Die Ukraine unter dem Druck des Kapitals - und seiner Abwesenheit
Olga Samborskaya

"Selig sind die, die in der Übergangsperiode vom realen Sozialismus zum irrealen Kapitalismus geboren sind, denn sie werden ihre Erfüllung im Paradies finden".
Aus dem postsowjetischen Katechismus.

Eine Übergangsperiode von 10 Jahren mag für den Begriff "Übergang" als zu langer Zeitraum erscheinen. Unbewußt zwingt die Notwendigkeit einer gewissen Stabilisierung oder der Ankunft von Punkt A aus in Punkt B die EinwohnerInnen der "Transformations"-Länder zu einer entsprechenden Reaktion. Darin bildet auch die Ukraine keine Ausnahme, die nach einem Jahrzehnt des "Auszugs aus Ägypten durch die Wüste auf der Suche nach dem versprochenen Land" versucht zu begreifen, wo sie gelandet ist. Während Präsident Kutschma versucht, seine Ankunft im Punkt B durch die Verstärkung seiner korrupten Diktatur zu bestätigen, bemüht sich die Volksmeinung, sich zu besinnen und tendiert entweder zurück zum Ausgangszustand (der Rückkehr zur kommunistischen Vergangenheit) oder wünscht sich etwas völlig Neues. Das Einzige, was alle vereint, ist das Streben nach Wohlstand, aber einige wollen ihn für alle, andere nur für Auserwählte. Sogar die Methode, um ihn zu erreichen ist universal: ein würdiger Präsident, der aufrecht die nationalen Interessen durchsetzt. Schauen wir uns genauer an, wie die Institution des Präsidentenamtes mit dem nationalistisch gesinnten politischen Auditorium in der Ukraine zusammenpasst.

Das Besondere an der nationalen Frage in der Ukraine

Die nationale Frage war in der Ukraine immer ein heikler Begriff, weil mit ihm sowohl die zentripetale idealistische Liebe zu einem abstrakten Bild der Ukraine als auch die zentrifugale Aufoktroyierung des Internationalismus sowjetischer Prägung verknüpft wurde. Die Liebe wurde allen schon auf der Schulbank eingeimpft, mit der Lektüre ukrainischer Klassiker, die in der Regel an nationalen Ideen "litten" (Schewtschenko, Franko und andere), parallel mit einer detaillierten Auswahl sozialistisch-realistischer Hymnen auf die Arbeit, Partei und das sowjetische Vielnationen-Volk.
Die Vorstellung von Heimat wurde aufgespalten in die unüberschaubare Sowjetunion und die Sowjetrepublik Ukraine, die Mutter und Nährerin. Die enge Beziehung zum Begriff Heimat ist eine Erscheinung, die für die Leute im Westen ein wenig in Vergessenheit geraten ist, für die die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat aufgrund der Stabilisierung der nationalen Zugehörigkeiten und der nationalen Identitäten in Westeuropa schon nicht mehr so aktuell ist.
Aber sie ist nichtsdestotrotz aktuell für die UkrainerInnen, die ihr völlige Unabhängigkeit erst vor 10 Jahren erhielten, mit der Annahme der parlamentarischen Deklaration über die Unabhängigkeit der Ukraine am 28.8.1991.
All diese widersprüchlichen Faktoren haben dazu beigetragen, die nationale Frage zu unglaublichen Ausmaßen aufzublähen, wobei sie in der Regel im Rahmen von Beunruhigung über den russischen post-sowjetischen Imperialismus verharrt. Das führte dazu, daß sie zu dem Hebel wurde, nach dem alle griffen, die sich zu zur Zeit von Perestroika und Glasnost zu politischer Tätigkeit hingezogen fühlten: frühere DissidentInnen, KommunistInnen (die sich daraufhin in National-Kommunisten umetikettierten), Grüne und alle möglichen AktivistInnen, die ihre Position noch nicht genauer bestimmt hatten.
Als das ersehnte Ziel - die unabhängige Ukraine - erreicht war, verschwanden, wie nicht anders zu erwarten, die nationalistischen Diskussionsstränge nicht von der Tagesordnung; der Nationalismus erwies sich als untrennbar von den Ereignissen in der Ukraine. Wie eine alte, schlecht verheilte Wunde, bietet er immer noch Grund für alle möglichen Unruhen, zusammen mit verschiedensten Formen sozialer Unzufriedenheit. Es ist interessant, daß bei der Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Präsidenten Leonid Kutschma in letzter Zeit seine schlechte Kenntnis des Ukrainischen und die Tatsache, daß er offensichtlich nicht dem ukrainischen Image entspricht, eine wichtige Rolle spielt, während sich sein Vorgänger Leonid Krawtschuk, der seine Muttersprache hervorragend beherrscht und seine Schwäche für die ukrainische Küche nicht verhehlte, dieses Images zu bedienen wußte.
Hätte Krawtschuk, der erste gewählte Präsident der unabhängigen Ukraine, nicht den unwiderruflichen Schritt gemacht, das Land von seiner strategischen Stärke - den Atomwaffen - zu befreien, indem er es zum Anti-Atom-Staat erkärte, er könnte glatt Nationalheld der Ukraine sein.

