Der IWF und die russische Krise
Boris Kagarlitzky

(Boris Kagarlitzky trat in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler am Institut für Vergleichende Politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften im September 1998 vor dem US Repräsentanten-Haus auf. Dieses beriet über die Bereitstellung neuer Finanzmittel für den IWF. Kagarlitzky war auch einer der Redner beim Gegengipfel in Prag)

Als erstes möchte ich betonen, daß es höchst unzutreffend wäre, die IWF-Kredite an Rußland als "Hilfe" zu charakterisieren. Es sind Kredite, für die Rußland bezahlen muß. Obwohl diese Kredite billiger zu sein scheinen als diejenigen, die auf den Finanzmärkten aufgenommen werden, muß die russische Regierung die Bedingungen akzeptieren, die von den IWF-Politikern und Ideologen formuliert werden.
Bisher ist Rußland im allgemeinen den Instruktionen des IWF und anderer internationaler Finanzinstitutionen gefolgt. Es gab kleinere Meinungsverschiedenheiten, aber im Prinzip hat der IWF die Wirtschaftspolitik der russischen Regierung akzeptiert und unterstützt, während die russische Regierung die Grundprinzipien und den Rat des IWF akzeptierte. Diese Entscheidungen resultierten im gegenwärtigen Chaos, daß nicht nur zum totalen Kollaps der russischen Ökonomie, etwas beispielloses in Friedenszeiten, geführt hat, sondern auch die ganze Welt der Rezession näher bringt .
Der Kollaps des Schuldenmarkts in der ersten Augusthälfte kam, obwohl der IWF gerade mit Auszahlungen aus einem der größten "Rettungs-"Pakete der Geschichte begonnen hatte. Zusammen mit der darauffolgenden Abwertung des Rubels markierte der Crash den endgültigen Mißerfolg der Schlüsselstrategien, die der IMF und wichtige Weltregierungen Moskau über einen großen Teil der 90er Jahre aufgedrängt hatten.
Die russische Regierung hat ihre ökonomischen Programme niemals mit ihrem Volk oder Parlament diskutiert. Es war immer der IWF an den alle grundlegenden Dokumente adressiert waren. Es war der IWF der systematisch mit den russischen Eliten arbeitete, sie beriet und öffentlich unterstützte. Die Chefs der russischen Zentralbank, die persönlich verantwortlich sind für die finanzielle Katastrophe im heutigen Rußland, haben immer politische Unterstützung von seiten der IWF-Expertenb erhalten, die den "Professionalismus" ihre russischen Kollegen hervorhoben.
Die Politik des IWF war auf der Annahme aufgebaut, daß eine stärkere Währung automatisch zu einer stärkeren Wirtschaft führt. Die Währung sollte um jeden Preis gestärkt werden, eingeschlossen den Niedergang der Produktion, die Verarmung der Bevölkerung und sogar das Verschwinden der grundlegendsten Dienstleistungen im Gesundheits- und Bildungswesen, und den sozialen Sicherungssystemen.
Die IWF-Ideologen waren sicher, daß die Ausgabe von Papiergeld durch die nationale Regierung die einzige Inflationsquelle sei. Gleichzeitig haben sie Kreditaufnahme durch die Regierung nicht als potentiell inflationstreibend angesehen. (..)Die IWF-Theoretiker bestanden ebenfalls darauf, daß Privatisierung automatisch zu besserem Management in der Industrie und geringeren Haushaltsausgaben führen würde.
Schon 1992/93 hatten diese Maßnahmen katastrophale Konsequenzen. (...) Keines der großen Unternehmen verbesserte in irgendeiner sichtbaren Weise sein Betriebsergebnis. Gleichzeitig verlor die Regierung Einkünfte aus den profitablen öffentlichen Betrieben, die früher ihre Haupteinnahmequelle gewesen waren. Die neuen Eigentümer waren inkompetent, hatten oftmals kein Kapital für notwendige Investitionen, und verwandelten die Betriebe in halbfeudale persönliche Herrschaftsbereiche. In vielen Fällen blieb die alte sowjetische Bürokratie am Steuer, aber das alte sowjetische System externer Kontrolle verschwand. Es gab natürlich auch Erfolgsstories, aber hauptsächlich in kleinen Unternehmen, die nicht kapitalintensiv waren.
