Wem der Rubel rollt
Der Wandel in Russland führt zu sozialer Fragmentierung



Den einen gilt Russland nach wie vor als zweite Weltmacht, den anderen nur noch als Krisen- und Entwicklungsland. Die verzerrte Wahrnehmung hat ihren Grund: Die Transformation seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat zu Wachstum und Entwicklung genauso geführt wie zu ökonomischen Zusammenbrüchen - und damit wenigen enormen Reichtum und vielen bittere Armut beschert.
von Gisela Neunhöffer [2003]

In Russland leben 17 der 497 weltweit registrierten Dollarmilliardäre. Den Berufsoptimisten in der Russischen Regierung und westlichen Beraterstäben zufolge ist der Reichtum der russischen Geldelite - unter der sich keine Frau befindet - nur das Extrem eines unaufhörlichen Aufstiegs der gesamten russischen Wirtschaft seit fünf Jahren. Und wer in Moskaus Innenstadt flaniert, kann auch durchaus den Eindruck gewinnen, dass sich hier schon westliches Konsumniveau zu westlichen Preisen durchgesetzt hat.
Doch in Russland leben außer den wenigen superreichen noch etwa 144 Millionen weitere Menschen, viele von ihnen in Armut. Dies wird zwar als Problem anerkannt. Aber mit seiner Ankündigung, das Sozialprodukt von heute etwa 2.000 US-Dollar pro Kopf innerhalb von zehn Jahren zu verdoppeln, will Präsident Putin den Eindruck erwecken, alle könnten über kurz oder lang am Aufschwung teilhaben. Die meisten RussInnen sind jedoch nicht davon überzeugt: Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ROMIR Monitoring vom August 2003 glauben 78 Prozent, dass eine neue Krise wie die von 1998 jederzeit möglich sei. Damals erklärte die Regierung die Zahlungsunfähigkeit und wertete den Rubel ab. Das Resultat war eine extreme Verteuerung von Importwaren und ein erheblicher Einbruch der Reallöhne, der erst ganz allmählich wieder aufgeholt wird. Zudem glauben die Leute nicht mehr daran, dass der Aufschwung ihre eigenen Lebensumstände verbessert. 68 Prozent erwarten, dass sie niemals "viel Geld" haben werden. Und das, obwohl für die meisten "viel" bei 5.000 Rubeln (ca. 170 US-Dollar) Einkommen anfängt. Die soziale Schere in Russland ist weit geöffnet, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie sich in naher Zukunft schließen könnte.

Arm, aber stark
Es ist vor allem diese extreme Verarmung und gesellschaftliche Spaltung, die viele kritische BeobachterInnen der Entwicklung seit Mitte der 90er Jahre von "Third-Worldization" als Ergebnis neoliberaler Transformation sprechen ließ. Aber die Situation in Russland unterscheidet sich aus zwei Gründen vom Modell eines "traditionellen Entwicklungslandes". Zum einen gibt es - historisch bedingt - viele Elemente einer modernen industrialisierten Gesellschaft mit einem ausgebauten Staatswesen, das zu Sowjet-Zeiten viele gesellschaftliche Grundfunktionen übernommen hatte. Das heißt einerseits, dass es eine ausgebaute, wenn auch zerfallende Infrastruktur gibt; andererseits, dass viele (zivil-)gesellschaftliche Strukturen eher schwach entwickelt bzw. nur informell im Rahmen dieser staatszentrierten Formation ausgebildet waren.
Zum zweiten unterscheidet sich der globale Kontext gesellschaftlicher Entwicklung in einem peripheren Land Anfang des 21. Jahrhunderts erheblich von der postkolonialen Situation der 60er und 70er Jahre, auf die sich der Begriff Entwicklungsland gemeinhin bezieht. Das betrifft Zugangsmöglichkeiten zum Weltmarkt, zu modernen Technologien, aber auch zum hegemonialen Modell neoliberaler Entwicklungspolitik (weniger Staat, mehr Markt, mehr soziale Ungleichheit). Ein Grundmuster peripherer Gesellschaften aber ist erkennbar: die extreme soziale Fragmentierung. Weil die Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen jedoch unübersichtlicher wurden, sind sie mit traditionell marxistisch-imperialismustheoretischem Vokabular, das bei russischen "Linken" oftmals noch überwiegt, schwer einzufangen. Dies trägt dazu bei, dass der Widerstand gegen die extremen Umverteilungsprozesse von unten nach oben sich bisher nur langsam entwickelt.
Verschiedene Reaktionsmuster auf die anhaltende gesellschaftliche Krise werden in der politischen (Parteien-)Landschaft im Hinblick auf die Duma-Wahlen im Dezember deutlich. Die "Partei der Macht", die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie den Präsidenten und die Politik von Premierminister Kasjanov unterstützt, heißt dieses Mal Jedinaja Rossija (Vereintes Russland). Ob das Projekt gelingt, mittels administrativer und finanzieller Ressourcen dem Kreml die Hausmacht zu sichern, ist jedoch unklar. Angesichts der ungelösten sozialen und ökonomischen Probleme und nicht zuletzt des Tschetschenienkrieges reicht auch das positive persönliche Image Putins möglicherweise nicht mehr aus, die Zustimmung zu sichern.
In zweiter Reihe stehen traditionell die Kommunisten, doch eine klare Alternative, außer Rhetorik gegen die "Politik gegen das Volk" der Regierung Kasjanov, haben sie kaum zu bieten. Nicht einmal eine Allianz mit den Kräften um den linkspatriotischen Ökonomen Sergej Glaziev, der als Vertreter einer staatsorientierten sozialverträglichen Entwicklungsstrategie auftritt und eine Art Shooting Star der "Linken" ist, haben sie bisher zustande gebracht. Der Rechtspopulist Vladimir Zhirinovskij scheint die Welle der Xenophobie - nach mehreren verheerenden Bombenanschlägen auf zivile Ziele in Moskau - für sich nutzen zu können. Liberale Parteien verschiedener Ausrichtung, wie SPS von Boris Nemtsov oder Yabloko von Grigorij Yavslinksij dagegen kommen in Umfragen über fünf Prozent meist nicht hinaus - zu sehr verbinden viele Leute mit ihnen die fatale wirtschaftliche Schocktherapie. Bürgerlicher Liberalismus ohne soziale Verantwortung hat in Russland wenig Chancen.

