Wettlauf in die Festung: EU-Osterweiterung mit Hindernissen
Osteuropa-AG, Berlin 2001

Die "Rückkehr nach Europa", gilt seit der "Wende" als entscheidendes Transformationsziel im herrschenden Diskurs Ostmitteleuropas. Der Europa-Begriff wird dabei zum Symbol für ein "zivilisiertes" Gesellschaftsmodell, das mit Menschenrechten, Freiheit, aber auch sozialem Ausgleich und Wohlstand für alle verknüpft wird. Nach der vor allem in den Anfangsjahren vorherrschenden idealistischen Rhetorik erhält er aber auch eine politische Konkretisierung: Inzwischen wird die "Rückkehr nach Europa" praktisch gleichgesetzt mit dem vor allem ökonomisch begründeten Beitritt zur EU, der das entscheidende Projekt der politischen Eliten der ostmitteleuropäischen Länder in der zweiten Hälfte der 90er Jahre war und auch weiterhin ist. Dabei wird allerdings auch zunehmend klarer, dass der Kern des "europäischen Einigungsprojektes" weniger der von vielen erhoffte demokratisch und sozial ausgleichende Verbund ist, als der entstehende "europäische Wettbewerbsstaat", dessen Konturen wir hier nur ganz kurz umreißen können:
Durch De- und Reregulierung, Privatisierung und die Durchsetzung des Vorrangs finanzieller Stabilität soll Europa in der globalen Standortkonkurrenz "fit" gemacht werden. Allerdings beruht das Europa-Projekt nicht ausschließlich auf Marktfreiheiten. Zum einen erhält die EU entgegen der Freihandelslogik protektionistische Handelsbeschränkungen aufrecht, die es Nichtmitgliedern erschweren, ihre Produkte in die EU zu importieren - die ökonomische Variante der "Festung Europa". Zum anderen dienen Maßnahmen wie Fördertöpfe für Struktur- und Regionalpolitik als partieller Ausgleich für den verschärften Wettbewerb und zur Herstellung von Konsens unter der Bevölkerung. Dennoch sind auch diese letztlich nach der Logik der Modernisierung für den Wettbewerb ausgerichtet. Zur ökonomischen Modernisierung soll auch die europäische Innovations-, Informations- und Infrastrukturpolitik beitragen. Die demokratische und soziale Ausgestaltung Europas bleibt demgegenüber stets zweitrangig und wird vor allem dann aufgegriffen, wenn Unzufriedenheit in verstärkte Ablehnung des gesamten Projektes umzuschlagen droht, wie die neuesten Debatten um eine "stärkere Beteiligung der Bürger am europäischen Projekt" und die periodisch aufflammende Forderung nach einer Stärkung der "sozialen Säule" der EU zeigen.
In dem neu entstehenden "Quasi-Staat" EU (manchmal als "Föderalismus ohne Zentrum" oder "politisches Mehrebenensystem" beschrieben) dominieren die Exekutive (Europäischer Rat, EU-Kommission), Expertennetzwerke (insbesondere im Bereich Repression und Migration, Beispiel Schengener Abkommen) und industrielle Lobby-Gruppen (z.B. der European Roundtable of Industrialists) die Entscheidungen. Der Einfluss des Europäischen Parlaments ist vergleichsweise gering, das weitgehende Fehlen einer europaweiten Öffentlichkeit und europaweit vernetzter handlungsfähiger Initiativen (Gewerkschaften, soziale Bewegungen) reduziert die Möglichkeit, "von unten" zu handeln, drastisch.
Der Stand der Dinge
Die Politik der EU gegenüber Ostmitteleuropa ist eine der selektiven Einbindung auf der Basis ökonomischer Macht und durch das Setzen politischer Bedingungen. Die neoliberale Deregulierungspolitik wird von den ostmitteleuropäischen Ländern übernommen, während ihnen die oben erwähnten - sowieso schon sehr begrenzten und dem Ziel der "Wettbewerbsfähigkeit" untergeordneten - Ausgleichsmechanismen vorenthalten werden. Damit wird letztlich die periphere Position der Beitrittskandidaten aufrechterhalten.
Der bisherige Prozess der selektiven Integration lässt sich in drei Phasen einteilen (vgl. auch Bohle 2000):
Assoziierungsphase 1990 bis 1993
Durch verschiedene "Hilfs"-Programme wie PHARE und die sogenannten "Europa-Abkommen" versuchte die EU in der frühen Phase direkt nach dem Umbruch die Transformationsprozesse im eigenen Sinn zu beeinflussen. Ziel war dabei, eine "Rückkehr zum Kommunismus" bzw. das Beschreiten eines wie auch immer gearteten Dritten Weges zu verhindern, und die osteuropäischen Räume als Absatzmärkte zu erschließen und der Kapitalverwertung zu öffnen.
