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17/06/07 18:15

Verelendungsprogramm

02.07.2004, 13:04, junge Welt

Repression | Soziales | Kapitalismus | Arbeitslosigkeit | Hartz-Gesetze

Massenverarmung und Entmündigung der Erwerbslosen sind die absehbaren Folgen von Hartz IV. Über die Auswirkungen der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Von Aktivisten der Initiative »Anders arbeiten«



Dortmunder Aufruf" für eine bundesweite Aktion „AgenturSchluss“ (Arbeitstitel) - Proteste in und um die örtlichen Agenturen für Arbeit am Montag, dem 3.1.2005 - siehe "Heisser Herbst?"


Am 1. Januar 2005 sollen die Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt werden, das Ganze nennt sich Hartz IV. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen vertritt hierzu folgende Thesen:

1. Das neue ALG II (Arbeitslosengeld II) liegt unter dem Niveau der heutigen Sozialhilfe.

2. Das ALG II stellt Familien mit Kindern schlechter.

3. Das ALG II ist eine direkte Rutsche in die Armut.

4. Mit Hilfe des ALG II erfolgt eine Demontage der Sozialhilfe als unterstem Netz.

5. Das ALG II fördert Arbeit um jeden Preis.

6. Das Prinzip der Bundesregierung lautet: »Fordern ohne zu fördern.«

Was ändert sich?

Vieles ist dabei noch in der Diskussion, wie das Wohngeld und die Zuständigkeiten. Konkretere Angaben zu Regelsatz, Vermögensanrechnung, Wohngeld liegen jedoch schon vor: Einheitlich erhält jeder Arbeitssuchende, der nicht über genügend Erspartes verfügt (200 Euro pro Lebensjahr), monatlich 345 Euro im Westen und 331 Euro im Osten. Pauschalbeträge für Fahrten , Bewerbungen, einmalige Anschaffungen usw. sind in diesem Betrag bereits enthalten. Zusätzlich gibt es innerhalb von zwei Jahren nach dem Bezug von ALG I (das bisherige Arbeitslosengeld), maximal 120 Euro im ersten Jahr und 60 Euro im zweiten Jahr. Menschen, die in einer Haushaltsgemeinschaft leben, erhalten 90 Prozent dieses Betrages.

Darüber hinaus soll es statt des bisherigen Wohngelds einen von den Kommunen finanzierten pauschalen Mietzuschuß geben. Über dessen Höhe wird derzeit noch gefeilscht. Die Stadt Dresden hat eine Pauschale von 50 Euro in die Diskussion geworfen, von seiten der Regierung wurde beispielsweise vorgeschlagen die Unterkunftskosten für Einzelpersonen zu beschränken und eine Obergrenze von 180 Euro zu setzen. In jedem Fall werden die Zahlungen an die Bedürftigen niedriger sein als bisher. Desweiteren soll noch eine Energiekostenpauschale durch die Kommune bezahlt werden, über deren maximale Höhe heute nur spekuliert werden kann; Daten liegen noch nicht auf dem Tisch. Aber Anspruch auf Leistungen hat der Antragsteller nur noch, wenn die Bedarfsgemeinschaft und nicht das Individuum über unzureichende finanzielle Mittel verfügt.

Kürzungssystem

Damit Erwerbslose mit 345 Euro im Monat nicht in Saus und Braus leben, gibt es jetzt ein umfangreiches Kürzungssystem. Meldet sich der Erwerbslose verspätet auf dem Amt oder nimmt er einen angeordneten Arzttermin nicht war, wird dies beispielsweise mit einer zehnprozentigen Kürzung auf drei Monate geahndet. Wer eine Arbeit, eine Fortbildung oder Maßnahme ohne wichtigen Grund nicht antritt oder abbricht, wer sich bei einem Vorstellungsgespräch in unangemessener Kleidung bewirbt, wer eine gemeinnützige Arbeit ablehnt, wer sich »unwirtschaftlich« verhält, wer sein Einkommen oder Vermögen mindert, um die Gewährung von ALG II herbeizuführen, wird für drei Monate mit einer dreißigprozentigen Kürzung bedacht. Wer nach einem Vorstellungsgespräch nicht angenommen wird, muß gegebenenfalls beweisen, daß es nicht sein Verschulden war, daß er nicht angestellt wurde, andernfalls erfolgt eine dreißigprozentige Kürzung für drei Monate. Diese Kürzungen sind addierbar, so daß es theoretisch denkbar ist, etwa nur einen Betrag in Höhe von 34,50 Euro für einen Monat zu erhalten. Der Weg zu den Gerichten soll erschwert werden, künftig sollen Gebühren bei den Sozialgerichten erhoben werden. In keinem Fall gibt es die Möglichkeit, zusätzlich Sozialhilfe zu erhalten. (Diese letzte »Hängematte« bleibt Kranken und Behinderten vorbehalten.) Auch die GEZ-Befreiung und der Sozialtarif bei der Telekom entfallen künftig.