Während die Ergebnisse der privatisierten Unternehmen sich verschlechterten, sah sich Staat einer permanenten Budgetkrise gegenüber. Völlig in Übereinstimmung mit IWF-Anweisungen, betrachtete die Regierung einzig und allein Steuern als legitime Quelle von Einkommen, aber die Steuern kamen nie. Um das Budgetdefizit zu decken, mußte die Regierung Sozialleistungen kappen und die Steuersätze erhöhen (...)
Dennoch gelang es der Regierung von 1994-98 den Rubel zu stabilisieren. Die dazu angewandten Methoden waren Regierungsanleihen auf den internationalen und Binnen-Finanzmärkten, und die Nichtauszahlung von Löhnen. Im August 1998 gab es landesweit 75.84 Mrd. Rubel an Löhnrückständen (ca. 12.5 Mrd. US$) (...)
Die Nichtauszahlung von Löhnen verringerte die Kaufkraft der Bevölkerung und reduzierte die im Umlauf befindliche Geldmenge. Das half, die Preise zu stabilisieren. Selbst wenn wir von einer Diskussion der moralischen Seite dieser Praktiken absehen ist es klar, daß sie ebenfalls zur allmählichen Disintegration des Binnenmarktes und zu einem weiteren Produktionsrückgang führten. (...)
Im Frühling 1998 begann die Wirtschaft wieder zu schrumpfen. Nach Gewerkschaftsangaben gingen die Realeinkommen von ArbeiterInnen allein in der ersten Jahreshälfte 1998 um 9% zurück. Lohnrückstände wuchsen ebenfalls an, wobei der Anteil des Staates an den Rückständen doppelt so schnell wuchs wie die Rückstände im Ganzen (die staatliche Lohnrückstände waren im August 14.6% höher als im Juli, verglichen mit einem allgemeinen Anstieg um 6.5%) Am schlimmsten traf es Dienstleistungen wie das Gesundheitswesen (33%iger Anstieg von Nicht-Auszahlung), Kultur und Kunst (28%), Bildung (17%), Wohnungswesen (10%), Wissenschaft und Forschung (7%) und kommunale Dienste (3.8%). Die Lebensbedingungen der Leute verschlechterten sich, und gleichzeitig wurden öffentliche Dienste gekürzt. Das hieß, daß kein privater Investor in die Lücke trat, die das Wegfallen der staatlichen Dienste riss, weil die Leute einfach kein Geld hatten, um dafür zu zahlen. Schulen haben nicht genug Lehrbücher, die Schulhäuser fallen auseinander, und in vielen Schulen schließen die örtlichen Schulen ganz einfach. Die Zahl der Studierenden ist ebenfalls zurückgegangen. Staatsverschuldung wurde praktisch zu einer Droge, von der die herrschenden Eliten abhängig waren. Auf das Drängen von ausländischen Beratern hin schuf die Regierung einen Markt für kurzfristige staatliche Schuldverschreibungen (Kagarlitzky beschreibt, warum diese Form der Kreditaufnahme letztlich dieselben Formen hatten wie die berühmten Pyramiden in Form von "Kettenbriefen").
Aber die Wirtschaftsminister der Russischen Regierungen hatten doch in den frühen 90ern das Wachstum und den Kollaps der Pyramiden mit eben so viel Schrecken mitangesehen wie alle anderen. Warum gingen sie dann los und direkt in dieselbe Misere hinein? Ein großer Teil der Schuld liegt beim IWF. Nicht nur, daß der IWF die Russische Führung in der Illusion bestärkte, daß das Niederhalten der Inflation automatisch zu Wachstum führe, die IWF-SprecherInnen nährten ebenfalls die falsche Vorstellung, wenn etwas schief ginge, gäbe es haufenweise Geld im Weltfinanzsystem um den Russen unter die Arme zu greifen.
