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24/06/07 12:20

Wangen: Bullenstaat gegen Soliparty

05.09.2003, 00:23, imc germany

Repression | Wangen | Lindau | Polizei | Chaostage

Eine Soliparty in der Tonne (Wangen im Allgäu) bringt den Bullenstaat zum Rotieren – die Tonne bleibt zu


Heute nachmittag gab die Wangener Polizei Mitgliedern des autonomen Jugendzentrums Tonne (die übrigens mit Gründungsjahr 1972 eines der ältesten solchen Zentren der BRD ist) bekannt, daß sie etwas gegen die Soliparty hat, die morgen unter dem Titel "Rock against Bullenstaat" dort stattfinden sollte. Sorgen, daß sie sich mit dieser affirmativen Aktion irgendwie lächerlich machen könnten, scheinen sie sich nicht zu machen, und auch auf feinsinnige juristische Begründungen für dieses polizeiliche Veranstaltungsverbot verzichten sie. Stattdessen wurde einfach gedroht, daß die städtischen Zuschüsse für das Juzi gestrichen würden und auch die Gemeinnützigkeit des Tonne-Vereins in Gefahr sei, wenn die Party stattfindet.

Die DJs, die bei dieser Party auflegen sollten, wollten ihre Gage zugunsten der Klagen gegen den Polizeieinsatz bei den Lindauer Chaostagen 1997 spenden. Seit 1991 hatten jährlich Chaostage mit zwanzig bis fünfhundert Punks in Lindau stattgefunden. Es waren großartige Punk-Partys, teilweise mit Konzerten, und es gab kaum Probleme, von vereinzelten "Sachbeschädigungen und Diebstählen" in den Jahren 1994 und 1995 mal abgesehen. Die Stadt war halt einfach mal ein paar schöne Sommertage lang angenehm bunt. Die Polizei hielt sich meistens zurück, 1995 sogar mit "Deeskalationskonzept".

1997 waren Chaostage der politischen Führung (Lindau liegt in Bayern) allerdings aus ideologischen Gründen nicht mehr genehm, deswegen wurde ein Polizeieinsatz durchgeführt, für den viele der Betroffenen (das war vor allem die Lindauer Bevölkerung unter 30) nur eine Beschreibung hatten: "Bullenstaat!"

In der Stadt herrschte quasi der Ausnahmezustand. Die Polizei verteilte 607 Platzverweise und nahm rund 40 Leute in Vorbeugegewahrsam, sprich, die hatten nichts angestellt, sondern die wurden einfach so weggesperrt. Größtenteils über das ganze Wochenende! Es erwischte sogar LindauerInnen, die aus den aberwitzigsten Gründen in der "Punkkartei" gelandet waren oder von den Einsatzkräften dort einsortiert wurden, z. B. RaverInnen mit bunten Haaren.

Ergebnis war eine ganze Reihe von Strafanzeigen gegen die Polizei (Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Freiheitsberaubung etc.) und Klagen gegen Platzverweise, Polizeigewahrsam und das Versammlungsverbot. Das alles kostete eine gewaltige Menge Geld. Um das endlich mal abzuzahlen, wurde heuer unter dem Motto "Rock against Bullenstaat" zunächst eine Konzertreihe in der ganzen Region (einschließlich Württemberg und Vorarlberg) organisiert, die ohne Probleme über die Bühne ging. Zehn Bands gaben ihr Bestes, mehrere hundert BesucherInnen hatten ihren Spaß, und der Prozeßkostenberg schmolz beträchtlich.

Auch die Mitglieder des Tonne-Vereins wollten ihrer Antipathie gegen polizeistaatliche Exzesse (wie sie in Lindau vorgefallen waren) konkrete Taten folgen lassen und boten deshalb der Soli-Gruppe an, einmal im Monat die freitägliche Punk-Disco zu gestalten. Also wurde die Party angekündigt:

"ROCK AGAINST BULLENSTAAT - Soliparty - DJ Semper Bäne from Auxburg, das Revolusongsoundsystem mit DJ Blac & DJ Bloc sowie ein ultraspezieller Gast-DJ, im Erdgeschoß gibt's eine Ausstellung über die Chaostage Lindau und den Prozeß, Videos (Argentinien, Genua, ...) und einen revolutionären Büchertisch, und zuschütten könnt Ihr Euch mit Tonne-Spezial-Bowle."

Im Stadtrat wurde das Thema offenbar bereits behandelt, natürlich ohne daß es jemand für nötig gehalten hätte, mit der Tonne deswegen Kontakt aufzunehmen, sondern man schickt den Leuten halt gleich die Bullen auf den Hals. Problem ist anscheinend hauptsächlich der Titel der Veranstaltung. (Daß unter diesem Motto schon seit Ostern Partys und Konzerte in der Region stattgefunden haben, hat offenbar keineR bemerkt.) Denn die Party an sich (siehe oben) und das inhaltliche Ding, daß da ein paar Leute versuchen, mit juristischen Mitteln ihre Grundrechte durchzusetzen, sind ja wohl in einem Rechtsstaat absolut OK. Oder?!?