Neben und nach der Auflösung des RGW führte der Aufbau eines "Nabe- und Speichensystems" mit der EU als Mittelpunkt (und Deutschland als Hauptprofiteur) mit zum Zusammenbruch regionaler Wirtschaftsbeziehungen in Ostmitteleuropa. Alle Länder der Region sind inzwischen wirtschaftlich extrem auf die EU bezogen, wobei die meisten ein Handelsbilanzdefizit gegenüber der EU aufweisen, also mehr Waren von der EU kaufen als sie in die EU verkaufen. Dies ist auch auf eine protektionistische Politik der EU in solchen Bereichen zurückzuführen, wo die ostmitteleuropäischen Länder konkurrenzfähig produzieren konnten (wie z.B. Kohle und Stahl oder Agrarprodukte).
Gleichzeitig führten Anfang der 90er Jahre Debatten über "Migrationsfluten" aus dem Osten zu ersten Überlegungen, die an die EU angrenzenden Länder quasi als Vorposten der Festung Europa zur Abwehr von MigrantInnen auszubauen.
Zu diesem Zeitpunkt gab es von Seiten der EU noch keine konkreten Vorstellungen in bezug auf einen Beitritt. Allerdings wurde in der EU-Politik schon sehr früh ein Unterschied zwischen Ostmitteleuropa einerseits und der früheren Sowjetunion abzüglich des Baltikums andererseits deutlich, abzulesen z.B. an unterschiedlichen Hilfsprogrammen (PHARE für die einen, TACIS für die anderen), aber auch an unterschiedlichen Verträgen: (Assoziationsabkommen für die einen, Partnerschaftsabkommen mit den anderen). Nicht zuletzt aufgrund des Drängens der ostmitteleuropäischen Eliten auf "Rückkehr nach Europa" leitete dann der EU-Gipfel in Kopenhagen 1993 die zweite Phase der Einbindung ein.

"Heranführungsphase" 1994 bis 1997
Die sogenannten Kopenhagen-Kriterien für einen Beitritt zur EU, die auch heute die Beitrittsverhandlungen determinieren, umfassen vor allem drei Bereiche:
1. "politische Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Respektierung der Menschenrechte",
2. "eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck der EU standhalten zu können",
3. die Übernahme aller bislang in der EU verabschiedeten Gesetze und Regelungen (dies ist der sog. acquis communautaire), wobei bezeichnenderweise zunächst der freie Personenverkehr und die Agrarpolitik ausgeklammert wurden. Dieser Zwang zur Übernahme der EU-Regelungen verhindert die Durchsetzung von auf die jeweiligen Länder zugeschnittenen Strategien einer nachholenden Entwicklung ("one size fits all").
Dieses Konzept der Kopenhagen-Kriterien beschreibt Bohle wie folgt:
"Das Vorgehen der EU lässt dabei eine strategische Selektivität erkennen: Um die Öffnung der osteuropäischen Märkte zu forcieren, beschränkten sich die klar definierten Anforderungen auf die Kernelemente des acquis communautaire, d.h. bestimmte Liberalisierungs- und Deregulierungsnormen des europäischen Binnenmarktes. Andere Kopenhagen-Kriterien wurden demgegenüber nicht konkretisiert". (Bohle 2000: 314)
Damit war grundsätzlich die Möglichkeit des Beitritts zu von der EU gesetzten Bedingungen eröffnet, und von 1994 bis 1996 stellten die heutigen zehn ostmitteleuropäischen Kandidaten ihre offiziellen Beitrittsgesuche. Gleichzeitig wurden die sogenannten Assoziierungs- bzw. Europa-Abkommen geschlossen, deren Funktion sich damit von einer Alternative zur Mitgliedschaft zu einer Vorstufe verwandelte.
Um zu überprüfen, inwieweit die Länder die Kopenhagen-Kriterien erfüllten, erstellte die EU-Kommission umfangreiche Berichte über die politische und ökonomische Lage in den Beitrittsländern, die erstmals 1997 veröffentlicht wurden. Im selben Jahr wurde mit der Agenda 2000 auch ein Dokument vorgestellt, das eine "intensivierte Heranführungsstrategie" einleitete.
