Auftaktkundgebung gegen den CASTOR-Transport, 09.11.02, Endlagerbaustelle Gorleben.

zur Erinnerung an die Reichspogromnacht


Fritz Storim


Am 9. und 10. November 1938 - also heute vor 64 Jahren - fand in Deutschland ein staatlich organisierter Pogrom gegen den jüdischen Teil der Bevölkerung statt -
die Reichspogromnacht.


Wir haben auf der Vorbereitung der jetzt anstehenden Widerstandstage darüber gesprochen, ob wir uns heute hier an einer Kundgebung gegen das Atomprogramm beteiligen wollen, ohne auf die Bedeutung dieses Tages hinzuweisen.
Wir haben uns entschieden auch an diesem Ort und an diesem Tag nicht zu schweigen, was in der nationalsozialistischen Zeit in diesem Lande abgelaufen ist.
Wir wollen zum Ausdruck bringen, dass die Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen, von Roma und Sinti oder anderer von der faschistischen Norm abweichenden Menschen für uns nicht ein historisches Ereignis ist, das wir in den Archiven verschwinden lassen können, sondern eine Verpflichtung darstellt, gegen Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und Krieg, gegen jede Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, gegen jede Normie-rung, Kategorisierung und Selektion von Menschen, die Stimme zu erheben und uns zur Wehr zu setzen.
"Erinnern" sollte immer auch Motivation sein, in diesem Sinne aktiv in die Entwicklung der aktuellen Verhältnisse einzugreifen.

Dennoch hatten wir bei der Entscheidung für einen Beitrag zur Pogromnacht auf dieser Kundgebung ein Problem.
Wir befürchteten, dass der Eindruck entstehen könnte, dass wir den Holocaust mit dem Atomprogramm und dessen Auswirkungen vergleichen wollen. So gibt es ja durchaus in der Anti-AKW-Bewegung Äußerungen in denen vom "atomaren Holocaust" die Rede ist.
Solche Vergleiche lehnen wir sehr entschieden ab. Damit wird der Holocaust zur Herleitung für konkrete politische Ziele eingesetzt und so relativiert und instrumentalisiert.
Keine Kritik an Unrecht und Verbrechen hat Vergleiche nötig. Sie verwirren in der Regel den Blick und erleichtern es, von den eigentlichen Hintergründen abzulenken.

Wenn wir heute hier innehalten, um der Pogromnacht zu gedenken, dann auch, um uns die Frage nach der daraus zu ziehenden Lehre nach den eigenen, auch privaten Konsequenzen zu stellen.
Ich will als Antwort auf diese Frage zwei Stimmen anführen von vom nationalsozialistischen Terror unmittelbar Betroffenen:
Dies als einleitende Bemerkungen.


Wir haben heute Marianne Wilke eingeladen und sie gebeten, zu uns über die Pogromnacht zu sprechen.

Marianne Wilke ist 1929 in Hamburg geboren. Nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen war ihre Familie väterlicherseits jüdisch und sie "Halbjüdin". Fast ihre gesamte Familie väterlicherseits wurde von den Nazis ermordet, einige konnten ins Ausland emigrieren. Ihr Vater wurde durch die Rote Armee im KZ Theresienstadt befreit. Sie selbst und ihr Bruder konnten Dank des Einsatzes antifaschistischer Lehrer an der TelemannSchule in Eimsbüttel/ Hamburg die VolksSchule bis 1943 besuchen. Der Besuch einer weiterbildenden Schule war für sie verboten. Das Kriegsende rettete sie und ihren Bruder vor der Deportation - der Deportationsbescheid war ihrer Mutter schon zugestellt.

Seit 1970 engagiert sich Marianne Wilke in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der AntifaschistInnen (VVN/BdA) und ist heute deren Landesvorsitzende in Schleswig-Hostein.
Weiter arbeitet sie im "Arbeitskreis gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit der Stadt Wedel" mit.


bitte Marianne!



Marianne Wilke


Liebe Freundinnen und Freunde,

ich bedanke mich herzlich für die Möglichkeit, hier auf dieser eindrucksvollen Kundgebung zu Euch sprechen zu dürfen.
Als ich gebeten wurde, hier an den 9.November 1938, den Jahrestag der Reichspogromnacht, zu erinnern, brauchte ich keine lange Bedenkzeit. Die Notwendigkeit, diesen schwarzen Tag der deutschen Geschichte in Erinnerung zu rufen, liegt auf der Hand, auch wenn immer wieder versucht worden ist, Schlussstriche zu ziehen und wir aufgefordert wurden, endlich einmal Gras über die Vergangenheit wachsen zu lassen. Wir weigern uns, solchen Appellen zu folgen, denn wer sich seiner Geschichte nicht stellt, verschließt die Augen vor der Tatsache, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, dass Rassismus und Antisemitismus bis zum heutigen Tag im Lande der Täter weiter wirken. Gerade deshalb ist dem Bündnis zu danken, dass es dem Protest gegen die durch Europa rollenden Castortransporte dieses Gedenken voran stellt.