Der alte Mythos von der notwendigen "starken Hand" - ein Faktor zugunsten der Wiederkehr des Totalitarismus

Solange die russische Staatsmacht auf den Kiewer Hügeln regiert, solange wird schon von Generation zu Generation der Mythos von der notwendigen "starken herrschenden Hand" weitergegeben, die zu guter Letzt Ordnung in das ewig von Reibereien geplagte Land bringt und das Durcheinander beendet.
Da Letzteres ein unumgänglicher Begleitzustand jeder der Übergangsperioden war, die die Ukraine in ihrer 1500jährigen Geschichte durchlief, als sie "von Hand zu Hand" mal der türkischen Sultane, mal der polnischen Könige, mal der russischen Zaren ging, wurde der Mythos vom lang erwarteten "Retter" bald in die Volktradition übernommen.
Die Beispiele der autonomen Kosakenrepublik im 17. Jahrhundert mit ihrem maskierten Nationalismus und ihrem Antisemitismus, oder die kurze Periode der Ukrainischen Volksrepublik (1917-20) mit ihrem nicht weniger offenen Nationalismus, der sich später in den offenen Widerstand unter nationalistischen Parolen gegen all potentiellen Besatzer - sowohl hitleristische als auch stalinistische (1939) - auswuchs, impften dem nach einem normalen, guten Leben ausgehungerten Volk den unausrottbaren Glauben an das Glück ihrer "Mutter Ukraine" ein. Das half auch Leonid Kutschma, der entsprechende Parolen ausrief, bei seinem Wahlsieg (1999 - er wurde zwei mal gewählt).
Neben verschiedenen repressiven Methoden und Manipulationen während des Wahlkampfs war ein für ihn positiver Faktor auch eben dieser unerschöpfliche Glaube des Volkes in die "starke gerechte Hand", die das Land aus der Krise führt. Das konnte auch der neu gewählte Präsident nicht ignorieren. Und so wurde die starke Hand aktiv. Und das, nicht erstaunlich, mit ziemlich bekannten und schon erprobten Methoden: dem kommando-repressiven Ansatz zur Lösung innerstaatlicher Fragen. Das führte zum Anwachsen einer kritischen Situati0n im ohnehin gebeutelten Prozeß der ursprünglichen Akkumulation von Kapital in der Gesellschaft.