Bei Sanktionen fällt der Zuschlag auf das ALG II weg. Schon bei der ersten Pflichtverletzung wird bei Jugendlichen unter 25 Jahren lediglich die Unterkunft und Heizung gesichert; sie erhalten Lebensmittelgutscheine und Sachleistungen. Bei der zweiten Pflichtverletzung kann bei Erwachsenen auch bei Leistungen für Unterkunft, Heizung, Mehrbedarf und Darlehen gekürzt werden. Bei der dritten Pflichtverletzung können Sachleistungen erbracht werden und bei der vierten Pflichtverletzung kann das ALG II ganz wegfallen.

Zuverdienst

Bisher konnten Erwerbslose 165 Euro im Monat nebenher verdienen, ohne ihren Anspruch auf Arbeitslosenhilfe zu verlieren. Jetzt dürfen die Bezieher von Arbeitslosengeld Geld hinzu verdienen, aber von den ersten 400 Euro nur noch 15 Prozent behalten, also 60 Euro. Weiterhin müssen sie für ihre Fahrtkosten selbst aufkommen. Bei Zuverdiensten bis zu 900 Euro beträgt der Freibetrag 60 Euro (15 Prozent von 400 Euro) zzgl. 30 Prozent des 400 Euro übersteigenden Einkommens, bei bis zu 1 500 Euro 60 Euro zzgl. 150 Euro (30 Prozent von 900 Euro-400 Euro) zzgl. 15 Prozent des 900 Euro übersteigenden Einkommens. Der maximale Freibetrag beträgt also 300 Euro. Soweit der § 30 ALG II. Bei der Anrechnung von Einkommen hat die CDU im Vermittlungsausschuß ihr Modell durchgesetzt. Die 165 Euro Freibetrag werden dann erst bei einem Einkommen von 750 Euro erreicht.

Arbeitszwang

Jeder Bezieher von ALG II muß dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und gegebenenfalls zumutbare Arbeit auch ohne Entgelt leisten. Im Verweigerungsfall tritt die Kürzungsregelung in Kraft. Zumutbar ist es z.B. wenn ein Diplomingenieur zur Hundekotbeseitigung im Park ohne Arbeitsvertrag und ohne Gehalt eingesetzt wird. Er erhält dafür weiterhin seine Arbeitslosenhilfe, sprich ALG II. Jede Arbeit ist zumutbar. Zum Katalog der zumutbaren Arbeiten gehören Maßnahmen, die nicht dem Beruf oder der zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit entsprechen, die in Hinblick auf den erlernten Beruf und der erworbenen Qualifikation als geringerwertiger anzusehen sind, deren Beschäftigungsort weiter entfernt vom Wohnort ist als ein früherer Beschäftigungsort, deren Arbeitsbedingungen ungünstiger sind als bei bisherigen Beschäftigungen. Von der Zumutbarkeit ausgenommen sind Arbeiten, zu denen der erwerbsfähige Erwerblose von seinen Kräften her nicht in der Lage ist, die einem Hilfeempfänger die künftige Ausübung seiner bisherigen überwiegenden Tätigkeit erschweren würden (z.B. der Klavierspieler auf dem Bau), deren Ausübung die Erziehung eines Kindes (unter drei Jahren) gefährdet, deren Ausübung mit der Pflege pflegebedürftiger Angehöriger nicht vereinbar wäre, sofern die Pflege nicht auf andere Weise sichergestellt werden kann oder deren Ausübung ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht. Es besteht also kein Schutz von beruflicher Qualifikation und Neigung. Beschäftigung geht vor Ausbildung, auch bei Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren. Von der Bereitschaft zur Aufnahme jeglicher Beschäftigung werden die »passiven« Leistungen zur Existenzsicherung abhängig gemacht.