Ich denke, das ist die Erkenntnis, dass Anti-AkW-, Friedens- und antifaschistische Bewegung gemeinsame Anliegen haben und dass es im demokratischen Interesse ist, nach Wegen der Zusammenarbeit zu suchen. Wenn wir zur Zeit erleben, was unserer Bevölkerung auf den verschiedensten Gebieten derzeit von Interessenverbänden, Atom- und Rüstungslobby zugemutet wird, dann ist es viel zu ruhig hier im Land. Ich denke, wir müssen viel mehr in Bewegung kommen, um den Regierungen klar zu machen, dass wir mit unserer Stimme nicht zugleich unsere Verantwortung abgeben.

Ich spreche als Angehörige einer Gruppe von Betroffenen des 9. November 1938, ich habe diesen Tag, wenn auch als Kind, noch unmittelbar miterlebt. In der Familie meines Vaters herrschte damals Angst und Fassungslosigkeit, dass es in dem so genannten Land der Dichter und Denker möglich ist, Methoden des finstersten Mittelalters wieder aufleben zu lassen.
Sicher, es war nicht das ganze deutsche Volk, dass sich damals an den Pogromen gegen die Menschen jüdischer Herkunft beteiligt hat. Aber zugleich ist wahr, dass der größte Teil der Bevölkerung ängstlich weggesehen hat. Viele verhielten sich auch gleichgültig nach der Devise: es betrifft ja die anderen und nicht mich. Aus der geschichtlichen Distanz sehen wir, dass der Vernichtungsfeldzug gegen die Juden alle Menschen in Deutschland und Europa betroffen hat. Der Unterdrückung von Minderheiten im Innern folgte kaum ein Jahr später die Unterdrückung und Ausrottung von Millionen Menschen in anderen Ländern Europas. Und spätestens seit der Wehrmachtsausstellung wissen wir, dass sich nicht nur SS, SA und Gestapo an diesem Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben.

Es gab Menschen, die die Ausgrenzung und Diskriminierung von Juden, ihre Verfolgung und schließlich ihre Vernichtung als Verbrechen ansahen, aber es gab keinen nennenswerten Protest - schon gar keinen lauten. Widerstand haben nur wenige geleistet, und diese wenigen konnte man in Zuchthäuser und Konzentrationslager sperren. Leider ist dieser Widerstand bis heute in Deutschland nur unzureichend anerkannt und gewürdigt worden. Die Mehrheit in unserem Lande hat geschwiegen, da Widerstand ja gegen die staatliche Ordnung gewesen wäre, die man nun einmal zu respektieren habe.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus an den Juden, an Sinti und Roma , an Kommunisten und Sozialdemokraten sind das furchtbarste Kapitel unserer Geschichte, aber auch die Passivität von Millionen von Unbeteiligten, die sich nicht eingemischt haben, ist eine Schande für eine Bevölkerung, die immer von sich behauptet hat, die Menschlichkeit über alles stellen zu wollen.

Ich denke, wir alle sollten uns aufgerufen fühlen, aus diesem Verhalten für unsere Zeit und für die Zukunft zu lernen. Lassen wir nicht alles mit uns machen, mischen wir uns ein, leisten wir Widerstand, wenn wir sehen, dass Unrecht geschieht und vorbereitet wird. Verschließen wir nicht unsere Augen und Ohren, seien wir wachsam, werden wir aktiv, ganz gleich, ob es sich um Castortransporte , um Folgen der Globalisierung, um Kriegsvorbereitung oder das Treiben von Neonazis geht, die Jagd auf Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe machen. Mag man uns als Unruhestifter und Panikmacher brandmarken, wir nehmen jene beim Wort, die in Sonntagsreden eine wehrhafte Demokratie einfordern.
Vor 50 Jahren hat Bert Brecht in einer Rede vor dem Völkerkongress für Frieden folgendes gesagt: "Die Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben. Ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Lasst uns das tausednmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wird."


Ich möchte euch jetzt bitten kurz innezuhalten, um den Opfern des nationalsozialistischen Terrors zu gedenken!



[ 1 ] Felicia Langer, "Quo vadis Israel? Die neue Intifada der Palästinenser", Lamuv Verlag, Göttingen 2001.
Felicia Langer, in Polen geborene Jüdin, als Kind mit der Familie vor den Nazis geflohen, nach dem Krieg nach Israel ausgewandert. Mehr als 20 Jahre hat sie als Anwältin PalistinenserInnen juristisch verteidigt. Seit 1990 lebt sie in der BRD.

[ 2 ] Istvan Eörsi, "Das Ende des Überlebens", Die Zeit, 29/2002.
Istvan Eörsi wurde 1931 in Budapest geboren. Er überlebte das Budapester Ghetto. Die gesamte Familie seines Vaters und weitere Familienangehörige wurden von den Nazis ermordet.
Zuletzt veröffentlichte er "Der rätselhafte Charm der Freiheit" (Suhrkamp).