Natürlich verließ sich die russische Regierung nicht nur auf geliehenes Geld um die Defizite zu vermindern. Die Schrauben wurden bei den Haushaltsausgaben angelegt, eingeschlossen öffentliche Investitionen. Gleichzeitig waren die Ausgaben von sowohl öffentlichen als auch privaten Finanzinstitutionen eine Orgie der Verschwendung. Die Russische Zentralbank und die Staatliche Sparkasse liesen riesige Wolkenkratzer bauen. Jetzt lesen wir in der Russischen Presse, daß vom IWF geliehenes Geld dafür verwendet wurde, um für diesen Luxus zu zahlen. Der IWF und seine Experten in Rußland haben diese Ausgaben der Banken jedoch nie in Frage gestellt. Sie betonten nur die Notwendigkeit, weniger für Bildung, Sozialausgaben, Gesundheitswesen usw. auszugeben.
(über die Korruption im russischen Finanzwesen)
Auch der Krieg in Tschetschenien stoppte den IWF nicht. Es ist sehr klar, daß die Kredite an die Jelzin-Regierung dazu genutzt wurden, um den Machterhalt der Regierung in einem Kontext wachsenden Widerstands zu sichern.
Die Bedingungen, die IWF, Weltbank und andere Finanzinstitutionen ihren russischen Gegenübern gestellt haben [in Bezug auf die Verwendung der Gelder, d.Ü.] haben nie viel bedeutet. Wir kann man über gültige Sicherungsmechanismen sprechen, wenn es ein allgemein bekannter Tatsache ist, daß die Kapitalflucht aus Rußland die von internationalen Institutionen und Weltfinanzmärkten bereitgestellten Kredite bei weitem übersteigt? Zu einem großen Teil ist dies exakt dasselbe Geld, daß das Land sofort über private Banken, die mit der Regierung zusammenarbeiten, gleich wieder verläßt. Es kann nicht sein, daß IWF Experten sich dieser Tatsache nicht bewußt sind, die jedem Verkäufer in Moskau klar ist. Im Gegenteil haben westliche Experten immer auf offenen Märkten und liberaler Regulation von internationalen Finanztransaktionen bestanden (...)
Ausländische Kredite haben Rußland nicht gerettet. Sie haben die gegenwärtige Krise nicht verhindert. Sie haben sie im Gegenteil provoziert. Gleichzeitig haben die Bedingungen, die vom IWF und anderen Finanzinstitutionen Rußland aufgenötigt wurden, die russischen Entscheidungsträger davon abgehalten, realistische Lösungen für die Probleme des Landes durch Nutzung der einheimischen Mittel zu suchen, welche sogar jetzt noch beeindruckend sind. Der IWF hat eine Situation geschaffen, in welcher Banken und Handel zu Lasten der Industrie wuchsen, in der die enormen Möglichkeiten des öffentlichen Sektors vergeben wurden, und in welcher Rußland eine Unternehmer-Community entwickelte, die an langfristiger Entwicklung einheimischer Wirtschaftsprojekte völlig uninteressiert ist.
Es ist gut möglich, daß der Hauptbeweggrund für die IWF-Entscheidungsträger nicht der Erfolg für Rußland, sondern das Wohlergehen der westlichen Finanzwelt war, die an unserer Krise einen Haufen Geld verdient hat. Aber wenn IWF-Chefs diese Haltung einnehmen, sind sie extrem kurzsichtig. (...)

Der IWF hat sein Geld in Form von Darlehen gegeben, und diese müssen immer noch zurückgezahlt werden. Aber wie die Dinge stehen, könnte die Rückzahlung fraglich sein. Es lohnt sich, die westlichen Banker daran zu erinnern, daß nach dem Fall der Romanov-Dynastie niemand da war, um die Schulden der Zaren zurückzuzahlen.
