Tschernobyl - 20 Jahre nach der Katastrophe

der Super-Gau 1 und die Folgen

 

Vor 20 Jahren ereignete sich in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 am Rande der Kleinstadt Prypjat 2 bei Tschernobyl (Ukraine, damals Sowjetrepublik) im Block 4 des Atomkraft­werks Tschernobyl eine Kernschmelze mit da­rauffogender Explosion. Das war bisher eine der folgen­schwersten Katastrophen in der Geschichte der Atomenergie 3 Die Welt nach Tschernobyl ist eine andere als die, die sie vorher war!

Die Katastrophe traf Millionen von Menschen völlig unvorbereitet und Millionen von Menschen sind weiterhin von den Konsequenzen betroffen.

Vermutlich wurde die Katastrophe durch schwere Bedienungsfehler der Betreiber der Anlage ausgelöst.

Der Standort des Reaktors ist ca. 100 km nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew und nahe der Grenze zu Weißrussland (Belarus) gelegen.

 

Große Mengen an Radioaktivität wurden durch die Explosion und den anschließenden Brand des Graphit-Moderators in die Umwelt freigesetzt.

Das Graphitfeuer, das sich nach dem Absprengen das Daches entzündete und fast 14 Tage brannte, beförderte weitere Mengen strahlendes Materials in die Luft. Die hohen Temperaturen der nuklearen Schmelze im Reaktorschlund ermöglichten durch eine Art Kamineffekt ein Auf­steigen der radioaktiven Nuklide in große Höhen (über 10.000 m). So konnten sie mit den Hö­henwinden über Länder und Kontinente hinweg mehr oder weniger die gesamte Nordhalbkugel der Erde erreichen.

Radioaktive Metalle mit höherem Siedepunkt wurden vor allem in Form von Staubpartikeln frei­gesetzt, die sich in der Nähe des Reaktors niederschlugen.

Ein nicht unwesentlicher Teil der in Tschernobyl freigesetzen Radioaktivität, insbesondere die Nuklide Jod-131 (Halbwertzeit 8 Tage) und Cäsium-137 (Habwertszeit 30 Jahre), blieben als Aerosol lange in der Atmosphäre.

Diese ”radioaktive Wolke” erreichte auch Westeuropa. Bereits 36 Stunden nach der Explosion wurden stark erhöhte Werte der Luftaktivität in Skandinavien gemessen. Etwa drei Tage später, am 29. April 1986 gegen 18.00 Uhr, überquerten die ersten radioaktiven Luftmassen die Grenze zwischen Tschechien und Bayern.

Durch Regen wurden die radioaktiven Substanzen aus der Luft gewaschen und in den Boden eingebracht. Dadurch wurden direkt (z.B. über Freilandgemüse) oder indirekt (z.B. über Milch von Kühen, die belastetes Gras gefressen hatten) Lebensmittel belastet.

 

Von den Auswirkungen sind vor allem die Länder Weißrussland, Ukraine und Russland betrof­fen. Es wurden riesige Flächen radioaktiv verseucht und dadurch weite Gebiete unbewohnbar und für den Ackerbau nicht mehr nutzbar.

Weißrussland war und ist am schwersten betroffen, wo 70 % des Fallouts niedergingen. 30 % des Staatsgebietes sind verseucht.

Aus Weißrußland mußten etwa 135.000 Menschen sofort -etwa 400.000 verloren ihre Wohnun­gen -, aus der Ukraine etwa 160.000 Menschen, aus der Russischen Föderation etwa 50.000 Menschen evakuiert werden.

Viele Familien, die in sichere Regionen evakuiert wurden, sind inzwischen, trotz anhaltender ra­dioaktiver Belastung, in ihre alte Heimat zurückgekehrt.

Nach wie vor kommen Lebensmittel aus radioaktiv verseuchten Gegenden in den Nahrungs­kreislauf und viele Menschen nehmen so Tag für Tag kontaminierte Nahrung zu sich und so werden immer weiter neue Krankheiten verursacht.

 

 

In der BRD war und ist vor allem Süddeutschland stark betroffen. Noch immer sind in weiten Teilen von Süddeutschland, Österreich, Finnland und Schweden Pilze, Beeren oder Wildfleisch hoch radioaktiv verstrahlt.

Die Belastung nimmt im Laufe der Jahre nur langsam ab.