Unzufriedenheit und ihre Ursachen

Unzufriedenheiten werden vor allem von der Nichteinlösung der erwarteten und versprochenen "kapitalistischen Blüte" hervorgerufen, der Blüte, die das sowjetische Volk, des Mangels an Liberalismus müde, vor zehn Jahren im Austausch gegen das "Reich des Kommunismus" gewählt hatte. Die unaufhörliche Krise der sowjetischen Planwirtschaft, begleitet von chronischem Mangel an Waren und und einem hinkenden Dienstleistungssektor, im Unterschied zum an Überproduktion und aufgenötigten Diensten leidenden Kapitalismus, führte natürlich zum Anwachsen eines Gefühls von Hass gegen die heimischen Zustände und Neid auf den im Wohlstand ertrinkenden Nachbarn. Sobald der Geist der Perestroika über die Grenzen der in den langen Jahren der sowjetischen Herrschaft etablierten "begrenzten Schweigens und Unbewußtseins" hinausging, drang die stürmische Unzufriedenheit an die Öffentlichkeit. Ihre herausragende Eigenschaft stellte sich die absolute Unduldsamkeit gegen alle Arten von "links", in Verbindung mit ihrem möglichen Träger - einer russischsprachigen Führung - heraus.

Wer ist wer im politischen Strudel

Nach der Verzerrung demokratischer linker revolutionärer Ideen durch die Regierungen Lenins, Stalins, Breschnews und anderer, die sich in den Labyrinthen der Macht verirrten, erhoben auf demokratische Ideale und ihre Wiedergeburt in der Ukraine Vertreter des rechten Flügels als einzig mögliche Erben Anspruch. Deswegen entspricht alles, was im Westen einen rechten oder linken Kontext in sich trägt, im Osten nicht immer diesen Zuschreibungen. Zusammen mit der Isolierung Osteuropas von der sich demokratisch entwickelnden Außenwelt und dem Vakuum politischer Diskussionen, drang die einzig mögliche Variante politischer Aktivität, der nationalistische Diskurs an die Oberfläche, der damals für den so gehüteten politischen Kurs der KPdSU ungefährlich schien. Diese Konstellation versammelte allmählich unter der Flage des nationalen Befreiungskampfes für die Unabhängigkeit der Ukraine Vertreter diametral entgegengesetzter politischer Richtungen. Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf die weitere Verwirrung der Situation bleiben. Fast wie in einem Lied des sowjetischen Liedermachers Vladimir Vysotzkij: "...und wer wer ist, und wer wer war, werden wir nie wissen". In den Jahren der sozialen Geburt der Gesellschaft, Ende der 80er, Anfang der 90er, als das Bewußtsein der Massen noch in die sowjetische Ideologie verfangen war, der "wind of change" aber schon die "falschesten" politischen Konstruktionen, Flaggen und Führergestalten wegblies, begann die ukrainische politische Szene sich zu ändern -mit blitzartiger Geschwindigkeit, aber auch unglaublich differenziert. Das politische Spektrum der Ukraine wird von einem entstehenden Mehr-Parteien-System wiedergespiegelt, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlamentes. Wie Seifenblasen, die aus der ungeordneten Bewegung in einer geschlossenen Umgebung entstehen, so entstanden plötzlich Bewegungen wie die anarchistische, sozialdemokratische, christdemokratische, bäuerliche, republikanische und andere, was man sich nur ausdenken konnte, um nicht seinem Nachbarn ähnlich zu sein. Das Einzige, was alle vereinte, ist der rot-gelb-blaue Strom schwacher, aber nach Umfänglichkeit strebender Blasen (die letzten beiden sind die national-befreierischen Farben, die nach der Unabhängigkeit die Farben der nationalen Besonderheit wurden). Viele von ihnen schienen nicht lang zu leben, sie verwandelten sich nicht in stabile politische Kräfte, (z.B. der Anarchismus), sie hinterließen eher Spritzer auf den Seiten der ukrainischen Presse. Einige wurden immer deutlicher sichtbar aufgrund ihres dominierenden roten Farbspektrums (die "Linken": die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) und die Sozialdemokratische Partei). Als noch interessanter stellten sich die Demokraten und Grünen heraus, mit Anteilen von Rot, Blau-Gelb und Grün (Mitte und Mitte-Links: Die Partei der Demokratischen Wiedergeburt der Ukraine, Demokratische Partei, Liberal-Demokratische Partei und Grüne Partei). Ausgewogener in den Farbproportionen zeigten sich die Mitte-rechts-Parteien (Republikanische Partei, Christdemokraten, Bäuerliche Demokraten und Demokratische Volks-Partei). Als Träger der extremen Töne des gelb-blauen Spektrums, mit Übergang zu Brauntönen, erwiesen sich die Vertreter der ultra-rechten Bewegung (Die Ukrainische National-Partei, Der Kongress Ukrainischer Nationalisten). Die große Anzahl der Blasen führte manchmal dazu, daß die einen sich mit den anderen vermischten. Nichtsdestotrotz blieben sie bisher "seifig". Deshalb sind sie äußerst unbeständig gegen das Wehen des Windes. Und der Wind weht und dreht sich, manchmal von Ost nach West, manchmal andersherum. Und auch heute, wo es besonders stürmt, findet sich im politischen Teich ein "Blasenstrudel".