Luxus in einem Haus
Insgesamt bringen die RussInnen allen diesen Parteien sehr wenig Vertrauen entgegen - das trifft auch für die meisten anderen gesellschaftlichen Institutionen zu. Die traditionellen Gewerkschaften, obwohl immer noch mit millionenfacher Mitgliedschaft, spielen im öffentlichen Leben kaum eine Rolle. Neue unabhängige Gewerkschaften bestehen meist aus einem kleinen Kern von AktivistInnen - sie können an einzelnen Stellen Achtungserfolge erzielen, sind bisher jedoch kein Kristallisationspunkt größerer gesellschaftlicher Gegenbewegungen.
So bleiben Armut und Marginalisierung meist private Themen, auch wenn sie offiziell bekannt sind. Nach Angaben des staatlichen Statistikkomitees Goskomstat sinkt die Armut im Lande: Offiziell befinden sich jetzt "nur noch" 36 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, ein Viertel der Bevölkerung. Allerdings wird als offizielles Existenzminimum heute ein Einkommen definiert, das nur halb so hoch ist wie das von 1991. Das rasante Wirtschaftswachstum der letzten Jahre, gestützt auf den hohen Ölpreis und das Wiederaufleben des Binnenkonsums nach der Rubelkrise von 1998, ist an diesen Bevölkerungsgruppen praktisch vorbeigegangen. Und das, obwohl es sich nicht nur um so genannte Randgruppen handelt: während bisher RentnerInnen als die Hauptgruppe der Armen galten, zeigen neuere Zahlen, dass auch viele Lohnarbeitende mit Einkommen auskommen müssen, die unter den Lebenshaltungskosten liegen: ArbeiterInnen, aber auch Leute mit Hochschulabschluss.
Insbesondere im öffentlichen Sektor werden weiterhin Spottgehälter bezahlt: Lehrende an Schulen und Hochschulen, ÄrztInnen und Angehörige der öffentlichen Verwaltungen reicht ein normaler Job nicht aus. Um ihnen das Leben zu erleichtern, wurde kürzlich erlaubt, dass sie an ihrer Institution auch zusätzliche Vertretungsjobs machen dürfen. Eine Praxis, die freilich seit Jahren üblich ist; 60-70 Prozent der LehrerInnen, ÄrztInnen und Krankenschwestern übernehmen zusätzliche Stunden und Schichten. Dass sowohl an Schulen als auch im Gesundheitssektor überwiegend Frauen arbeiten, ist ein Grund für die zunehmende Feminisierung von Armut. Insgesamt verdienen Männer mindestens ein Drittel mehr als Frauen. Speziell alleinerziehende Frauen und alleinstehende ältere Frauen sind einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt.
Die regionalen Unterschiede zeigen sich am deutlichsten zwischen Moskau und der Provinz. Aber auch innerhalb der "Global City" wachsen die sozialen Unterschiede: illegalisierte Migranten schuften auf dem Bau, ziehen neue Wohnblöcke mit eigener Infrastruktur hoch (oft inklusive Heizkraftwerk, Schönheitssalon und Sicherheitsdienst mit Videoüberwachung), in die dann diejenigen einziehen, die es geschafft haben. "Luxuriöses Leben in einem Haus" nennt sich das in Anspielung auf den "Sozialismus in einem Land".