 

 

Der Versuch, die Katastrophe einfach geheimzuhalten, verhinderte wichtige Maßnahmen, die zum Schutz der Bevölkerung hätten getroffen werden können. Wichtige Daten über den Unfall­ablauf und über die Strahlenschäden wurden nicht dokumentiert, geheimgehalten oder frei er­funden. Die offiziellen Stellen der Sowjetunion waren erst bereit , diesen Unfall zuzugeben, nachdem er sich durch Messungen erhöhter Radioaktivität in Skandinavien und dann auch in Westeuropa sowie durch USA-Satellitenaufnahmen vom zerstörten Reaktor und vom Graphit­brand nich mehr verheimlichen ließ.

Bis heute werden die Folgen von offizieller Seite nicht vollständig erfaßt und dargestellt. Wich­tige internationale Gremien - wie die Internationale Atomenergieagentur (IAEA), das wissen­schaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung der Atomstrahlung (UNSCEAR), die Organisationen der Vereinten Nationen (UN) im sogenannten “Tschernobylforum” - ver­schleiern und verharmlosen die Auswirkungen. Der Manager des Strahlenprogramms der Welt­gesundheitsorganisation (WHO) Dr. M. Repacholi erklärte im September 2005 in Wien: “Die Hauptbotschaft des Tschernobylforums ist: kein Grund zur Beunruhigung.”

Es gibt jedoch eine große Anzahl von ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen aus den Ländern Ukraine, Weißrußland und Rußland sowie aus den weiter von Tschernobyl entfernten europäi­schen Ländern, die zu ganz anderen Ergebnissen gekommen sind.

Auf die Aussagen dieser Menschen und Initiativen beziehen wir uns im Folgenden.

 

Die Zahl der Menschen, die bisher aufgrund der Katastrophe starben oder gesundheitlich ge­schädigt wurden, geht vermutlich weit in die Hunderttausende. Der Großteil der Opfer ist jedoch erst in den nächsten Jahzehnten zu erwarten. Ein Ende der Katastrophe zeichnet sich auch 20 Jahre danach nicht ab, von den bisherigen Opfern wurde bis heute nur ein Teil erfasst. Epide­miologi­sche Studien in den betroffenen Ländern waren und sind durch unzureichende finanzielle Mittel und durch eine mangelhafte Infrastruktur behindert.

 

Die Häufigkeit von Krankheit und besonders von Krebs nimmt zu 4 - die WissenschaftlerInnen warnen vor einer Krebsepidemie in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren. Aus Hiroshima und Nagaski ist bekannt, daß sich die Auswirkungen von radioaktiver Belastung oft erst nach zwei, drei oder vier Jahrzehnten zeigen.

Die Schädigung auch von niederen Strahlendosen ist bisher noch vollkommen unverstanden. Solange die zeitliche und räumliche Dosisverteilung in lebendem Gewebe nicht ermittelbar ist, können die zur Zeit verwendeten Grenzwerte kein Maß für individuelle gesundheitliche Beinträchtigung sein (Rolf Bertram).

 

 

In verschiedenen Regionen, wie z.B. in der BRD, konnten die Auswirkungen nur sehr schwer untersucht werden, da kein flächendeckendes Krebsregister existierte.

 

 

Wenn ich solche Zahlen anführe, dann um auf das Ausmaß der Bedrohung durch Atom­kraftwerke einerseits und auf die Skrupellosigkeit andererseits hinzuweisen, mit denen po­litische und wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden. Die letzendlichen wirklichen Auswirkungen und das Leid, die mit dieser Katastrophe ausgelöst wurden, lassen sich mit solchen Zahlen gar nicht erfassen.

Ungeachtet aller gesellschaftlichen Gegensätze hat sich in Ost und West ein stilles Einver­nehmen angebahnt, um zu verhindern, daß die in Teilen der Weltöffentlichkeit zu ver­zeichnende Schockwirkung keinesfalls in eine grundsätzliche Diskussion um Sinn und Un­sinn der Atomenergie und um die Interessen, die hinter dieser menschenfeindlichen Tech­nologie stecken mündet. Nur so lassen sich die haarsträubenden Verharmlosungen, Vertu­schungen, Desinformationen und Lügen erklären.


