linksrhein Quelle: AZW Nummer 06, erschienen am 20.07.1995
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Wo, wenn nicht in der Gewerkschaft?

Interview mit dem Ortskartellvorsitzenden Maik Schluroff zu den Perspektiven der Gewerkschaftsarbeit.

AZW: Wie war die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften des DGB in den letzten Monaten?

Maik: Große Veränderungen der Mitgliedszahlen hat es meines Wissens hier nicht gegeben. Aber durch Betriebsschließungen geringere Beitragseinnahmen. Mehr Mitglieder wäre auf jeden Fall gut: mit höherem Beitragsaufkommen läßt sich bessere Betreuung organisieren. In Konstanz sind an Einzelgewerkschaften nur die ÖTV und die HBV durch Hauptamtliche vertreten. Wer bei Heros‚ arbeitet, muß zum Beispiel nach Freiburg fahren, um ein Büro seiner Gewerkschaft zu besichtigen. In Konstanz gibt es zum Glück den DGB als Anlaufstelle, einschließlich einer Rechtsberatungsstelle, der gerade in Zeiten von Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit eine wichtige Funktion zukommt.

AZW: Der DGB zieht sich zunehmend aus der Fläche zurück. Welche Probleme ergeben sich dadurch vor Ort?

Maik: Die sonstige Arbeit des DGB (nicht: der Einzelgewerkschaften) war im Kreis Konstanz Zeit stark dadurch behindert, daß der Kreisvorsitz praktisch nicht besetzt war. Und die Kreisvorsitzende ist die einzige bezahlte DGB- "Funktionärin" für den gesamten Landkreis Konstanz, sieht man mal von der Rechtsberatungsstelle ab. Daß Gisela Reitzammer- Maier jetzt gekündigt hat, ist ein schwerer Schlag für die gewerkschaftliche Arbeit vor Ort. Ich akzeptiere trotzdem ihre Gründe: Gisela hat natürlich ein Recht auf Mutterschafts- und Erziehungsurlaub. Wo wenn nicht bei der Gewerkschaft? Die Gewerkschaftsbewegung im engeren Sinne, aber auch die Friedensbewegung, die sozialen Initiativen und die Frauenbewegung vor Ort haben dieser engagierten und kreativen Kollegin manches zu verdanken. Und Gisela war es, die - gegen Widerstände aus den eigenen Reihen - ein gegen Rechts gerichtetes Bündnis zusammenschob, als die offizielle Politik und der "Südkurier" noch salbaderte, der Rechtsextremismus sei erstens nicht gefährlich und zweitens nur durch Nichtbeachtung zu bekämpfen.

AZW: Im September wird die Kreisdelegiertenkonferenz eine neue Kreisvorsitzende wählen. Welche Erwartungen hast du an sie?

Maik: Mein/e Wunsch-Kreisvorsitzende würde die Entstehung oder Belebung überbetrieblicher Zusammenschlüsse fördern, die aus ihren eigenen Aktivitäten heraus die Notwendigkeit einer aktiven Repräsentativvertretung durch den DGB fordern, fördern und aktivieren. Auch die Öffentlichkeitsarbeit könnte verbessert werden.

AZW: Aus unserer Sicht findet derzeit ein Rückzug der Gewerkschaften aus gesellschaftlichen Konflikten statt. Wie siehst du dies?

Maik: Für Konstanz ist da sicher was dran. Bundesweit spiegelt sich darin nur wieder, daß das öffentliche Engagement insgesamt nachläßt. Davon sind die Gewerkschaften nicht unberührt.

AZW: Welche Position hast du zur berüchtigten "Standortdebatte"?

Maik: In der "Standortdebatte" kann man von den Unternehmern eigentlich nicht mehr hören als: "Löhne senken, Arbeitsschutzrechte abbauen, Streiks erschweren: Nur dann geht es der Wirtschaft gut, und dann wird es auch den Arbeitnehmern gut gehen." Unternehmer, die diesen Namen verdienen, würden doch ihre Unternehmen auf Produktionen umstellen, bei denen sie die Standortvorteile ausnutzen könnten (hohes Qualifikationsniveau, gute Infrastruktur, Sozialfrieden usw.), statt Allerweltsproduktionen zu machen, die anderswo genausogut gemacht werden können und billiger, statt sich auf Subventionen, Zölle, Importquoten und Lohnsenkungen zu verlassen.