Entsicherte Systeme
Die soziale Spaltung betrifft auch die grundlegenden gesellschaftlichen Dienste und den Zugang zur Infrastruktur. Nach wie vor gilt in vielen russischen Städten das Propiska-System, das Wohnrecht nur Alteingesessenen oder Personen mit einem festen Arbeitsvertrag zugesteht. Folgerichtig leben in Moskau Millionen Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, die meisten sind russische StaatsbürgerInnen. Das öffnet nicht nur repressiven Maßnahmen des Staates und der Willkür von ArbeitgeberInnen Tür und Tor, sondern schließt sie auch aus den sozialen Sicherungssystemen aus.
Während in der Sowjetunion kostenlose Gesundheitsversorgung (auf niedrigem Niveau) und Renten garantiert waren, sind diese sozialen Sicherungssysteme inzwischen auf kaltem Wege privatisiert worden. Das Gesundheitssystem ist für offiziell Beschäftigte zwar nach wie vor kostenlos. Doch viele arbeiten ohne das obligatorische "Arbeitsbuch" und fallen damit aus der offiziellen Krankenversicherung heraus. Medikamente sind selbst zu bezahlen, ebenso kompliziertere Behandlungen. Nur wenige haben das Glück, in einem der prosperierenden Unternehmen zu arbeiten, die aus wohl verstandenem Eigeninteresse ihren MitarbeiterInnen eine private Krankenversicherung finanzieren.
Die Rentenversicherung wird schrittweise vom Generationen übergreifenden auf ein Mehrsäulensystem umgestellt, das zum Teil auf Kapitalbasis funktioniert. Ein Teil der Rentenabgaben soll ab diesem Jahr an private Rentenfonds abgeführt werden. Wie viel Rente dabei für die einzelnen herauskommt, weiß niemand. Was mit den Fonds im Zuge einer weiteren Krise passieren wird, wahrscheinlich auch nicht. Aktuell müssen RentnerInnen mit lächerlich kleinen Renten zwischen 600 und knapp 2000 Rubeln, d.h. 20-70 Euro, über die Runden kommen. Viele müssen dazuverdienen oder Gemüse auf der eigenen Datscha anbauen. Sie müssen sich mit alten Möbeln und Kleidern begnügen; manche haben das Glück, in der aus sowjetischen Zeiten vorhandenen Wohnung (noch) einigermaßen billig leben zu können. Was aber früher für viele selbstverständlich war, z.B. die Möglichkeit, in gewissen Grenzen zu reisen, scheitert heute für viele bereits an den Preisen für Eisenbahntickets oder Flüge.
Natalja Rimashevskaja, Direktorin des Instituts für Sozioökonomische Probleme der Russischen Bevölkerung an der Akademie der Wissenschaften, konstatierte, es hätten sich zwei Welten entwickelt, die sich gegenseitig nicht mehr verstünden. Nicht nur ökonomisch klaffe die Schere auseinander, auch kulturelle Bezugsmuster entwickelten sich voneinander weg. Die Einen reisen und übernehmen globale Konsummuster, während die Anderen an Überlebensstrategien in eng begrenzten lokalen Räumen basteln und dabei von globalen Informationsflüssen weitgehend abgekoppelt bleiben.