 

der Reaktor heute

Etwa 860.000 Menschen - zumeist junge zwangsrekrutierte Männer (darunter 340.000 Wehr­dienstleisende, 24.000 Berufssoldaten) - waren als sogenannte Liquidatoren an den Aufräumar­beiten (Aufräumarbeiten am Reaktor, Bau des Sarkophags, Evakuierung der Bevölkerung und des Viehs, Waschen von Ortschaften, usw.) nach der Katastrophe beteiligt und wurden bei dieser Arbeit erhöhter Strahlung ausgesetzt.

Bis Ende 1999 sind schätzungsweise bereits mehr als 50.000 davon an Strahlenschäden oder Suizid gestorben. Ein großer Teil ist heute schwer krank.

Gleich nach der Katastrophe wurde eine Umhüllung um den Reaktor errichtet - der sogenannte Sarkophag. Die Frist des garantierten Betriebs des Sarkophags sollte 30 Jahre betragen, doch be­reits seit längerem schlagen ExperInnen Alarm. Die Wände des Sarkophags haben Spalten, die Decke senkt sich herab. Bis Mitte 1999 waren bereits ungefähr 3.000 Kubikmeter Wasser in den Sarkophag eingedrungen, die radioaktive Stoffe aufgelöst haben und im unteren Bereich des Sarkophags einen Tümpel von flüssigen radioaktiven Abfällen bilden.

Die ExpertInnen wissen wenig über die Prozesse, die sich innerhalb des Reaktors abspielen. Durch die Löcher in der Aussenwand bläst der Wind radiokativen Staub heraus und Regenwas­ser dringt ein. Eindringendes Wasser könnte zu einem Wiederaufflackern der Kettenreaktion im Brennstoff führen, radioaktiv verseuchtes Wasser könnte das Grundwasser erreichen. Im Falle eines Einsturzes droht die Freisetzung einer radioaktiven Staubwolke in die Umgebung.

 

Über die eigentliche Gefahr, die jetzt noch von dem Reaktor ausgeht und über das noch in der Ruine vorhandene radioaktive Potential, gibt es sehr widersprüchliche Aussagen.

Eine sachgerechte Entsorgung vermutlich großer Mengen radioaktiver Stoffe aus dem geborste­nen Reaktorblock ist noch immer nicht in Sicht.

 

Mit dem Bau eines zweiten Sarkophags ist begonnen worden. Er wird neben dem zerstörten Block (Block 4) gebaut und soll dann über ihn geschoben werden. Es wäre die größte, je gebaute bewegliche Struktur (20.000 Tonnen schwere Betonhülle, fast 125 m hoch). Die geplante Be­triebszeit soll 50 bis 100 Jahre betragen. Für die Kosten zur Sicherung von Block 4, einschließ­lich der Errichtung des neuen Sarkophags, werden inzwichen weit über eine Milliarden Dollar diskutiert.

Nach der Katastrophe wurden die Reaktoren eins bis drei weiter betrieben.

Der letzte noch produzierende Reaktor der Anlage, Block 3, wurde am 15. Dezember 2000 auf Druck der Weltöffentlichkeit abgeschaltet - also über 14 Jahre nach der Katastrophe. Die nukle­aren Brennelemente sind aber immer noch nicht entfernt worden.

Auch aus Block 1 sind erst die Hälfte der Brennelemente entladen.

Die Atommülldepots auf ukrainischem Territorium sind überfüllt.

 

Ich will noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß es weltweit kein sicheres Endlager gibt, das keinen Zutritt der über Jahrmillionen strahlenden hochradioaktiven Abälle zur Biosphäre garantiert - und ein solches ist auch gar nicht vorstellbar. Dennoch werden diese hochradioaktiven Abfälle weltweit weiter produziert - auch in der BRD. U.a. daraus leitet die Anti-AKW-Bewegung ihre Forderung: ”Für die sofortige Stillegung aller AtomKraft­werke weltweit!” ab.

 

 

ist ein Super-GAU auch in Deutschland möglich?

 

Atomkaftwerke sind komplizierte Hig-Tech-Systeme, in denen physikalische Prozesse, eine Fülle verschiedener Materialien, Ingenieurtechnik und der Faktor Mensch in einer fein abge­stimmten Weise zusammenwirken müssen. Im Gegensatz zu anderen Hochtechnologien bein­haltet ein Atomkraftwerk aber ein ungeheures Schadenspotential. Gerät diese Technik außer Kontrolle - und das ist auch bei einem deutschen Atomkraftwerk nicht auszuschließen - , so sind besonders in dicht besiedelten Regionen schlagartig Millionen von Menschen in ihrer Existenz und Gesundheit bedroht.