Ein viertes Kriterium betrifft die Fähigkeit der EU selbst, neue Mitglieder aufzunehmen und dabei die "Stoßkraft der europäischen Integration aufrechtzuerhalten": Es wurde erst in Nizza im Dezember 2000 mehr schlecht als recht erfüllt (siehe unten).
Konkrete Beitrittsperspektiven (seit 1997)
Neben dem Fortbestehen von PHARE und neuen "Instrumenten" wie ISPA und SAPARD sind die sogenannten "Beitrittspartnerschaften" das entscheidende Politikinstrument, mit denen die EU zum zentralen Akteur der ostmitteleuropäischen Transformation wurde. Mit Aufnahme der Beitrittsverhandlungen zunächst mit fünf , später dann mit weiteren fünf ostmitteleuropäischen Kandidatenländern wird der Hebel angesetzt, diese Länder auf ein spezifisches "Reform"-Modell zu verpflichten, das letztlich radikaler ist als das Modell der EU selbst. In 31 Kapiteln müssen die Kandidaten nachweisen, den EU-Anforderungen bereits zu entsprechen oder Übergangsregelungen dazu aushandeln.
Die EU ist damit zum externen Garanten und Motor des "Reform-Prozesses" geworden. Mit dem Argument, Altlasten des sozialistischen Systems zu überwinden, greift sie dabei auch in Bereiche ein, die innerhalb der bisherigen EU noch in die Kompetenz der Einzelstaaten fallen, wie die Sozialpolitik, die Beurteilung des politischen Systems oder auch die Einbindung ins Schengener Abkommen, bevor dieses Teil des acquis communautaire war. Die Fortschritte auf dem Weg dorthin werden in jährlichen "Screenings" (Durchleuchtungen) bewertet.

Während damit die von den Kandidatenländern zu erfüllenden Bedingungen recht klar gemacht wurden, ist bis heute relativ unklar, zu welchen Konditionen die EU Mitglieder aufzunehmen gedenkt.
Entscheidungen über die institutionelle Einbindung der zukünftigen Mitglieder sind beim Gipfel in Nizza zwar getroffen worden, wo u.a. die Anzahl der Stimmen für zukünftige Mitglieder im Europäischen Parlament und im Europarat, sowie die Aufteilung der Posten in der EU-Kommission geregelt wurden. Entscheidende Fragen bezüglich der finanziellen Folgen der Erweiterung sind jedoch auf die lange Bank geschoben worden: Der in Nizza vereinbarte "Fahrplan", der vorgibt, wann welche Kapitel der Erweiterungsverhandlungen auf die Tagesordnung kommen, sieht vor, die strittigsten Punkte am Schluss, d.h. 2002 zu verhandeln. Dies betrifft u.a. Landwirtschaft, Regionalpolitik sowie den Beitrag der Beitretenden zum Gemeinschaftsbudget, also diejenigen Fragen, die am stärksten den EU-Haushalt betreffen (Haushalts- und Regionalpolitik machen 80% des EU-Haushalts aus). Nachdem in Göteborg im Juni 2001 das erste Mal ein konkreter möglicher Beitrittstermin offiziell genannt worden ist, nämlich der 1.1.2003, werden damit diese schwierigsten Verhandlungen im "Schlussspurt" abgeschlossen, wo die EU noch einmal massiv ihre Verhandlungsmacht einsetzen kann. Denn während für die EU eine Verschiebung ohne Probleme verkraftbar bzw. finanziell vermutlich sogar günstiger ist, droht den Regierungen der Kandidatenländer massiver Vertrauensverlust ihrer Bevölkerungen, wenn die versprochene Mitgliedschaft, für die im Voraus viele Belastungen in Kauf genommen werden, nicht endlich eingelöst wird.
Die Osterweiterung kommt, aber zu welchen Bedingungen?
Die jahrelange Frage, ob die EU die Osterweiterung wirklich vollziehen würde, ist damit wohl beantwortet: Die Erweiterung ist im Moment das zentrale Projekt der europäischen Politik. Die Bedingungen bleiben jedoch weiterhin unklar. Die Beitrittsländer wehren sich gegen einen Beitritt zweiter Klasse, während in der EU immer wieder die Diskussionen um ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" aufflackern. Dokumente, die versuchen, den Finanzbedarf der Osterweiterung zu prognostizieren, gehen auf jeden Fall davon aus, dass Bulgarien und Rumänien kurz- und mittelfristig nicht als Mitglieder in Frage kommen, während den anderen Kandidaten nur verringerte Finanzmittel zugestanden würden. So wird diskutiert, den ostmitteleuropäischen landwirtschaftlichen Betrieben keine direkten Beihilfen aus den Töpfen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zu zahlen, weil sie keine Preiseinbußen bei ihren Produkten erleiden würden (dass andererseits die Güter, welche die Landwirte selbst einkaufen, z.T. erheblich teurer werden, spielt da dann keine Rolle). (vgl. Haushaltsausschuss 2001). Der Beitrag, den ein Land aus den Strukturfonds der EU erhalten kann, ist ohnehin seit 1999 auf 4% des BIP des jeweiligen Landes begrenzt - wie praktisch, dass die Beitrittskandidaten nur zwischen 22% (Bulgarien) und 71% (Slowenien) des durchschnittlichen EU-Pro-Kopf-Einkommens aufweisen (Zahlen für 1999 nach Eurostat 2000). Insgesamt ist es wohl nicht falsch zu sagen, dass die EU einen Beitritt der ökonomisch erheblich schwächeren ostmitteleuropäischen Länder zum "Nulltarif" anstrebt.