Exklusive Netze
Die Netzwerke aus vielfältigen Freundschafts- und vor allem Verwandtschaftsbeziehungen sind es, die vielen Leuten das Überleben ermöglichen. Diese Strukturen bieten zwar ein soziales Netz für ihre Mitglieder, sind eben darum aber auch extrem exklusiv. Wer keine Familie hat, ist den Gefahren des real existierenden Kapitalismus ausgeliefert. Zwar existiert in Form der öffentlichen Verwaltungen und medizinischen, sozialen und Bildungs-Einrichtungen ein gesellschaftlicher Grundstandard an öffentlicher Versorgung - vom Seuchendienst bis zur Müllabfuhr. Durch das Engagement Einzelner funktioniert es auch mehr oder weniger. Ein tragfähiges soziales Netz jenseits persönlicher Beziehungen ist damit aber dennoch nicht gegeben.
Die viel gerühmte "Zivilgesellschaft" kann diese Lücken nicht schließen. Mancherorts fangen wohl NGOs und private Initiativen an, sich in den krassesten Lücken des Sozialsystems zu engagieren. Es gibt inzwischen mehr als 70.000 "soziale und nichtkommerzielle" Vereine und Assoziationen, die sich mit irgendeiner Form sozialer Wohlfahrt befassen. Zwischen einer und zweieinhalb Millionen Menschen erbringen so Hilfeleistungen für ca. 20-30 Millionen. Doch die finanziellen und personellen Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Und weil der Staat die Zivilgesellschaft von oben organisiert, etwa durch hochoffizielle Bürgerforen, und damit eine halbstaatliche öffentliche Sphäre aufbaut, wird diese von der Mehrheit der Bevölkerung mit erheblicher Skepsis betrachtet. Viele vermuten, der Staat wolle nichtstaatliche Aktivitäten in geregelte Bahnen lenken und die NGO-FunktionärInnen sicherten sich dabei einen Platz an der Sonne.
So bleibt der Ruf nach einem starken, handlungsfähigen Staat laut, der wahlweise die wildgewordenen Casino-Kapitalisten, die Kriminellen, die Terroristen und andere Störenfriede zur Räson bringen soll. Nicht zuletzt ist es der Präsident selbst, der diese Ideologie vertritt und symbolisiert. Mit ihrer nationalistischen Rhetorik schaffen es die Staatsvertreter immer wieder, die soziale Spaltung zu übertünchen. Vom gemeinsamen Ziel, einem großen und starken Russland, würden alle profitieren. Die Regierung, die sich als modern, rational und dem Westen gegenüber aufgeschlossen präsentieren will, verzichtet dabei im allgemeinen auf martialische Töne - mit Ausnahme des mitunter sehr drastischen antitschetschenischen Rassismus.

Hart, aber herzlich
Radikale nationalbolschewistische Strömungen pflegen einen aggressiven Nationalismus, der sich immer stärker über die Abgrenzung, mal zum US-Imperialismus, mal zu den Oligarchen und mal zu den Juden formiert. Antisemitische Ressentiments sind nicht zuletzt dadurch relativ leicht zu mobilisieren, dass die "Nationalität" öffentlicher Personen in Russland immer mitgedacht wird. Denn wie in der Sowjetunion wird auch im heutigen Russland neben der Staatsangehörigkeit auch eine "Nationalität" in den Pass eingetragen. Auch "jüdisch" gilt als Nationalität.
Die Konstruktion äußerer und vor allem innerer Bedrohung, insbesondere in Form des tschetschenischen "Terrorismus", rechtfertigt immer wieder die erheblichen Repressionspotentiale, die im Zweifel aber auch gegen alle Formen sozialen Protests eingesetzt werden. Auch gegen gewerkschaftliche Organisation von unten gibt es immer wieder Einschüchterungsversuche. Die Gefährdung der einzelnen BürgerInnen durch die Repressionsorgane wird durch die zunehmende Brutalisierung von Polizei und Militär im Zuge des sich hinziehenden Tschetschenienkrieges erhöht - viele Milizionäre und Soldaten haben in Tschetschenien erfahren, dass Willkür gegen die Bevölkerung straflos bleibt, und tragen diese Erfahrung zurück in ihre Heimatregionen.
Doch auch bei "linken" und gemäßigten Politikern ist der Bezug auf die Nation üblich, um gesamtgesellschaftliche Ansprüche gegen die Partikularinteressen der Eliten anzumelden: der Staat soll die Naturalrenten aus dem Rohstoffexport gerecht umverteilen und gilt als einzig möglicher Garant für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Grundfunktionen.
Paradoxerweise hält sich der Bezug auf den Staat damit weiter, obwohl der eben diese Funktionen in weiten Strecken nicht mehr erfüllt. Neue Strukturen bilden sich bislang meist nur als Reaktion auf private Not. Sie in eine gesellschaftliche Strategie zu übersetzen, bleibt eine Zukunftsaufgabe der Linken.


Der Artikel erschien in der iz3w Nr. 272 (Oktober 2003).



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