Die Erfahrungen aus Tschernobyl haben gezeigt, daß nach einer Katastrophe in einem AKW - durch welche Ursache sie auch immer ausgelöst wurde - das Evakuierungsgebiet auch 400 km weit reichen kann, je nach Katastrophenszenario und Wetterlage.

 

Bei einem deutschen AKW gibt es nach einem Super-GAU auf Grund des anderen Reaktorprin­zips keinen vergleichbaren Brand wie in Tschernobyl und somit keinen großen Auftrieb für die nukleare Freisetzung und großflächige Verteilung. Allerdings wäre das Freisetzungsinventar 3 bis 5 mal größer als in Tschernobyl. In Weißrussland haben etwa 400.000 Menschen ihre Heimat verlassen müssen. In Deutschand kann wegen der 7 - 10 mal höheren Besiedlungsdichte die Evakuierung von 3 - 6 Millionen Menschen notwendig sein. Eine geordnete Evakuierung und Versorgung - auch medizinische Versorgung - so vieler Menschen ist aber nicht vorstellbar. Die Menschen werden weit­gehend sich selbst überlassen.

 

 

Hinweisen will ich in diesem Zusammenhang, daß es vor Tschernobyl größere Atomkatastro­phen bei Kyshtym im Chemiekombinat Majak (29.09.1957, UdSSR; s. Fußnote 2), in Windscale (08.10.1957, heute Sellafield, England), in Harrisburg (27.03.79, Pensylvania, USA) im AKW Three Mile Island und in Tokaimaru (30.09.1999, Japan) gab.

 

Zusammengefaßt:

Es gibt weder 100%ige Sicherheit gegen technisches Versagen, noch gegen menschliches Fehlverhalten oder gegen einen zielgerichteten militärischen Angriff.

Und nicht zu vergessen sind die gesundheitlichen Gefahren, die von der sogenannten fried­lichen Nutzung der Atomenergie auch bei sogenanntem „Normalbetrieb“ ausgehen.

Der Betrieb atomtechnischer Anlagen führt zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen von Gesundheit und Lebensraum. Auch der Transport, die Zwischen- und Endlagerung von Atommüll sind mit hohen Risiken verbunden. Tausende von Generationen nach uns wer­den an den Folgen der Atomtechnik erkranken und sterben. Radioaktivität - einmal frei­gesetzt - bleibt auch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden wirksam.

Mit jeder Kilowattstunde aus Atomenergie nimmt die Radioaktivität in der Umwelt zu.

 

Und - diese Katastrophe in Tschernobyl war kein Schicksal, sondern ist von Menschen zu ver­antworten.

Die Produktion von Atomenergie ist ein Verbrechen an Mensch und Umwelt - hier und auch anderswo! Und dieses Verbrechen ist nicht anonym oder irgendwelchen Sachzwängen geschuldet, sondern dahinter stecken Gesichter und Interessen, die es gilt sichtbar zu ma­chen und zur Rechenschaft zu ziehen.

 

 

 

Ist nach der Katastrophe von Tschernobyl die zivile und militäri­sche Nutzung der Atomkraft ein auslaufendes Modell?

 

 

Zur Zeit sind weltweit 439 Atomkraftwerke in Betrieb (Okt. 2005).

Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) erwartet - nach Aussagen ihres Chefs Mohammed al-Baradei, auf der internationalen Konferenz zur Zukunft der Atomernegie vom 21. März 2005 - einen AtomstromBoom. Bis 2020 werde der weltweite Bedarf auf gut 427 Gigawatt hochschnellen. Dafür müßten über die bisherigen Schätzungen hinaus 127 AKWs mit einer Leistung von je 1.000 Megawatt gebaut werden. Die VR China wolle ihren Atomstrom von der­zeit 6,5 Gigawatt bis 2020 auf 36 Gigawatt hochfahren, Rußland von 22 Gigawatt auf 40 bis 45 Gigawatt. Die Befürchtungen bezüglich des Treibhauseffekts überwögen die Furcht vor atoma­ren Unfällen. So bringe das Kioto-Protokoll für die Atomenergie „neue Persperktiven“, sagte al-Baradei (TAZ, 22.03.05).

