linksrhein Quelle: AZW Nummer 06, erschienen am 20.07.1995
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Ali Schirasi: Erinnerungen aus dem Ewin Gefängnis, Iran

Lebt wohl, Freunde

Ali Schirasi stellt in seinem Buch "Lebt wohl, Freunde. Erinnerungen aus dem Ewin Gefängnis, Iran" zehn ausgewählte Erinnerungsstücke vor, die das Leben in dem berüchtigten Teheraner Gefängnis aus zehn verschiedenen Winkeln beleuchten. Sie sollen es den LeserInnen erlauben, "mit einer Welt vertraut zu werden, zu der kein Reporter, kein Forscher je Zugang haben wird, es sei denn er komme selbst ins Gefängnis".(S.9)

In einem sachlichen, zurückhaltenden Erzählstil beschreibt Ali Schirasi wie die Insassen physisch und psychisch zerstört und zu "Reuigen" umgeformt werden: "Zuerst muß man in den Gebetsraum und vor den versammelten Gefangenen seiner Überzeugung abschwören, Reue zeigen, seine Organisation in Grund und Boden verdammen, Chomeini und die Islamische Republik akzeptieren und tausenderlei Unsinn über sich selbst, seine Freunde und seine Überzeugung von sich geben - das ist die erste Hinrichtung. Nach dem Interview muß man dann seine Gefährten bespitzeln - das ist die zweite Hinrichtung. Und um zu beweisen, daß man ein echter Reuiger ist und die Regierung wirklich akzeptiert, muß man alles ausführen, was sie einem auftragen, auch Mitgefangene foltern und sogar hinrichten. Das ist die dritte Hinrichtung." (S.63)

Auch wenn die Folterungen bei den Verhören und die ständig lauernden Gewaltausbrüche der Revolutionswächter beinahe allgegenwärtig scheinen, sie machen nicht den eigentlichen Inhalt dieser Erzählungen aus. Vielmehr dokumentiert Ali Schirasi, wie selbst unter diesen totalitären Bedingungen Widerstand geleistet wurde und ein Rest an Würde bewahrt werden konnte, wenn er schreibt: "Und trotzdem, trotz aller Unterdrückung, versuchten die Gefangenen Wege zu finden, um sich zu behaupten. So redeten sie mit den Reuigen nur, soweit es unumgänglich war, setzten sich beim Essen nie mit ihnen zusammen, versuchten, in der Zelle zu bleiben, wenn der Geistliche aus Kom seine Reden hielt, mit der Begründung, auf dem Flur sei nicht genug Platz. Wenn der Geistliche sprach, senkten sie den Kopf und schauten ihn überhaupt nicht an. Desgleichen taten sie auch, wenn der Abteilungsleiter oder Ladschewardi, der Gefängnisdirektor, eine Rede halten wollten. Wenn sie zum Verhör gerufen wurden, zogen sie sich extrem langsam an und gingen so langsam wie möglich." (S. 35 f)

An zentraler Stelle findet sich ein weiterer bemerkenswerter Aspekt der Gefängniswirklichkeit: die Solidarität unter den Gefangenen, die selbst unter diesen extremen Bedingungen Bestand hat: "Ein paar Minuten später gesellte sich Masud zu mir und fing ein Gespräch an. Er erklärte mir, daß einige aus der Zelle keinen Besuch bekämen und deshalb keine Kleider und kein Geld von ihrer Familie erhielten. Daher tun alle, die Geld und Kleider haben, diese an eine bestimmte Stelle, und alle können nach Bedarf etwas davon nehmen. Beim Schlafen, so erzählte er, wird besondere Rücksicht auf die Kranken genommen, weil der Platz knapp ist. Auch bei der Verteilung der Mahlzeiten und des Obstes, das Mangelware ist, sorgen sie besonders für die Kranken. Das Geschirrspülen, Essenausteilen und Saubermachen der Zellen wird ebenfalls unter den Gefangenen aufgeteilt, jeden Tag ist eine bestimmte Gruppe dran." (S. 58 f)

Es handelt sich bei diesem Text um eine authentische Grundlage für die objektive Beurteilung der iranischen Gesellschaft. Die Einschätzung der politischen Situation des Iran und der von dem despotischen Regime der Islamischen Republik ausgehenden Bedrohung der Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Irans wird den LeserInnen dabei nicht abgenommen.

Dieses unbedingt lesenswerte Buch könnte - wie ich finde - nicht aktueller sein. Es gibt zwar in letzter Zeit immer öfter Hinweise, die die ökonomische Öffnung gen Westen und das Theater der "Pragmatiker" im iranischen Parlament als "gemäßigte" Politik und als "zaghafte Normalisierung" deuten. Doch unter dem "Pragmatiker" Rafsandjani, dem heutigen Präsidenten der "Islamischen Republik" sitzen mehr politische Häftlinge in den Kerkern als zu den schlimmsten Zeiten unter Chomeini. Die Anzahl der (offiziellen) Hinrichtungen in der ersten Jahreshälfte 1990, unmittelbar nach dem Amtsantritt Rafsandjanis, war zum Beispiel höher, als die der Jahre 1987 und 1988 zusammen (vgl. Bernhard Schmidt: Wider den Schah und die Mullahs, in: Jörg Später: Soziale Bewegungen des "Nahen Osten", iz3w 1994).

Ich habe wenig Hoffnung, daß sich allein aufgrund solcher Literatur irgend etwas an der menschenverachtenden Asylpolitik der BRD ändert, in der selbst schwerste Folter nicht als hinreichender Asylgrund akzeptiert wird. Dennoch können und müssen gerade mit Hilfe solcher Berichte die Widersprüche zwischen offizieller Menschenrechtsrhetorik und knallharter Abschieberealität aufgezeigt werden.

11.7.95

Ali Schirasi: Lebt wohl Freunde. Erinnerungen aus dem Ewin-Gefängnis, Iran. Stephanus Edition. Uhldingen 1995. 142 S., 12.80 DM

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