Die Opposition heute

Natürlich konnte damals, in der Zeit der Euphorie über das erste Einatmen der Freiheit, das auf die nationalistischen Ausdünstungen folgte, wohl kaum jemand vorausahnen, dass dieses Atmen schon bald aufhören würde aus Mangel am Sauerstoff der Freiheit. Sei es deshalb, weil die Atmosphäre mit zu viel Kohlenwasserstoff (nationalismus) gesättigt war, sei es weil irgendjemand weiter oben den die Sauerstoffzufuhr abgedreht hatte - wahrscheinlich spielte beides eine Rolle. Deshalb ist die "Opposition" in der Ukraine heute ein eingeschränkt gültiger Begriff, wenn man überhaupt im eigentlichen Wortsinn davon sprechen will. Eigentlich könnte man die Vorgänge auf der politischen Bühne eher als "Kampf untereinander" oder "Bäumchen-wechsel-Dich" bezeichnen. Heute werden mit dem Begriff Opposition der Sozialdemokrat Alexander Moros, die frühere Energieministerin und Vertreterin des Energie-Business Julia Timoschenko und der Jurist Sergej Golovaty bezeichnet. Hinter diesen Personen steht die Initiative "Ukraine ohne Kutschma" und das "Forum zur Nationalen Rettung".
Die politischen Methoden der Opposition sind Zeltlager an wichtigen öffentlichen Orten, Druchfürhung von Demonstrationsmärschen, Wanderungen durch die Ukraine, Protestkundgebungen. Das Ziel der Oppositin ist die Begrenzung der Vollmachten des Präsidenten und die Stärkung des Parlamentarismus durch vorgezogenen demokratische Präsidenten- und Parlamentswahlen. Der wichtigste Slogan ist die Forderung nach der Errichtung eines Rechtsstaates.
Die Vordenker der Rechten, der Linken und der Mitte denken nicht immer ihrer Weltanschauung entsprechen. Aber denken sie überhaupt?
Denken und Handeln sind oft zwei genau entgegengesetzte Angelegenheiten in der ukrainischen politischen Schicht, die immer noch ein Produkt der totalitären Vergangenheit ist, die nicht erforderte, nachzudenken - solche Entwicklungen vielmehr heftig unterdrückte, sondern "im Namen von..." zu handeln.
Diese vereinfachte Art, an Dinge heranzugehen, führte zum Entstehen einer großen Zahl von Parteien und Gruppen, die nach dem Prinzip gegen irgendetwas (die Kommunisten) oder für irgendetwas (die Kommunisten) reagieren. Zum Glück und Unglück waren die sowjetischen Kommunisten in der Ukraine wohlbekannt. Deshalb war es äußerst einfach, sich um sie herum oder gegen sie zu vereinen. Fast wie auf den Parteiversammlungen der Brezhnev-Zeit - einstimmig dafür, keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Jetzt heißt es Für den Kapitalismus - einstimmig dafür, keine Gegenstimmen, aber - es tauchten Enthaltungen auf, die fragten "Aber was ist mit der Wirtschaft?"