 

Diese Liste läßt sich ergänzen:

 

Das alles macht deutlich, wohin die Reise gehen soll!

Wenn viele Menschen jetzt denken, das Thema Atomenergie habe sich zumindest in der BRD erledigt, die Zeit werde die anstehenden Fragen automatisch lösen, so ist das ein gefährlicher Trugschluß, der gerade auch durch den Konsensvertag suggeriert werden sollte.

 

Und verlieren wir nicht aus den Augen, daß die sogenannte friedliche Nutzung der Atomkraft immer eng zusammenhängt mit der Möglichkeit ihrer militärischen Nutzung.

Die weltweiten Diskussionen in jüngster Zeit zeigen, daß daran das Interesse wieder besonders ausgeprägt ist.

Ein Beispiel ist die vor kurzem in Diskussion gestellte Verteidigungsdoktrin der USA, die auch präventive Atomangriffe gegen feindliche Staaten und gegen sogenannte Extremistengruppen vorschlägt.

Das, und auch die letzten Kriege (Jugoslawien, Afghanistan, Irak) zeigen, wieweit Krieg - und in Zukunft auch der Einsatz von Atomwaffen - als Mittel der Politik wieder gesellschaftsfähig geworden sind.

 

 

Zu der Forderung:

„Atomkraft Nein Danke - Erneuerbare Energie jetzt!“

 

Sicher ist es unbedingt erstrebenswert, die Atomenergie durch erneuerbare Energie zu er­setzen.

Aber es genügt nicht nur das Produkt zu kritisieren, ohne die Produktionsverhältnisse in die Kri­tik mit einzubeziehen.

Die Atomkraft ist kein Auswuchs, ist kein Fehler dieser herrschenden Verhältnisse, sondern Symptom, konsequenter Ausdruck einer Gesellschaft, in der nicht der Mensch im Mittelpunkt von Denken und Handeln steht, sondern die ökonomische Rationalität, oder anders gesagt: Wachtum und Profit.

So sichern sich die starken Industrienationen die Verfügbarkeit der kapitalintensiven, hochkom­plexen Technologie, auch die Möglichkeit der militärischen Nutzung und halten damit andere Länder abhängig und unter Kontrolle.

Diese Potentiale sind in Anlagen für erneuerbarer Energie nicht enthalten. Deshalb besteht daran bei den großen Konzernen und der politischen Nomenklatura auch so wenig Interesse.

Zum anderen ist aber auch das „Erneuerbare EnergieGesetz“ ein Produkt der Liberalisie­rung und der Globalisierung des Energiemarktes, d.h. der Privatisierung und Deregulie­rung der Energie­produktion. Auch mit erneuerbarer Energie ist die Energieproduktion weitgehend jeder demo­kratischen Kontrolle ent­zogen. Der Markt bestimmt wo`s lang geht. Und auch die erneu­erbare Energie wird sich dieser Gesetzmäßigkeit - der kapitalistischen Verwertungslogik - nicht ent­ziehen können.

 

So genügt es eben nicht, die Forderungen nach erneuerbare Energien auf den ökologischen Aspekt zu begrenzen:

·      Es geht also nicht nur darum, gegen die Symptome zu kämpfen - mehr Sicherheit im Kapitalis­mus einzufordern -, sondern sich für eine Ge­sell­schaft einzusetzen, in der die Ursachen für Sym­ptome gar nicht mehr vorkommen, gar nicht mehr denkbar sind.

Sonst können wir ein Leben lang an den Symptomen herumhandwerkeln ohne je grund­sätzlich einen Schritt vorwärts zu kommen - einen Schritt in Richtung einer humanen, solidarischen, herrschaftsfreien Gesellschaft.

 

 

zur Bedeutung unseres Widerstandes - was tun?

 

»Will man den riesigen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung richtig ermessen, muß man sich vor Augen führen, daß laut eines Planungspapiers aus der Atomforschungsanlage Jülich 5 für die BRD nicht weniger als 598 AKWs und mehrere Wiederaufarbeitunganlagen geplant waren. Diese Zahl trifft nicht etwa mögliche alternative Standorte, wie vielleicht vermutet wird, sondern da die Gesamt- Leistung mit fast 1.000 GW angegeben wird, sollten sie einmal alle gleichzeitig laufen. Dagegen wurden gerade 20 durchgesetzt. Natürlich sind das 20 zuviel, wegen der Ge­sundheitsschäden im Normalbetrieb und der so ungeheuer verharmlosten Unfallgefahr, aber den­noch! (Jens Scheer)«

 

Seit dem 22. Feb. 1977, als Ernst Albrecht - der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen - Gorleben als Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum benannte - das ist jetzt über 29 Jahre her - haben sich unzählige Menschen mit unzähligen Aktionen gegen diese Pläne gestellt.

