Im Osten geht die Sonne auf
Vom Grenzcamp an der polnisch-weißrussischen Grenze und von den AktivistInnen-Treffen in Warschau berichtet die osteuropa-ag (2003)

Noch lange nach dem Fall der Mauer und der Implosion des realsozialistischen Machtblocks gab es scheinbar wenig Gemeinsamkeiten zwischen antiautoritären linken Gruppen aus West- und aus Osteuropa. Erst seit einigen Jahren haben AktivistInnen begonnen, aufeinander zuzugehen und gemeinsame Aktivitäten voranzutreiben. Zum Beispiel mit den No-Border-Camps, die seit vier Jahren auch in Polen stattfinden und an denen sich Linke aus verschiedenen osteuropäischen Ländern beteiligen.

Mit dem diesjährigen Camp, das vergangene Woche an der polnisch-weißrussischen Grenze durchgeführt wurde, wollten die mittel- und osteuropäischen AnarchistInnen und No-Border- AktivistInnen den Beitritt Polens zum Schengener Abkommen begleiten und die Ost-Erweiterung der Festung Europa thematisieren. Eigentlich hätte Polen zum 1. Juli eine Visumspflicht für weißrussische, russische und ukrainische BürgerInnen einführen sollen. Dies ist eine Regelung, die den kleinen Grenzhandel bedroht, mit dem viele Menschen in der Region ihren Lebensunterhalt bestreiten. Daher lehnen viele PolInnen, zumindest im Grenzgebiet, die Visumspflicht ab.

Doch diesmal waren die osteuropäischen Linken dem Gegenstand ihrer Kritik voraus. Wegen organisatorischer Schwierigkeiten bei der Einrichtung von Konsulaten und der Regelung von Detailfragen gelang es der polnischen Regierung nicht, pünktlich den Visumszwang einzuführen, der Termin wurde vorläufig auf den 1. Oktober dieses Jahres verschoben.

Das Camp fand wie geplant statt und war mit mehr als 200 TeilnehmerInnen recht gut besucht. Viele von ihnen hatten sich zuvor zu einem Treffen in Warschau versammelt, das allerdings etwas anders verlief, als ursprünglich geplant.Denn es war zu Auseinandersetzungen innerhalb der Vorbereitungsgruppe gekommen, in deren Folge am selben Ort fast gleichzeitig zwei verschiedene Treffen stattfanden: ein anarchistisches Meeting, das vor allem einer osteuropäischen Vernetzung diente, sowie eine No- Border-Konferenz, die sich dem europäischen Grenzregime widmete.

Aus Russland nahmen vor allem AnarchistInnen teil, darunter VertreterInnen verschiedener politischer Strömungen und mehrerer politischer Generationen sowie AktivistInnen der radikalökologischen Gruppe Rainbow Keepers. Aus Weißrussland kamen RedakteurInnen der Nawinki, einer anarchistisch-satirischen Wochenzeitung, die erst kürzlich geschlossen wurde (Jungle World, 26/03). Am 23. Juli beginnt die Gerichtsverhandlung, ein internationaler Aktionstag ist geplant.

Weniger stark ist die staatliche Repression in Polen, wo sich in den vergangenen Jahren eine für osteuropäische Verhältnisse vielseitige und große linksradikale Szene entwickelt hat. Zahlreiche kleinere Gruppen, zumeist mit einem anarchistischen Hintergrund, beschäftigen sich mit Themen wie Migration, Rassismus und Sexismus und beteiligen sich an internationalen Netzwerken.

