle spielen. Das Staatssicherheitsgericht setzt sich aus Zivil-Militärrichtern und einem Militärstaatsanwalt zusammen und wird trotzdem als ein "ziviles" Gericht angesehen. Die DGM, die als Sondergerichte damit beschäftigt sind die Opposition zu brechen und politische Gefangene abzuurteilen, stellen für uns moderne Inquisitionsgerichte dar.

? Könnt ihr etwas über die letzten Protestaktionen gegen die DGM sagen?

Im Herbst 1998 boykottieren die politischen Gefangenen die DGM. Tausende Gefangene in der Türkei und Kurdistan erscheinen nicht und verteidigen sich nicht vor den DGM, weil sie diese Sondergerichte nicht anerkennen. Außerdem unterstützen die Angehörigen der Gefangenen und verschiedene Organisationen die Proteste der Gefangenen mit Aktionen. Das Ziel des Boykotts und der Proteste ist die Schließung der DGM und die Aufhebung der bisher gefällten Urteile.

? In den letzten Tagen häufen sich die Repressionen gegen Kulturzentren und Zeitungen in der Türkei und Kurdistan. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Besonders nach dem Susurluk-Vorfall, wurde nochmals deutlich, wie tief der Staat mit all seinen Institutionen in Verbrechen, Mafiastrukturen und Korruption verwickelt ist und zerfällt. Das Volk hat sein letztes Vertrauen zum Staat und den politischen Parteien verloren. Die Massen erwarten nun von diesem System gar nichts mehr. Dies hat zur Folge, daß sich die soziale Opposition gegen die Herrschaftsverhältnisse verstärkt.
Der Staat muß im Gegenzug, die Repression und seinen Terror gegen die Bevölkerung steigern. Der Staatsterror hat aber schon so stark gewütet, daß es keine Organisationen und Vereine mehr gibt, die die aufkeimende Opposition auffangen könnten. Die Kulturzentren und KünstlerInnen sind so verstärkt in das Visier des Terrors gerückt. Kultur und Kunst werden unterdrückt, Kinos und Theater werden geschlossen und Musikveranstaltungen verboten. Der Druck auf die sozialistische Presse ist nicht neu, wir waren schon immer das Ziel des Staates, weil wir seine Politik anprangern. Mit dem steigenden staatlichen Terror allgemein wird natürlich auch die Repression gegen uns größer.

? Steht die verstärkte Repression in der Türkei, mit den Parlamentswahlen im April in Zusammenhang?

Nein, man kann diese Entwicklung nicht an die Wahlen knüpfen. Wie wir oben schon geschildert haben, befindet sich der Staat, im allgemeinen das System in einer ausweglosen Situation. je stärker sich die Systemkrise vertieft, desto stärker werden die Angriffe gegen die soziale Opposition. Anders ist der Machterhalt der Herrschenden nicht möglich. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen werden weder die Erwartungen der Herrschenden, noch die des Volkes erfüllen. Das Parlament ist in unserem Land schon lange keine bestimmende Macht mehr, dafür gibt es den Nationalen Sicherheitsrat der Generäle und den zivilen Ministern ihrer Gnaden.

? Was könnt ihr als oppositionelle Presse, gegen die Angriffe und Unterdrückung des Staates unternehmen?

Die soziale Opposition in unserem Land ist geteilt und zerschlagen. Dieser Zustand nützt nur den Herrschenden. Um diese Teilung zu überwinden, gibt es Anstrengungen unter den revolutionären Organisationen. Als oppositionelle Presse wollen auch wir gegen die Angriffe des Staates, gemeinsam auftreten. Die Birlesik Devrimci Basin Platformu (deutsch: Vereinigte Revolutionäre Presseplattform) ist ein Schritt in diese Richtung.

? Was sind die Ziele der Vereinigten Revolutionären Presseplattform?

Kurz gefaßt können wir sagen, daß das Ziel der Plattform daraus besteht, systematisch die politischen Entwicklungen zu verfolgen und gegen die Angriffe, die gegen uns alle gerichtet sind, eine gemeinsame Verteidigungslinie aufzubauen. Außerdem möchten wir in unserem Bereich ein politisches Umfeld des Bündnisses der revolutionären Kräfte schaffen und ohne unsere Unterschiede zu verneinen, gemeinsam zu handeln und die Stimme des gemeinsamen Kampfes unserer Völker zu werden.

? Die Devrimci Çözüm wird auch im Ausland verkauft. Die Zeitschrift wurde im August 1998 in der BRD verboten. Was bedeutet das für Euch?

Es ist offensichtlich, daß es sich dabei um ein politisches Urteil handelt. Wie wir schon erwähnt haben, existiert noch nicht mal in der Türkei ein generelles Verbot der Zeitschrift. Das unsere Zeitschrift in der BRD verboten wurde, ist ein Ausdruck der Existenz unterschiedlicher Normen in bürgerlichen Demokratien. Das Verbot der BRD ist mit Demokratie, Menschenrechten und Meinungsfreiheit nicht in Einklang zu bringen.
Die Pressefreiheit wird als wichtige gesellschaftliche Freiheit hochgehalten, aber sie gilt nicht für alle. Wir werden mit solchen Verboten nicht zum erstenmal konfrontiert, und wir schaffen es trotz alledem die Zeitschrift weiterhin rauszubringen und unsere LeserInnen zu erreichen. Wir werden auch juristisch gegen das Verbot vorgehen und unsere Rechte durchzusetzen versuchen. Aus diesem Grund fordern wir auch unsere FreundInnen in der BRD auf, uns bei unserem Kampf gegen dieses politische 'Verbot zu unterstützen und ihren Widerstand zum Ausdruck zu bringen.

? Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Verbot des BRD-Innenministeriums und der Repression gegen die Devrimci Çözüm in der Türkei?

Es ist sicherlich nicht möglich, wenn man beides als voneinander losgelöste Entwicklungen betrachtet. Was für ein Interesse hätte die BRD an einem Verbot der Devrimci Çözüm. Es handelt sich um eine oppositionelle Zeitschrift, die in der Türkei erscheint. In der BRD leben auch Menschen aus der Türkei und Kurdistan, deshalb hat sie auch dort LeserInnen.
Das Verbot in der BRD, wurde auf Wunsch der Herrschenden in der Türkei verhängt. Diese Entscheidung des Innenministeriums, wurde im Rahmen ihrer imperialistischen Politik gefällt. Die Imperialisten wünschen sich Völker, die sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung nicht wehren. In diesem Punkt sind sich die BRD-Imperialisten mit den Herrschenden in der Türkei und Kurdistan einig.
Die Devrimci Çözüm ist die Stimme der unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Türkei und Kurdistans, darum darf sie im gemeinsamen Interesse der Herrschenden nicht existieren. Wir möchten dieser Politik, gemeinsam mit unseren FreundInnen in der BRD, internationale Solidarität entgegensetzen. Wir wissen, daß wir durch unseren gemeinsamen Kampf, unsere LeserInnen in der Türkei, Kurdistan und der BRD auch weiterhin erreichen werden.
Dieses Interview sehen wir auch als ein Ausdruck der internationalen Solidarität und Freundschaft. Wir bedanken uns!

? Wir bedanken uns für das Gespräch.



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