Die Umsetzung von großen Teilen dieser Pläne haben wir verhindert - aber das Endlager steht immer noch auf der Tagesordnung und die CASTOR-Transporte laufen nach wie vor und 17 AKW sind zur Zeit noch in Betrieb.

 

Hat unser Widerstand an Wirkung nachgelassen, hat er sich ritualisiert, ist er in seinen Formen erstarrt? Same procedure as every year? Wie viele, gerade auch aus dem linksra­dikalen Spekt­rum sagen.

Zu dieser Einstellung kannst du leicht kommen, wenn du den Erfolg unseres Widerstandes al­leine daran festmachst, ob es uns gelingt, z.B. den CASTOR aufzuhalten und zurückzuschicken. Si­cher wäre das wunderbar und wir würden uns alle darüber freuen, denn das würde eindrucks­voll sichtbar machen, daß wir das gesamte Betriebssystem der Atomanlagen so­lange stören wer­den, solange nicht alle AKWs endgültig abgeschaltet sind.

 

Aber erfolgreich ist unser Widerstand hauptsächlich dann, wenn es uns gelingt, unsere „Kommu­nikation“ untereinander weiter zu entwickeln. Und „Kommunikation“ meint hier, gemeinsame, soli­darische Auseinandersetzung, gegenseitige Kritik, gemeinsames Handeln und gemeinsame Ent­wicklung und selbstverwaltete soziale Orte, gemeinsames Leben. So gesehen kann „Kommu­nikation“ nur in herrschaftsfreien/hierarchifreien Räumen stattfinden. Das werden wir wohl end­gültig nie erreichen, aber darum sollten wir uns ständig bemühen.

Und erfolgreich wird unser Widerstand auch sein, wenn es uns gelingt, immer mehr Menschen dazu zu gewinnen, den politisch und ökonomisch Mächtigen und ihren Vollzugsorganen gegen­über ihre Loyalität zu ver­weigern.

In diesem Sinne bedeutet Kommunikation subversives Leben und Sabotage an den herr­schenden Verhältnissen.

 

Unser Kampf richtet sich nicht nur gegen eine menschenfeindliche Technologie, gegen ein Pro­dukt wie Atombombe und Atomkraftwerk und alles was dazugehört, sondern gegen die Verhält­nisse, gegen die Produktionsverhältnisse, die diese Technologie erst ermöglichen.

 

So verstehe ich auch die Parolen auf den Transparenten hier vorne, wenn es da heißt:

„sofortige Stillegung aller Atomanlagen und der herrschenden Klasse, weltweit!“ und

„die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert - es kommt darauf an, sie zu verändern (Karl Marx)“

 

Konkret heißt das:

 

 

Für unseren Widerstand bedeutet das, auch den Kampf aufzunehmen gegen Neoliberalismus (Deregulierung und Privatisierung) und gegen kapitalistische Globalisierung des Energiemarktes.

 

Dieser Kampf braucht einen langen Atem und er wird endgültig nie zuende sein. Er wird aus vielen kleinen Schritten an vielen unterschiedlichen politischen Orten bestehen.

Der Widerstand gegen die Atomkraft ist so ein kleiner Schritt - wir müssen nur immer wieder darauf achten, daß wir die Richtung, um die es geht, nicht aus den Augen verlieren.

Atomenergie ist schon lange kein regionales und auch kein nationales Problem mehr. Die durch die Liberalisierung und Globalisierung des Kapitalismus ermöglichten Fusionierungen zu welt­weiten Konzernen haben bisher zu nicht dagewesenen privaten Machtkonzentrationen geführt, die sich weitgehend auch jeder staatlichen und demokratischen Kontolle und Regulierung ent­ziehen. In der BRD gibt es noch 4 große Energieversorgungsunternehmen (RWE, E.ON, EnBW, Vattenfall), die aber auch schon europaweit und weltweit eine wichtige Rolle spielen, auch in den Bereichen Gas, Wasser, Öl, Abfall und Dienstleistung.