AZW: Den Gewerkschaften wird oft Besitzstandswahrung und Versicherungsmentalität vorgeworfen?

Maik: Die DGB-Gewerkschaften können sich, anders als Parteien, nicht "freischwebend" entwickeln und äußern, weil sie sich immer auch am Bewußtseinsstand ihrer Mitglieder orientieren müssen: sie sind auf deren Vertrauen angewiesen. Und diese Mitglieder sind nun einmal - zum Glück - ziemlich repräsentativ für die Mehrheit der Bevölkerung. Revolutionäres vom DGB zu erwarten heißt andere Gewerkschaften fordern. Der DGB als Dachorganisation der Gewerkschaften sollte Zukunftsperspektiven entwickeln. Dazu müßte er aber von den Einzelgewerkschaften besser ausgestattet werden. Eine Gesellschaft, die so organisiert ist, daß sie Abermilliarden für Rüstung verschleudert, und Millionen für Katzenfutterwerbung ("Sieben-Tage-Menü, damit sich die Katze nicht langweilt"), züchtet sich nach Möglichkeit Menschen, die sie in Abhängigkeit halten kann. Die Unternehmer sind dafür insofern hauptverantwortlich, als sie diese Abhängigkeit organisieren, während man den abhängig Beschäftigten eigentlich nur predigen kann: "Seid autonomer, seid autonomer!". Eine Entwicklungsrichtung für die Gewerkschaften sehe ich darin, ihre Mitglieder zu mehr Autonomie zu verhelfen, letztlich: aus möglichst vielen abhängig Beschäftigten Unternehmer machen. Die Gesellschaft als die "freie Assoziation von Unternehmern".

AZW: Warum soll heute noch mensch Mitglied einer Gewerkschaft werden?

Maik: Eigener Vorteil und Solidarität. Der eigene Vorteil: Beratung und kostenloser Rechtsschutz in Arbeitsrechtsangelegenheiten (und zwar besser als die meisten Rechtsanwälte). Wegen Lohnerhöhungen braucht man eigentlich nicht einzutreten. Tarifverträge werden zwar nur für Gewerkschaftsmitglieder abgeschlossen, aber die Unternehmer achten peinlich darauf, daß Gewerkschaftsmitglieder nicht besser bezahlt werden! Gewerkschaften sind ganz real auf Solidarität angewiesen. Das einzig wirklich wirksame Mittel zur Durchsetzung von Forderungen ist für Gewerkschaften der Streik. Streiks mit dem Ziel: "Die Trittbrettfahrer bekommen 10% weniger Lohn als die Gewerkschaftsmitglieder" hätten keine Aussicht auf Erfolg. Zu einem Streik braucht man die Belegschaft, nicht nur die Gewerkschaftsmitglieder. Gewerkschaften sind also darauf angewiesen, stets eisern nicht nur die Interessen ihrer Mitglieder sondern die Interessen aller abhängig Beschäftigten zu vertreten. Das ist eine ganz praktische Bedeutung von "Solidarität".

AZW:Welche Inhalte sind dir für die zukünftige Gewerkschaftsarbeit wichtig?

Maik:Bei dem Millionenheer von Arbeitslosen in unserem Land können nur Zyniker die Notwendigkeit von Gewerkschaften mit dem Hinweis auf das unendlich viel größere Elend in anderen Ländern abtun. Aber unbestreitbar ist wohl auch, daß das Schicksal der Arbeitslosen in Deutschland in den Zusammenhang der großen Menschheitsfragen gehört. Drei Punkte halte ich dabei für besonders wichtig: Entmilitarisierung der Politik, grundlegende Umorientierung im Energieverbrauch, und Globalisierung des Denkens und Handelns. Vor allem in letzterem Punkt, der ja durchaus verwandt ist mit dem Begriff der "internationalen Solidarität", sehe ich noch große Defizite bei den Gewerkschaften zwischen Theorie und Praxis. Ich wünsche mir, daß sich das ändert.

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