Die wirtschaftliche Situation der Ukraine

Das Fehlen des nötigen gesellschaftlichen Konsens (von Politikern, Ökonomen und Unternehmern) brachte die ukrainische Regierung zur Adoption fremder Modelle ökonomischer Entwicklung. Um diese praktisch umzusetzen, werden von westlichen Sprezialisten das als "Konsens von Washington" bekannte ökonomische Entwicklungsmodell vorgeschlagen. Die Markttransformation wurde unter den Aspekten makroökonomischer Stabilisierung, Preisliberalisierung, Privatisierung und Restrukturierung der Betriebe, sowie institutionelle Reformen durchgeführt.
Während die Mehrheit der mittel-osteuropäischen Staaten die sogenannte "Schocktherapie" (die Einführung von Marktmechanismen auf einen Schlag, d.Ü.) testete, gab es in der Ukraine einen mit Elementen des Institutionalismus gemischten Reformkurs. Von 1991 -99 führte in der Ukraine das Standard-Transformationsprogramm erfolgreich zum Chaos, in dem immer wieder das alte Schema Proklamation - Machtantritt - Untätigkeit durchgespielt wurde. Dennoch hat sich das IWF-Modell in der Ukraine etabliert, denn es erlaubt den Herrschenden, sich vielfach zu bereichern, weil es so leicht anzuwenden war: man manipulierte einfach die Finanzströme. Der Prozess der Globalisierung wirkt offensichtlich zum Nutzen der ukrainischen "Biznesmeni" (Geschäftsleute), die sich mit Kapitalexport und Geldwäsche befassen. Milliarden von Dollar sind auf ausländischen Konten gelandet, v.a. in den Offshore-Zonen. Das moderne Big Business beruht hauptsächlich auf Transit, Im- und Export ausländischer Produktion unter Ausnutzung der Preisunterschiede. Die Ukraine, die an der Schwelle zur postindustriellen Gesellschaft steht, hat sich noch nicht letztlich entschieden, welchem Modell sie folgen soll. Die einen denken, dass nur die Zusammenarbeit mit Russland und Belarus der Ukraine helfen kann. Die anderen wollen davon nichts hören und richten ihren Blick auf West-Europa. Darüber erhitzen sich die Gemüter...

Korruption als Stein des Anstoßes

Die Ukraine ist keine Ausnahme in der Liste der osteuropäischen Staaten, in denen die Korruption den Zusammenhalt der Gesellschaft abbröckeln läßt und den Glauben an den Staat und an demokratische Initiativen politischer oder zivilgesellschaftlich-bürgerlicher Art zerstört.
Die Schattenprivatisierung, das bedeutet das zynische Ausplündern der Betriebe, Fabriken und Kolchosen durch die ehemalige Nomenklatura, Skandale um ausländische Investoren, die die Korruption am eigenen Leib zu spüren bekamen, Racketeering und bürokratische Hürden für die Privatwirtschaft - das alles hat Attacken auf die Korruption hervorgerufen.
Interessanterweise war eine der Hauptparolen Leonid Kutschmas im Wahlkampf 1994 der Kampf gegen die Korruption. 1995 wurde das Gesetz "Über den Kampf gegen die Korruption" verabschiedet, dessen Ziel es war, die Vermischung von Staatsdienst und anderen Tätigkeiten (außer wissenschaftlichen) zu verbieten.
Im April 1997 wurde das staatliche Antikorruptionsprogramm "Saubere Hände" gestartet, und 1998 erließ der Präsident ein Dekret über eine Reihe von Antikorruptionsmaßnahmen, das mit dem "staatlichen Programm zum Kampf gegen die Korruption 1998-2005"umgesetzt wurde.
Nach 1997 konzentrierte sich der Kampf gegen die Korruption vor allem auf die Entlarvung kleiner Beamter in der Provinz. Ernsthaftere Fälle blieben außerhalb der Aufmerksamkeit der Kontrollinstanzen, mit Ausnahme der Begleichung politischer Rechnungen (gegen Pavlo Lazarenko, Julia Timoschenko und andere, die sich dem Präsidenten offen in den Weg stellten). Die einzig sinnvolle Institution zur Bekämpfung der Korruption, die freie Presse, ist stark eingeschränkt durch die strikte Zensur, Einschüchterungsmaßnahmen und Morde an Journalisten.