 

Wir haben längst erfahren, daß der Kampf um eine menschenwürdige Gesellschaft - und darin ist der Kampf gegen Atomkraft einzuordnen - nicht nur eine Frage der „Vernunft“ und der „wis­senschaftlichen Argumente“ ist, sondern immmer auch eine Frage der praktischen Überzeu­gungsarbeit. Praktische Überzeugungsarbeit läuft über politischen Druck und politischer Druck läuft über praktischen Widerstand.

Und das hat immer schon die Stärke der Anti-AKW-Bewegung ausgemacht. Dazu hat aber auch beigetragen, daß wir uns über die unterschiedlichen politischen Differenzen und unterschiedli­chen Widerstandsformen stets auseinandergesetz haben und uns darüber nicht haben spalten las­sen.

 

Wir sind den herrschenden Verhältnissen gegenüber nicht kompromissbereit/nicht dialogbereit und wir lassen uns in diese nicht integrieren - wir wollen ein anderes Leben, wir wollen eine an­derer Welt!

Und wenn wir heute an Tschernobyl erinnern, dann nicht nur , um nach hinten zu blicken und der Opfer zu gedenken, sondern auch, um die historischen Erfahrungen zu nutzen, Einfluß auf die Gestaltung unserer Zukunft zu nehmen.

 

für ein solidarisches und herrschaftsfreies Zusammenleben aller Menschen auf dieser Welt!

 

 

 

Quellennachweis:

 

Ekkehard Sieker (Hg.), »Tschernobyl und die Folgen. Fakten, Analysen, Ratschläge.«, Lamuv Verlag, Juni 1986.

Oda Becker, Helmut Hirsch, »18 Jahre nach Tschernobyl, Sanierung des Sarkophags - Wettlauf mit der Zeit«, Greenpeace, Hannover, April 2004.

Fritz Storim, »Zur Philosophie der Neuen Weltordnung und zur Utopie von „Solidarität“, „Kommunikation“ und „Befreiung“«, in »Alle reden vom Wetter - wir nicht! Beiträge zur För­derung der kritischen Vernunftl, Westfälisches Dampfboot, Münster 2005.

Rolf Bertram, »Der Super-GAU von Tschernobyl - grenzenlose Folgen gestern, heute und mor­gen.«, Vortrag in der Universität Göttingen zum Tschernobyl-Tag, 26. April 2005.

Rolf Bertram, »Renaissance der Atomernergie?«, Vortrag anlässlich der „2. Offenen Universität“ in Gelsenkirchen, am 05.10.2005.

Edmund Lengfelder, Christine Frenzel, »20 Jahre nach Tschernobyl: Erfahrungen und Lehren aus der Reaktorkatastrophe«, Otto HUG Strahleninstitut - MHM, Informationen, Ausgabe Februar 2006.

Antje Hilliges, Irina Wachidowa, »Der Tag an dem die Wolke kam. Wie wir Tschernobyl über­lebten.«, Wilhelm Heyne Verlag, München, März 2006.

Gesellschaft für Strahlenschutz, Einladung zum Internationalen Kongreß »20 Jahre nach Tschernobyl, Erfahrungen und Leben für die Zukunft«, 3. - 5. April 2006, Berlin.

Rolf Bertram, »Zu den verhängnisvollen Konsequenzen durch die Verwechslung von Modell und Wirklichkeit. Die Grenzwertideologie dicht ionisierender Strahlung ist fehlerhaft und irre­führend.«, Internationaler Kongreß, Gesellschaft für Strahlenschutz, „20 Jahre nach Tschernobyl“, 3. - 5. April 2006, Berlin.

 

 

Fritz Storim, März 2006.



[1] Ein Super-GAU (Größter Anzunehmender Unfall) ist nach Definition der Atomkraftwerk-Betreiber ein solcher Unfall, der vom Reaktor und seinen TechnikerInnen nicht mehr beherrscht wird.

Nach der BRD-Sicherheitsudie von 1979 ist alle 10.000 Reaktorjahre ein KernschmelzUnfall mit radioaktiver Be­lastung der Umwelt zu erwarten. Darüber hinaus, so die Studie, kommt es nur alle Millionen Reaktorjahre zu einem Kernschmelzunfall mit mehreren akuten Strahlenopfern und Todesfällen.

