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Mord folgte der Vertreibung

18.05.2002, 10:09, Engelsing, Tobias

Antisemitismus | Konstanz | Nationalsozialismus | Faschismus | Holocaust

Jüdische Gemeinde: Seit 1933 diskriminiert - Wer nicht emigrierte, wurde umgebracht


Was fühlte ein Mensch, der in Konstanz aufgewachsen war, dessen Eltern hier ein Geschäft betrieben und Steuern zahlten, wenn ihm wegen seiner Religionszugehörigkeit plötzlich der Eintritt ins Hörnle verweigert wurde und auf Parkbänken des Stadtgartens stand: "Für Juden verboten" ?

Die Geschichte der Judenverfolgung offenbart auch in der beschaulichen Provinzstadt Konstanz menschliche Abgründe, kalte Gier bei den Tätern und familiäre Tragödien auf Seiten der Opfer. Vor 1933 lebten etwa 600 jüdische Menschen in der Stadt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugezogen, trugen die jüdischen Familien als Kaufleute und Handwerker wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung der kleinen badischen Amtsstadt bei.

Mit der Machtergreifung setzte auch in der Provinz die Diskriminierung ein. Jüdische Ärzte, Anwälte und andere Berufe durften nicht mehr praktizieren, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wurde untersagt, "arische" Vertragspartner waren an Rechtsgeschäfte mit Juden nicht mehr gebunden.

Im Geheimen erlebten auch die Konstanzer Juden Zuwendung und Protest ihrer Nachbarn gegen die Diskriminierung. Doch es gab auch den latenten Antijudaismus der beiden großen Kirchen, Neid auf den wirtschaftlichen Erfolg und die Gier der Konkurrenten. So wurde auch in Konstanz fleißig "arisiert": Eine verschleiernde Vokabel für kaum verhüllte Nötigung zum Geschäftsverkauf.

Die meisten jüdischen Familien emigrierten, solange es möglich war. Wo immer ein Land die Aufnahme anbot, musste man zugreifen und alles, was Generationen aufgebaut hatten, zurücklassen.

Noch kurz vor Kriegsbeginn im September 1939 gelang es, die letzten Jugendlichen und Kinder auf dem Konstanzer Bahnhof in einen Zug Richtung England zu setzen. Unser Bild zeigt diese Szene. "Wir wussten, dass wir unsere Eltern nicht mehr lebend sehen würden", berichtete Jahrzehnte später eine der damals geretteten jungen Frauen, als sie das bedrückende Fotodokument mit in die verlorene Heimat brachte.

Die Ahnung bewahrheitete sich: Die letzten rund 100 überwiegend älteren Konstanzer Juden wurden im Oktober 1940 ins Lager Gurs in Südfrankreich und von dort 1941/42in die Vernichtungslager in Polen deportiert. Nur eine Handvoll der Deportierten überlebte den Holocaust.

Damals auf dem Konstanzer Bahnhof habe man gelächelt und bemüht locker Scherze gemacht, so als ob man Abschied nur für die Dauer einiger Ferienwochen nehme, berichtete eine der emigrierten jungen Frauen. Doch wer das unscharfe Foto genauer betrachtet wird feststellen: Die Mütter lächeln nicht.

Tobias Engelsing


Begleitend zur laufenden Ausstellung "mager&knapp" in der Alten Sparkasse veröffentlichen wir die Serie "Konstanzer Bilder" aus den Jahren 1920 bis 1960.

Quelle: Südkurier, 18.5.02


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