Repressive Toleranz oder repressive Intoleranz

Der russische Publizist Boris Kagarlitzki, ein Prosakünstler, der Vor-, Nach- und Sowjetischen Intelligenz schreibt von dem Resprekt gegenüber dem radikalen Wort, das in Osteuropa immer eine gewisse Waffe darstellte - deshalb wurden seine Träger in der Regel von Vertretern der staatlichen Repressionsmaschine verfolgt - Ausdruck der "repressiven Intoleranz". Er warnt auber auch vor dem gleichzeitig konstatierten Verlust dieser Besonderheit durch die Entwicklung der kapitalistischen "repressiven Toleranz" (Du kannst alles sagen, was Du willst, aber es wird kaum etwas bringen, außer Profiten für die Druckindustrie). Diese Tendenzen nehmen in der Transformationsperiode eigentümliche Formen an - die Intelligenz wird zur Zielscheibe der Herrschenden, die eine "falsche Intelligenz" brauchen, die ihre Interessen mit der entsprechenden Argumentation absichert.
einen Beleg für diese unsichtbare Jagd auf den Journalismus mit Hilfe der wohlgenährten "watch-dogs" (so nannte Nican die der repressiven Macht dienende Presse) war das rätselhafte Verschwinden des jungen Journalisten Georgij Gongadse.
Zur selben Zeit veröffentlichte der Sozialdemokrat Alexander Moros einen Tonbandmitschnitt , die der frühere Leibwächter von Präsident Kutschma, Major Melnitschenko aufgenommen hat und die anscheinend Licht in den Fall des verschwundenen Journalisten bringt. Der Inhalt: die Stimme des Präsidenten gibt seinen Untergebenen den Befehl, mit dem Unbequemen fertig zu werden. Gongadse hatte auf den Seiten einer Internetzeitung Fakten über die Korrumpiertheit der Regierungsspitze, den Präsidenten eingeschlossen, veröffentlicht.
Mit der nachricht vom Tod oder der Verfolgung eines solchen Journalisten kann man in der postsowjetischen Gesellschaft niemanden mehr in Erstaunen setzen. Was ist das - ein Tribut an die traditionellen Methoden der Hexenjagd im Zeitalter der Herausbidlung einer Freien Presse? Oder ein schlecht inszeniertes Spektakel im alten Geist, aber neuer Form?
Niemand in der Ukraine kennt bisher die Wahrheit über das Vorgefallene, weder Lesya Gongadse, die Mutter des Verschwundenen, noch, so scheint es, der Präsident selbst.
Ein enthaupteter, verwester Körper, der in der Nähe von Kiew aufgefunden wurde, schien dazu geeigenet, die Wogen des sich anbahnenden Skandals zu glätten, aber es funktionierte nicht. und der Grund dafür ist wahrscheinlich die unlösbar verworrene und instabile politische Situation im Land, die die fortschreitende Kapitalakkumulation und den untergründigen Kampf um die Umverteilung dessen, was schon verteilt wurde, wiederspiegelt.