Die treibende Kraft hinter alledem sitzt wieder mal in Bayern, genauer gesagt beim Kemptener Staatsschutz. (In Kempten liegen auch an den Tankstellen Broschüren von der Polizei aus, daß Autofahrer bei Polizeikontrollen die Hände aufs Lenkrad legen sollen, um nicht von übernervösen Bullen abgeknallt zu werden, die bloß ihre Pflicht tun. Also, theoretisch werden diese Broschüren ja bundesweit aufgelegt, aber daß sie ernsthaft verbreitet werden, hab ich bisher nur in Kempten gesehen.)

Wie sich zeigt, ist der Bullenstaat also nicht auf Bayern beschränkt, sondern umfaßt durchaus auch württembergisches Hoheitsgebiet. Und da hat er SympathisantInnen, die sich gar nicht über solche Aktionen freuen. Eingeschaltet haben sich mittlerweile Stadtrat, Polizei, BKA, Staatsschutz und Verfassungsschutz (sorry, falls ich irgendjemanden vergessen hab). Die haben offenbar alle den Bullenstaat lieber als die Party.

Und darum heißt es morgen in der Tonne: "Geschlossen wegen Bullenstaat!"

Quod erat demonstrandum!

von Punkrock Lindau - 04.09.2003 22:47

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Im folgenden dokumentieren wir noch den Text von der Tonne-Homepage zur Party:

Wir brauchen Geld für eine Verfassungsbeschwerde!

Es geht eigentlich um eine simple Frage: Wie groß darf der Bereich sein, aus dem einen die Polizei per Platzverweis verweisen darf? Dazu gibt es zwei verschiedene Antworten in zwei verschiedenen juristischen Kommentaren. Ein ehemaliger Verfassungsrichter sagt, "Platz" könne ja wohl nur ein Platz, ein Straßenabschnitt oder ein Gebäude sein. So ähnlich haben niedersächsische Verwaltungsgerichte bereits geurteilt. Ein Jurist der bayrischen Polizei schreibt, der Platzverweis könne sich problemlos auch auf ganze Städte, Landkreise u. ä. erstrecken, er dürfe wohl nur nicht für den gesamten Geltungsbereich des Polizeiaufgabengesetzes, sprich ganz Bayern, erlassen werden. Auf dieser Linie liegen auch die bayrischen Gerichte bis jetzt.
Wir wollen's jetzt wissen! Vor sechs Jahren, während der Lindauer Chaostage 1997, haben in Lindau mehrere Leute Platzverweise bekommen. Ein Lindauer bekam einen Platzverweis für die Insel, obwohl er dort arbeiten mußte – nach der Arbeit sofort verschwinden, hieß die Anweisung! Mehrere LindauerInnen bekamen sogar einen Platzverweis für das Gebiet, in dem sie selber wohnten, und somit quasi Hausarrest, wovon ja eigentlich im Polizeiaufgabengesetz nichts steht. Ein Wasserburger, der einen Platzverweis für die ganze Insel Lindau nicht akzeptieren wollte (und dafür gleich 20 Stunden hinter Gittern verbrachte), hat seine Klage jetzt bis zur Verfassungsbeschwerde durchgezogen. Das Ergebnis ist noch offen.
Ein Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht würde bedeuten, daß die Polizei nicht mehr wie bisher mit "großzügigen" Platzverweisen einfach alle mißliebigen Elemente willkürlich (denn Platzverweise werden einfach "nach polizeilichem Ermessen" verteilt) aus einer Stadt oder gar einer ganzen Region verbannen könnte, wie dies in letzter Zeit immer wieder im Umfeld von verbotenen Demonstrationen (in Einzelfällen sogar bei genehmigten!), Aktionen des zivilen Ungehorsams, Castor-Transporten und ähnlichem geschieht. (Denkt bloß mal an München und den Widerstand gegen die Sicherheitskonferenz 2002 oder den Nazi-Aufmarsch im Oktober!) Es geht also darum, den BürgerInnen dieses Landes den politischen Widerstand gegen die herrschenden Mißstände etwas zu erleichtern und gegenüber dem Staat wieder die Zivilgesellschaft zu stärken, deren Bürgerrechte unter den Folgen des 11. September doch ganz gewaltig gelitten haben. Mit dem "Rock Against Bullenstaat" wollen wir zur Finanzierung dieser Klage gegen überhandnehmende polizeistaatliche Zustände beitragen. Die offene Rechnung beim Anwalt beläuft sich auf noch 1574,46€.

Homepage:: http://www.juzetonne.de


Quelle: http://de.indymedia.org/2003/09/60971.shtml

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