Der IWF jedoch hat erst kürzlich Rußland einen neuen Kredit gegeben, um die Abwertung abzuwenden. Und auch nach dem Rubelcrash scheint es, daß der IWF weiterhin Geld überweisen wird. Der Fonds hat einfach keine andere Chance. Aber um Geld zu verleihen, muß man es erst von irgenwoher bekommen. Die Direktoren des Fonds haben den Hut schon herumgehen lassen, um zusätzliche Beiträge von den Geberländern zu sammeln, v.a. von den USA. Sie sind die Geiseln früherer Entscheidungen, und vor allem die Geiseln des Neoliberalismus. Die Kosten dafür, "Stabilität" in Rußland aufrechtzuerhalten, steigen ständig. Das "Taxi-Prinzip", daß hier am Werk ist, ist sowjetischen Bürgern seit der Brezhnev-Zeit bekannt: Je länger die Fahrt, desto teurer die Rechnung. Und die finanziellen Ressourcen der USA sind nicht grenzenlos. In den 90er Jahren ist das neoliberale Modell in einem globalen Maßstab implementiert worden. Als Ergebnis begannen der IWF und die Weltbank ungefähr dieselbe Rolle zu spielen wie das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion einst für den sowjetischen Block: IWF- und Weltbankexperten entscheiden, was mit der Kohleindustrie in Rußland gemacht werden soll, wie Unternehmen in Südkorea restrukturiert werden sollen, und wie Firmen in Mexiko gemanagt werden.
Trotz all dessen, was über den "frei Markt" gesagt wird, hat die weltweite Praxis niemals zuvor eine solche Zentralisierung erlebt. Sogar westliche Regierungen sind gezwungen, mit dieser parallelen Autorität umzugehen. Aber dieser spektakuläre Erfolg hat zu nicht weniger spektakulären Problemen von dem Typ geführt, der in jedem hyperzentralisierten System auftaucht. Der Punkt ist dabei gar nicht, daß das neoliberale Kapitalismus-Modell den größten Teil der Menschheit zu hoffnungsloser Armut verdammt, und die Länder in der "Peripherie" zu Abhängigkeit von denen im "Zentrum".
Solche "moralischen" und "ideologischen" Themen können "ernsthafte Leute" nicht wirklich stören.
Das Problem ist das der Preis von Fehlern unfaßbar groß wird. In Rußland sind die internationalen Finanzinstitutionen nicht nur passive Zuschauer. Sie tragen volle Verantwortung für das, was in unserem Land passiert (...) Mittlerweile ist Rußland, wie in den frühen Jahren des Jahrhunderts, wieder zum "schwachen Glied des Weltkapitalismus" geworden. (...)
Das ist auch das Ergebnis von Politiken, die unter der Führung des IWF implementiert worden sind.
Die wachsenden Schwierigkeiten des IWF haben unweigerlich für eine bestimmte hämische Freude unter den Russen gesorgt. Aber die Situation wird die Sache für uns nicht einfacher machen. Um aus der gegenwärtigen Sackgasse zu kommen, müssen wir unsere Position in der modernen Welt erkennen, unsere Möglichkeiten und unsere globale Verantwortung. Und wir müssen endlich lernen, Entscheidungen unabhängig zu treffen. Selbst wenn diese Entscheidungen sehr schmerzhaft sind.
Es gibt eines, was wir jetzt vom Westen brauchen - daß er uns in Ruhe läßt. Wir brauchen, daß er aufhört, uns ökonomische Politik aufzuwingen, die für uns ruinös ist, unter dem Vorwand, Hilfe zu leisten. Das Geld, daß an Jelzin überwiesen wurde, hätte viel besser genutzt werden können - um Arbeitsplätze in Europa und Amerika zu schaffen, um die ärmsten Länder zu unterstützen, und um Umweltprobleme zu lösen. Aber man wird niemals Geld von den internationalen Bankern kriegen, um diese Probleme zu lösen.

Letzte Nachricht:
Moskau bemüht sich um IWF-Anerkennung.
Eine Sprecher des Russischen Außenministeriums teilte mit, daß Moskauer Offizielle am 8.11.2000 Gespräche mit dem IWF aufgenommen haben, um dessen Anerkennung für die russischen Reformen zu erhalten, weniger um neue Kredite zu erhalten, die Rußland, wie die russischen Offiziellen betonen nicht benötige, sondern um Umschuldungsverhandlungen mit anderen Gläubigern führen zu können, berichtet ITAR-TASS.


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