Woher und wohin das Kapital nach dem Zerfall der UdSSR wanderte

nach dem Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) gingen ihre Aktiva und ihr Eigentum auf den Staat über. Aber weil die Zivilgesellschaft schwach war und jegliche Erfahrungen mit den sich plötzlich bildenden kapitalistischen Verhältnissen fehlte (die Bourgeoisie war während des Stalinismus entwurzelt worden) nutzten die an der Macht befindlichen Beamten die Situation dreist aus. Die Cleveren überführten Geldmittel in sogenannte Gemeinschaftsunternehmen. Millionen Rubel wurden entweder auf Konten deponiert oder zur Eröffnung von Kooperativen, Banken und kommerziellen Verbänden genutzt. Das Ziel all dieser Aktivitäten war, das Geld aus den Fonds der KPU in den kommerziellen Sektor hineinzuwaschen, um den sich bildenden Privatsektor zu unterstützen und gleichzeitig große Summen verschwinden zu lassen., die vom Staat in den langen Jahren der sowjetischen Nomenklatura-Herrschaft angesammelt worden waren und ein wenig "rote Farbe" angenommen hatten: wie Lackmus-Papier verfärbten sie sich in der Folge in allen Farben des Regenbogens. Die Nomenklatura dominierte den Industriesektor und usurpierte deshalb dessen Privatisierung Dasd führte zur Bildung der Business-Gruppe "Neue Ukraine" (einer Lobby-Organisation für liberale Reformen), die sich später von den Nationalkommunisten distanzierten. Sie bildete auch eine Grundlage dafür, Kutschma an die Macht zu bringen.

Die "Neuen Armen"

Vor dem Hintergrund der sich bereichernden Apparatschiks, ihrer Freunde und Verwandten, bildete sich eine ganz neue, eigentümliche soziale Schicht die "Neuen Armen". Sie zeichnen sich - im Gegensatz zum üblichen Bild von Armut - durch einen hohen Bildungsstandard aus. Sie wurden ihrer Ersparnisse beraubt, die sie in den Jahren der sowjetischen Blüte angesammelt hatten, als Milliarden Rubel auf den Sparkonten als toter Ballast die Entwicklung der Wirtschaft behinderten.
Das Einzige, was ihnen geblieben ist, sind die Wohnungen, die sie vom Staat bekommen hatten mitsamt den Möbeln und technischen Geräten darin; es fehlt ihnen jedoch das Geld, die laufenden Kosten dafür aufzubringen, auch wenn sie ununterbrochen arbeiten.
Die Auszahlung der Löhne ist zusammengebrochen - es sind inzwischen schon Jahre unbezahlter Arbeit im Namen des Kapitalismus. Die sozialen Folgen einer solchen Situation war das Anwachsen von Spannungen in der Bevölkerung, deren begrenzte Geduld das chronische Hungergefühl, die Beschränkungen aller möglichen Lebensbedürfnissen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Vergnügungen, nicht mehr ertragen kann.
Verhungernde Kinder auf den Straßen oder in Waisenhäusern, die von ihren Eltern ausgesetzt werden, weil sie sie nicht ernähren können und es vorziehen, das langsame Erlöschen der jungen Leben nicht mit anzusehen, ist eine der empörendsten/schrecklichsten Erscheinungen, die die Ukraine je erlebt hat. Um so mehr, als die Parolen der kommunistischen Vergangenheit immer noch frisch in Erinnerung sind: "Das Beste für die Kinder!". Das alles musst das Faß der Volksgeduld zum Überlaufen bringen, und der Tod von Gongadse, der mit den "langen Händen" des Präsidenten in Verbindung gebracht wird, war der letzte Tropfen dabei. Das führte zum Entstehen einer neuen Art von Opposition - "von unten", aus dem Volk. Die Leute gingen auf die Straße, wenn auch nicht alle.
Diejenigen, die aus Apathie oder Hoffnungslosigkeit indifferent bleiben, werden von der Opposition "von oben" als "Sklaven" beschimpft, wrhen die Oppositionäre "von unten" begreifen, dass sie vor kurzer Zeit noch genau so waren.
Weil die entstehende Welle von Unzufriedenheit vor allem eine moralischer und emotionaler Protest gegen die Demoralisierung von Gesellschaft und Herrschenden ist, ist es nicht erstaunlich, dass sie immer neue Schichten der Gesellschaft ergreift.Vor kurzem haben sich ihr frühere Aktivisten der nationalen Befreiungsbewegung Ende der 80er und Anfang der 90er angeschlossen, Kollegen des Verschwundenen. Daraufhin wurde ein Komitee zu nationalen Rettung "Für die Wahrheit" gegründet, das diejenigen vereint, die gegen die Herrschaft Kutschmas als eines Menschenrechtsverletzers protestieren.
Eines der letzten wichtigen Ereignisse, die von "Für die Wahrheit" organisiert wurden, waren die Protestaktionen am 9.März, die zu massenhaften Zusammenstößen mit der Polizei , Verhaftungen und Verletzten führten: Den Leuten wurde ihr "Recht auf freie Meinungsäußerung" sehr deutlich demonstriert.