Zu den Schwerpunkten der osteuropäischen No-Border- AktivistInnen zählt die länderübergreifende Kampagne gegen die International Organisation for Migration (IOM), der über hundert Staaten angehören. Die IOM versteht sich als eine Art Gegenstück zum humanitär ausgerichteten UN-Flüchtlingskomitee UNHCR und bemüht sich darum, die Migration im Interesse ihrer Mitgliedsstaaten zu managen. (Jungle World, 42/02)

Außerdem hat das internationale No-Border-Netzwerk damit begonnen, die Bedeutung billiger und entrechteter migrantischer Arbeitskräfte in verschiedenen europäischen Grenzregionen zu untersuchen. Die anarchistische Zeitschrift Abolishing the borders from below will dazu beitragen, die osteuropäischen Aktivitäten zu vernetzen und inhaltlich weiterzuentwickeln. Sie erscheint auf Englisch und bietet daher auch westeuropäischen AkvistInnen einen Einblick in Diskussionen und Aktionen in Osteuropa.

Eröffnet wurde das Grenzcamp mit einer Demonstration im ostpolnischen Bialystok, dort wurde kurz darauf ein Auftritt des US- Botschafters gestört. Einige besuchten das Örtchen Wizajny, wo im vergangenen Jahr das Camp stattfand. Eine Organisatorin berichtet: »Wenn jemand von uns vorbeikommt, erscheint der ganze Ort, um uns zu begrüßen. Der Kontakt zu den Leuten war wohl das Beste beim letzten Camp.«

Aktionen begleiteten auch die Treffen in Warschau. So gab es eine Solidaritätskundgebung für die feministische Organisation Women on waves, deren Schiff zwei Wochen lang in internationalen Gewässern vor der polnischen Küste kreuzte und dort polnischen Frauen die Möglichkeit bot, Abtreibungen vornehmen zu lassen. Kurz nachdem eine Mehrheit der PolInnen Anfang Juni dem EU- Beitritt ihres Landes zugestimmt hatte, hatte die Aktion der niederländischen Frauenorganisation für eine große öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt, auch international.

Nicht zuletzt wegen des Einflusses der katholischen Kirche hat Polen ein Abtreibungsrecht, das zu den restriktivsten in Europa gehört. Seit 1993 dürfen Frauen nur abtreiben, wenn sie Opfer einer Vergewaltigung wurden oder durch die Schwangerschaft ihre Gesundheit oder die des Fötus bedroht ist. Für illegale Abtreibungen drohen ÄrztInnen bis zu drei Jahren Haft. Im Jahr 2002 gab es in Polen knapp 140 legale Abtreibungen, die Zahl der illegalen Abbrüche wird auf rund 200 000 geschätzt.

Im Gegensatz zur Kundgebung gegen die staatliche Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen waren andere Aspekte der Auseinandersetzung um Patriarchat und Sexismus unter den TeilnehmerInnen der Konferenzen umstritten. Mehrere Workshops verdeutlichten, dass osteuropäische Linke interne Geschlechterverhältnisse, dominantes Redeverhalten oder autoritäre Gruppenstrukturen anders thematisieren, als es im Westen lange üblich war. Auch reine Frauen- oder Männergruppen sind in der mittel- und osteuropäischen Szene unpopulär.

Einige erklären diesen Unterschied mit den schwierigeren Bedingungen in Osteuropa. Linke Gruppen hätten häufig Schwierigkeiten, Geld zu beschaffen und Räume für politische Projekte oder kollektive Lebensformen zu finden. Auch die staatliche Repression sei viel härter, weshalb sich die Leute mit ihren Inhalten und Aktionen stärker nach außen orientierten.

Andere halten das Postulat »Das Private ist politisch« für untauglich für die individualisierten postsozialistischen Lebensrealitäten. Auf bestimmte Formen von Kollektivität, die den Anschein des Zwanges erweckten, oder das öffentliche Reden über Dinge, die als privat empfunden werden, reagierten die osteuropäischen Linken viel empfindlicher. Schließlich habe die Unterordnung des Individuums zu den unerfreulichsten Aspekten des Realsozialismus gehört. Während überwiegend ältere AktivistInnen so argumentieren, wächst vor allem bei jüngeren die Bereitschaft, sich mit der sexualisierten Gewalt oder der ökonomischen Benachteiligung von Frauen auseinanderzusetzen, die im Westen im Nebel des Genderdiskurses verloren gegangen sind.


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