Auch in der Sowjetuniun erklärte noch im Februar 1986 der Vorsitzende des Staatlichen Komitees zur Nutzung der Atomenergie A. Petrosjanz: »Atomkraftwerke sind weniger gefährlich als Kohlekraftwerke. Die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe in einem Atomkraftwerk liegt bei einer Größenordnung von Eins zu einer Million im Jahr.«

 

[2] 1971 war mit dem Bau des Atomkraftwerks bei Tschernobyl begonnen worden, dessen vier Reaktoren zwischen 1977 und 1983 nacheinander in Betrieb genommen wurden. Acht Reaktoren waren geplant. Nr. 5 und 6 befanden sich gerade im Bau. Die Anlage galt als die modernste und sicherste der Sowjetunion.

Vor der Katastrophe lebten in Prypjat 48.000 Menschen. Die meisten arbeiteten in der vier Kilometer entfernten Atomanlage. Am 28. April 1986, 36 Stunden nach der Katastrophe, wurde die gesamte Stadt evakuiert. Auf Grund der Strahlung wird die Stadt für viele Generationen unbewohnbar bleiben.

 

[3] Am 29. September 1957 wurde im Ural in der Nähe des Ortes Kyshtym (1200 km östlich von Moskau) durch ei­nen Unfall im Chemiekombinat Majak (Wiederauarbeitungsanlage zu Plutonium-Gewinnung für den Bau von Atomwaffen, Lager für radioaktive Abfälle, mehrere Atomreaktoren) wahrscheinlich eine noch größere Menge Ra­dionuklide in die Umwelt freigesetzt als bei der Katastrophe von Tschernobyl. Doch erst im Juli 1989 - mit 32 Jah­ren Verspätung - informierte das in der Sowjetunion nach dem Unglück von Tschernobyl neu geschaffene Ministe­rium für Atomenergie die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) über das Unglück.

Es scheint so zu sein, daß die radioaktiven Nuklide bei diesem Unglück nur in einem vergleichsweise begrenzten Gebiet verteilt worden sind. Nach einem Gutachten der UN ist dies der Ort mit der größten radioaktiven Kontami­nierung auf der Erde. Der gesamte Fallout blieb wahrscheinlich auf den Ural begrenzt Die freigesetzte Strahlung, die mit dem zwei- bis sechsfachen der Tschernobyl-Katastrophe angegeben wird, zog etwa 270.000 Menschen in Mit­leidenschaft - teilweise wurden Menschen erst anderthalb Jahre nach dem Unglück umgesiedelt.

Seit Sommer 2003 - nachdem ein Gesetz der Duma seit 2001 den Import radioaktiven Abfalls gestattet - werden verbrauchte Brennstäbe aus Ungarn, aus Bulgarien oder der Ukraine in Majak gelagert. Auch andere Staaten wie Japan, Südkorea, Spanien oder die Schweiz haben daran ihr Interesse bekundet.

[4] 160.000 Kinder waren einer sehr hohenStrahlung ausgesetzt. Immer mehr Menschen erkranken an den Strahlenkrankheiten Leukämie, Schilddrüsenkrebs, anderen Krebsarten und strahlenbe­dingter Immunschwäche und genetische Schäden. Starke Zunahme von Pathologien, die mit der Fortpflanzung der Menschen zusammenhängen wurde beobachtet.

Die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen (Perinatalsteblichkeit), Totgeburten und Fehlbildungen ist selbst in moderat belasteten Regionen (wie Deutschand) angestiegen.

Von allen Kindern aus dem Oblast Gomel (Weißrussland), die zum Zeitpunkt der Katastrophe zwischen 0 und 4 Jahren alt waren, werden ein Drittel im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsen­krebs erkranken, d.h. allein in dieser Region sind das mehr als 50.000 Menschen.

Erweitert man diese Prognose auf alle Altersgruppen der zum Zeitpunkt der Katastrophe leben­den Personen im Gebiet Gomel, dann sind allein dort weit über 100.000 Schilddrüsenkrebsfälle in der Folgezeit zu erwarten.

Es gibt so gut wie keine staatliche Unterstützung für die Opfer - das Gesundheitssystem ist völ­lig überfordert.

 

[5] Studie 1220 - Juli 1975, Kernforschungsanlage Jülich - im Auftrag des Bundesinnenministeriums und Entwicklungs­plan „Kraftwerkstandorte“ Baden-Würtemberg.