Die letzten Entwicklungen und Prognosen

Die Situation ist ständig in Bewegung. Die Ukrainische Ombudsfrau Nina Karpatschewa warnt sogar vor der Möglichkeit eines Bürgerkrieges, wenn die Politiker nicht an den Verhandlungstisch kommen. Der polnische Präsident Alexander Kwasniewski stellte sogar den berühmten polnischen runden Tisch von 1989 zur Verfügung, nachdem ihn der ukrainische Präsident aufgesucht hatte, um den Protesten zu entkommen.
IN der Regierung findet eine vom Staatsoberhaupt veranstaltet Auktion statt: Kutschma - wer bietet mehr, eine beispiellos undemokratische Geste, die die totalitären Tendenzen des Präsidenten unterstreicht. Das heißt, jedes Regierungsmitglied muß sich zur Anhängerschaft entweder gegenüber dem Präsidenten oder der Opposition bekennen.
Viktor Juschenko, Premierminister mit klar gemäßigten Ansichten, war in letzter Zeit, als der Präsident unter den Druck der Opposition geriet, gezwungen, öffentlich seine Treue zu Kutschma zu unterstreichen, womit er natürlich die Oppositon, die auf seine Unterstützung hoffte, enttäuschte. Alles das spricht dafür, das die Position des Staatsoberhauptes, das noch vor Kurzem als Beispiel für Reformfortschritte und Demokratisierung galt, ins Wanken geraten ist.
"Der Tonband-Skandal hat dem Präsidenten den Stuhl unter den Füssen weggezogen. Zu seinem Glück hatte er in diesem Modell die Schlinge noch nicht um den Hals. In diese Position zwingen ihn jetzt jedoch sowohl die Westeuropäer als auch die US-Amerikaner, die mit Investitionsentzug drohen, sollte der Präsident die Angelegenheit des ermordeten Journalisten nicht aufklären. In dieser schwierigen Zwanglage hat der Präsident wohl nach Osten geblickt, wo man ihn schon mit offenen Armen erwartet hat. Die Nachfolger der "asiatischen Barbarei" in den verschiedenen sowjetischen Nachfolgestaaten verstehen einander für gewöhnlich aufs Wort. Der russische Präsident Vladimir Putin und sein belarussischer illegitimer Kollege Alexander Lukaschenko suchten offensichtlich einen Dritten. Immer öfter ist die Rede von einer Union Russlands, Belarus' und der Ukraine, die auch relativ viele Anhänger in der Ukraine hat: Vertreter der Vereinigung ZUBR (Abkürzung: Bewegung für Russland, Ukraine und Belarus, wörtlich: Wisent) und die russische Diaspora.
Natürlich ist es eigentlich nicht so wichtig, wer mit wem, sondern nach welchen und für welche Prinzipien. Die Hände aller drei Staatsführer sind blutbefleckt und was soll man davon erwarten, wenn sie sich vereinen?
Die Variante Ukraine und der Westen ist nicht einzuschätzen, weil es keine Vergleichsmöglichkeiten gibt, aber bisher hat sich auch noch niemand wirklich darauf eingelassen.



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