Angesichts der Erwartungen, die in Mittelosteuropa an einen Beitritt geknüpft werden, kann eine solche Politik jedoch zu Widerständen führen: "Osteuropa dauerhaft eine Mitgliedschaft zweiter Klasse anzubieten und von den Kernbereichen der Integration auszuschließen, ist zumindest riskant. Die Mitgliedschaftsperspektive... erklärt die Geduld, mit der die osteuropäischen Gesellschaften die ökonomischen und sozialen Kosten der Transformation und die Anpassung an die EU auf sich genommen haben. Diese Geduld ist jedoch (...) wie ein Kredit, der zu einem bestimmten Zeitpunkt fällig wird" (Bohle 2000: 325).
Reaktionen in Osteuropa
Trotz der Zumutungen ist die Linie der politischen und ökonomischen Eliten in den Beitrittsländern bisher ungebrochen: der Beitritt muss, möglichst schnell, erfolgen. Für sie ist die EU-Integration auch ein Mittel, um ohnehin geplante Restrukturierungsprozesse zu legitimieren, die anderenfalls vermutlich auf wesentlich härteren sozialen Widerstand stoßen würden.
Allerdings geht in der Bevölkerung die Zustimmung zurück, je klarer wird, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen erheblichen Belastungen ausgesetzt sein werden. Sie schwankt inzwischen - nach bis zu 80% Zustimmung z.B. in Polen Mitte der 90er Jahre - in den meisten Ländern um 50%, d.h. der Ausgang von Referenden, die in der Regel vor dem Beitritt nötig sein werden, ist nicht sicher. Allerdings kann mensch sich auch nur schwer vorstellen, dass eine Mehrheit den Beitritt ablehnen wird: denn erstens sind die meisten "Reformen" zum Abschluss der Verhandlungen sowieso schon vollzogen, zweitens fehlt es an konkreten Alternativen. Immer noch besser innerhalb der Festung Europa peripherisiert, als ganz außerhalb ihrer Grenzen zu bleiben - die Beispiele der Nachbarländer Belarus, Ukraine und Russland regen nicht gerade zur Nachahmung an. Nicht zuletzt darf nicht vergessen werden, dass die Bevölkerungsschichten, die strukturell eher zu den VerliererInnen des Rennens um Wettbewerbsfähigkeit in Europa gehören werden, wie Landwirte und Ältere, sich eher schlechter artikulieren können.

Rückwirkungen auf die EU selbst
Die Erweiterungsdiskussion zeigt andererseits auch Auswirkungen auf die EU selbst: Durch den Druck, die eigene "Beitrittsfähigkeit" zu gewährleisten, konnten einige, wenn auch halbherzige Reformen auf den Weg gebracht bzw. verstärkt diskutiert werden, wie die institutionellen Reformen von Nizza oder die Neuordnung der GAP. Auch die verstärkten Diskussionen um den zukünftigen Charakter der EU (Föderation, Staat, ...) resultieren zum Teil aus dem Erweiterungsprojekt. Zugleich sind die ostmitteleuropäischen Länder auch Experimentierfelder, und die dort durchgesetzten verringerten sozialstaatlichen Leistungen könnten sehr wohl als "Vorbild" bzw. Konkurrenzfaktor für die Altmitglieder dienen.
Problemlagen der Intervention
In den 90er Jahren hatte weder die Linke in Deutschland noch die in Europa dem Projekt des europäischen Wettbewerbsstaates etwas entgegenzusetzen. Zwar gab es schon beim EU-Gipfel in Essen 1994 erste Proteste, aber jenseits eines in Teilen zweifelhaften, weil uninformierten Gipfelhoppings, regt sich bislang wenig effizienter Widerstand. Auch Göteborg war da, trotz erhöhter medialer Aufmerksamkeit und größerer Zahlen von DemonstrantInnen, letztlich keine Ausnahme.
