Fritz Storim, Hamburg, 06.12.1998


An die VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen des
Gorleben - Benefiz in Berlin, So. 13.12.98, 16.30 Uhr, im LABSAAL, Alt-Lübars 8.

über das Anti-Atom-Plenum, Berlin.

Liebe Leute vom Anti-Atom-Plenum,

auf dem letzten Ratschlag in Trebel, vom 28.11.98, ist mir eine Ankündigung in die Hände gefallen, die zu einer Benefiz-Veranstaltung zur Finanzierung von Klagen gegen Atom-Anlagen und Transporten einlädt.
Auf dieser Einladung wird sich auf ein Zitat von Albert Schweitzer bezogen, das - zumindest in meinem Umfeld - zu eindeutigem Protest und Empörung geführt hat.
Ich wende mich an Euch, mit der Bitte, diesen Brief an die VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen weiterzuleiten oder besser noch, eine Auseinandersetzung um dieses Zitat und um die Haltung, die dahinter steckt, auf der Veranstaltung einzufordern.

Das besagte Zitat lautet (und ich führe es nur an, um auch Außenstehenden eine Möglichkeit der eigenen Intervention zu ermöglichen):
»Nur Leute, die nie dabei waren, wenn eine Mißgeburt ins Dasein trat, nie ihr Wimmern hörten, nie Zeugen des Entsetzens der armen Mutter waren, Leute, die kein Herz haben, vermögen den Wahnsinn der Atomspaltung zu befürworten.«

Mein Anliegen ist es hier nicht, mich mit Albert Schweitzer auseinanderzusetzen. Sondern ich will die VeranstalterInnen kritisieren, die die von ihnen unterstellte Autorität Albert Schweitzers anführen, um ihr eigenes Anliegen zu unterstreichen. Somit identifizieren sie sich eindeutig mit der Aussage dieses Zitats und verbreiten dessen Inhalt.

Hier wird ein durch radioaktive Strahlung verletzter Mensch als »Mißgeburt« bezeichnet und es wird vom »Entsetzen der armen Mutter« über dieses Kind geredet.
Was liegt näher - und da braucht Ihr nur den momentanen gesellschaftlichen Diskurs um diese Fragen zu verfolgen -, als eine »Mißgeburt« als lebensunwert zu entsorgen (ob pränatal oder postnatal), anstatt sich gemeinsam mit der Mutter für eine Gesellschaft einzusetzen, in der Menschen nicht nach ökonomischen Kriterien kategorisiert, normiert, ausgesondert und behindert werden - und so auch die Mutter nicht alleine zu lassen und sich nicht von ihr bedauernd und scheinbar mitfühlend über Mitleid (»arm«!) zu distanzieren. Aber durch das, was mit diesem Zitat und mit dem Umgang mit ihm suggeriert wird, ist sie wirklich arm und verlassen dran.

Die Sichtweise, die aus dem obigen Zitat spricht, hat durchaus schlechte Tradition in der Anti-AKW-Bewegung.
Von der Forderung nach "Schutz des Deutschen Erbgutes" oder der "Deutschen Heimat" vor radioaktiver Strahlung bis, daß besonders nach Tschernobyl (es kam zu einem Anstieg der Selektion von Föten) wieder häufig mit Abbildungen von Menschen gearbeitet wurde, die von dieser Gesellschaft in die Kategorie "Behinderte" eingeordnet werden. Mit diesen Bildern wird an weitverbreiteten Ängsten vor Abweichung von den herrschenden gesellschaftlichen Normen und damit vor sozialer Ausgrenzung angeknüpft, und das mit der Absicht, vor den Folgen radioaktiver Strahlung abzuschrecken und so für den Widerstand gegen Atomtechnologie zu werben. Menschen werden zur Abschreckung vorgeführt/ausgestellt und so für politische Zwecke funktionalisiert, zugleich - auch wenn vielleicht nicht beabsichtigt - wird unterstützt und festgeschrieben, sie als unwertes Leben, als minderwertig, als Ballast zu denunzieren.
Sicher ist es berechtigt und auch unbedingt notwendig, auf die prinzipielle Unbeherrschbarkeit der Atomtechnologie hinzuweisen und den Schutzanspruch auf körperlicher Unversehrtheit einzufordern, aber dabei darf nicht Verletzung mit "geringem Lebenswert" gleichgesetzt werden, und das darf auch nicht zur Diskriminierung, Verachtung und Bedrohung von Menschen führen. Geschieht das, wie z.B. durch die oben erwähnten Abbildungen oder wie durch das Zitat, richtet sich das gegen die Würde aller Menschen, die sich um die Utopie einer herrschaftsfreien/solidarischen Gesellschaft - und das kann nur heißen, eine Gesellschaft ohne Normierung und Selektion - auseinandersetzen.

Wir sollten unseren Kampf nicht nur gegen eine "Maschine" und nicht nur für die unmittelbaren eigenen Bedürfnisse führen - auch wenn wir punktuell Erfolg haben, würde das längerfristig an diesen herrschenden, menschenverachtenden Verhältnissen nichs ändern - sondern wir sollten uns für eine Gesellschaft einsetzen, die die Würde des Menschen und nicht die ökonomische Rationalität in den Mittelpunkt stellt. Und das wird nur laufen, wenn wir diese Verhältnisse selbst zum Gegenstand unserer Kritik machen. Nur so werden wir eine Gesellschaft entwickeln - und das müssen wir schon selber tun - in der menschenfeindliche Technologien wie die Atomtechnologie oder auch die Gentechnologie, oder Gedanken und Praxis der "Neuen Eugenik", "Neuen Euthanasie" oder "Bioethik" keinen Platz haben.
D.h. auch, die Stärke unseres Widerstandes nicht vorranging an der Anzahl der Beteiligten festmachen - keine "Volksfront" der politischen Beliebigkeit gegen Atomtechnologie anstreben -, sondern die Strukturen der Macht und auch unsere eigene Eingebundenheit darin ständig zu hinterfragen, und dieses Hinterfragen zur Grundlage unserer gesellschaftlichen Utopie, unseres Kampfes, unserer Bündnisse zu machen. Und da werden wir uns von manchen noch trennen müssen, auch wenn sie gegen Atomtechnologie sind.

Vielleicht empfindet Ihr meine Worte als zu hart, zu wenig fragend, zu wenig vermittelnd. »Sie haben es sicher so nicht gemeint, und du solltest ihnen nichts unterstellen«, wurde mir schon entgegengehalten.
Aber nachdem die Auseinandersetzung um solche Zitate, Abbildungen, Haltungen schon über 20 Jahre in der Anti-AKW-Bewegung geführt wird, die momentane gesellschaftliche Entwicklung wieder stark in Richtung utilitaristischer und Verwertungs-Logik läuft und ich selbst die ständige Erfahrung mache, daß Menschen, die nicht die herrschenden Normen erfüllen, verstärkt ausgegrenzt werden, kann ich das Auftauchen eines solchen Zitats nicht mehr als Unüberlegtheit oder gar als Nebensächlichkeit in Frage stellen.
Es geht hier um die Substanz unseres Kampfes, um seine Glaubwürdigkeit - auch uns selbst gegenüber. Und da ist Relativierung, laissez faire unserer politischer Tod und das ständige gemeinsame Bemühen um Genauigkeit und Radikalität - auch in unseren Beziehungen untereinander- schafft Kraft, Hoffnung, Solidarität.

Mit solidarischen und kämpferischen Grüßen