Eingliederungsvereinbarung

Um das alles möglich zu machen, muß eine sogenannte Eingliederungsvereinbarung unterschrieben werden. Ohne Eingliederungsvereinbarung gibt es keine Leistung. Der Arbeitssuchende muß unterschreiben, egal, was in dieser Vereinbarung geschrieben steht. Heute gibt es noch ein Widerspruchsrecht, daß zum 1.1.05 jedoch ausgehebelt wird. In der Eingliederungsvereinbarung steht, welche Bemühungen der Erwerbslose in welcher Häufigkeit zur Eingliederung in die Lohnarbeitswelt mindestens unternehmen muß und in welcher Form er Bemühungen nachzuweisen hat.

Die Aussichten

Aufgrund des niedrigen Regelsatzes des ALG II werden alle Langzeitarbeitslosen in die Armut getrieben, die Folge wird die Bildung von Ghettos vor allem in den Großstädten sein. Aber es geht noch weiter: Der knallharte Sanktionskatalog führt zur Verelendung. Jugendliche erhalten nach der ersten Pflichtverletzung kein Geld mehr, sondern nur noch Lebensmittelgutscheine und Sachleistungen. Gerade bei Jugendlichen mit einer schlechteren Ausbildung ist eine Zunahme der Kriminalität zu erwarten. Bei Erwachsenen kann das ALG II nach der vierten Pflichtverletzung ganz wegfallen. Der auf die Bedürftigen ausgeübte Druck wird zu einem Anstieg psychischer Erkrankungen führen. Die Versorgung mit Nahrung wird zwar noch durch Suppenküchen und Lebensmittelgutscheine gesichert, die Wohnung kann jedoch gefährdet sein und Obdachlosigkeit drohen. Jede Arbeit ist zumutbar, das heißt, es herrscht faktisch Arbeitszwang. Die Erwerbslosen werden in prekäre Jobs gedrängt oder in die Schwarzarbeit, die wiederum kriminalisiert wird. Durch die geringen Zuverdienstmöglichkeiten lohnt sich auch zusätzliche Arbeit nicht. Mit der Eingliederungsvereinbarung werden die Erwerbslosen entmündigt, sie verstößt darüber hinaus gegen die Vertragsfreiheit. Die Ämter können für sich einen enormen Machtzuwachs verbuchen. Aufgrund der Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit geben die Arbeitsamtsbeschäftigten den Druck, dem sie von Seiten der Vorgesetzten ausgesetzt sind, an die Erwerbslosen weiter. Aber viele Erwerbslose werden gar nicht mehr in den »Genuß« der Schikanen kommen, denn in Folge der veränderten Einkommensanrechnung werden sie kein ALG II mehr erhalten. Die Arbeitslosenstatistik wird bereinigt und verfälscht, denn viele fallen aus dem ALG II heraus bzw. suchen nach prekären Auswegen wie Ich-AGs. Mit Hartz IV werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, sondern es verstärkt sich der Druck auf den Arbeitsmarkt und die Beschäftigten. Die Kommunen stöhnen schon heute unter der Last der Sozialhilfekosten; mit Hartz IV sollen sie die Unterkunftskosten für alle ALG II-Bezieher übernehmen. Das führt nicht zur Entlastung, sondern zu erheblicher Mehrbelastung.

Wem aber bringt Hartz IV etwas? Natürlich dem Kapital, das eine weitere Verbilligung der Ware Arbeitskraft anstrebt. Die Verwertungsmaschinerie soll laufen und die Lohnarbeiterschaft optimal ausgebeutet werden.

Wenn ab 19.7.04 die Anträge für das ALG II mit 17 Seiten Formularen und Hinweisen rausgeschickt werden, wird sich so mancher Erwerbslose in diesem Land wundern, in welch »freiheitlicher Demokratie« er lebt. Erwerbslose werden zu gläsernen Menschen, wer von diesem Staat Geld haben möchte, um sein Überleben zu sichern, weil es einfach nicht ausreichend Arbeitsplätze gibt, muß sich nackt ausziehen. Was bleibt, ist die Demütigung von Millionen Menschen, die sich auch noch selbst die Schuld an der eigenen Lage geben sollen. Mit Demokratie hat das nichts zu tun.

Anne Seeck/Dieter Hoch

http://www.jungewelt.de/2004/07-02/006.php

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