Das einzige Politikfeld im Rahmen der Osterweiterung, mit dem sich linke Gruppen bislang kritisch auseinandergesetzt, dabei Widerstand geleistet und Aktionsformen teils neu entwickelt haben, ist der Kampf gegen den Aufbau der Festung Europa. Die Aufrüstung vor allem der deutschen (aber auch z.B. der spanischen) EU-Außengrenze, die Illegalisierung von MigrantInnen und die Abschiebepraxis vor allem der Lufthansa werden teilweise bis ins linksliberale Lager wahrgenommen und kritisiert.
Nicht viel besser als in Westeuropa steht es um den Kampf gegen das neoliberale Projekt in Ostmitteleuropa. Die oben angesprochene gestiegene Unzufriedenheit führt bisher vor allem zu Widerstand von seiten hauptsächlich nationalistischer und konservativer, aber auch neoliberaler Gruppierungen. Die Kritik letzterer macht sich daran fest, die EU sei "zu viel Staat", was von neoliberalen Dogmatikern wie dem tschechischen Ex-Premier Vaclav Klaus als "Sozialismus" bezeichnet wird. Linke und emanzipatorische Bewegungen haben Mühe, sich von diesen in ihrer EU-Kritik abzusetzen.
Nichtsdestotrotz kann eine Kritik an und Widerstand gegen das neoliberale Projekt der EU nur gemeinsam mit diesen noch marginalen Bewegungen in den Beitrittsstaaten entwickelt werden. Der Kampf gegen den weiteren Ausbau der Festung Europa und die Verlegung ihrer Mauern nach Osten ist dabei genauso wichtig wie die Kritik der sozialen Spaltungen, die die EU-Politik in den Gesellschaften Ostmitteleuropas bewirkt. Vor allem Frauen, Ältere und Menschen aus ländlichen Gebieten bilden die HauptverliererInnen der Transformation, ohne jedoch bisher gemeinsame Kampfformen entwickelt zu haben.
Nicht zuletzt ist es für westeuropäische Linke wichtig zu erkennen, dass in den Beitrittsländern jetzt vielleicht auch Politiken erprobt werden, die später EU-weit Anwendung finden könnten, wie z.B. bei der Privatisierung von Sozialversicherungssystemen. Dabei geht es unserer Meinung nach aber nicht darum, für oder gegen die Osterweiterung zu sein, sondern um die Entwicklung gemeinsamer, fundierter EU-Kritik.
Die Ost-West-Zusammenarbeit ist aufgrund von Sprachproblemen, unterschiedlicher politischer Sozialisation und insbesondere unterschiedlicher Erfahrungen mit und Vorstellungen über "sozialistische" oder "kommunistische" Gesellschaftsmodelle oft nicht einfach. Allein der Gebrauch der Vokabel "links" ist weit davon entfernt, unkompliziert zu sein. Dennoch kann sie Früchte tragen, wenn es gelingt, Kampagnen zu initiieren und Strukturen zu schaffen, die den vorhandenen Ost-West-Gegensatz - der auch und vor allem von Westen aus nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte - produktiv nutzen können: um Schwachstellen und Lücken in der jeweiligen Kritik am herrschenden Gesellschaftsmodell aufzudecken und zu füllen, und um gemeinsam praktische Politik gegen das neoliberale Herrschaftsprojekt EU zu entwickeln.
Das Problem ist nicht die Osterweiterung, das Problem ist die EU selbst.

Literatur:
- Eurostat 2000: Statistics in Focus. The GDP of the Candidate Countries
- Haushaltsausschuss (2001): Arbeitsdokument über die Auswirkungen der Erweiterung der Europäischen Union, Haushaltsausschuss des Europäischen Parlaments, Berichterstatter: Reimer Böge, DT/429362.DE.doc, 11.4.2001.
- Bohle, Dorothee (2000): EU-Integration und Osterweiterung: die Konturen einer neuen europäischen Unordnung, in: Bieling, H-J., Steinhilber, J. (Hrsg): Die Konfiguration Europas: Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie
- Informationsserver der Europäischen Union: http://www.europa.eu.int
- Die EU-Erweiterung: eine historische Gelegenheit (Broschüre der EU)
- EU-Osterweiterung: Wer bleibt übrig?, Schwerpunktheft Ost-West-Gegeninformationen Heft 1/2001, vgl. http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/csbsc/ostwest/index.htm


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