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letzte Änderung: 16/11/02 03:45

Asyl

Offener Brief 'Hilferuf vom Stieg'

16.11.2002, 03:35, Flüchtlinge vom Sammellager Stieg

Dramatischer Appell von 60 (der ehemals 150) noch im Sammellager Stieg (bei Albbruck, Landkreis Waldshut) verbliebenen Flüchtlinge, sich für ihre menschenwürdige Unterbringung einzusetzen


An internationale Organisationen, Asylorganisationen, humanitäre Gruppen und Vereinigungen, an die Medien, etc.

Betr. Brief "Hilferuf vom Stieg" Albbruck, Landkreis Waldshut

Im Auftrag der Mehrheit der anwesenden Flüchtlinge in der Unterkunft "Stieg" bei Albbruck überreichen wir den in der Anlage beigefügten "Hilferuf vom Stieg". Er wurde von den dauerhaft dort wohnenden Menschen verfasst, die sich an die Öffentlichkeit wenden, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen. Von formal ca. 150 Personen, die dort offiziell untergebracht sind, leben ca. 60 Personen tatsächlich dort. Die anderen halten sich überwiegend nicht in der Unterkunft auf, da die Lebensumstände menschenunwürdig sind. Die verbliebenen ca. 60 Personen haben den beigefügten Aufruf in der grossen Mehrheit unterschrieben, die Unterschriften sind - aus Sicherheitsgründen - bei einem Notar hinterlegt. Es steht dennoch zu befürchten, dass das Landratsamt nach "Rädelsführern" Ausschau halten wird.

Es hat in den letzten 2 Jahren dort zwei "gelungene" Selbstmorde gegeben, einige andere wurden durch psychiatrische Notinterventionen verhindert. Viele befinden sich in einem schlechten psychischen Allgemeinzustand.

Die Betroffenen sind auf Unterstützung angewiesen; der für das Lager zuständige Landrat Wütz erklärt offen, es handele sich hierbei "nicht um ein Mädchenpensionat" (Stuttg. Ztg., 13.3. 01). Einer auf Änderung der Verhältnisse angelegten Diskussion ist er nicht zugänglich. Das zeigt bereits die Tatsache, dass nach dem letzten Brand innerhalb von wenigen Tagen die Personen wieder in dieses Heim zurückgebracht wurden (obwohl es dort bereits mind. 4 Mal gebrannt hat!), und er in der Presse verbreiten lässt, die dort wohnenden Flüchtlinge würden den Steig "vermissen" (Südkurier, 17.10.02). Das Regierungspräsidium Freiburg ist Aufsichtsbehörde für die Landkreise. Hier - wie auch beim Innenministerium des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart - sind die erforderlichen Mindeststandards für Unterbringung und Aufenthalt von Flüchtlingen einzufordern. Gemessen darin ist die Unterbringung in Albbruck/Stieg nicht hinzunehmen. Die darin lebenden Menschen werden als Menschen dritter Klasse behandelt. "Krankmachender Stress entsteht, wenn sich Menschen ihren Aufgaben oder bestimmten Situation nicht mehr gewachsen fühlen, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen, wenn sie sich als Opfer der Verhältnisse erfahren, die sich nicht glauben beeinflussen zu können, wenn sie im wörtlichen Sinn trostlos sind..." Diese Erkenntnisse sind in dem Dt. Bundestag in einer Untersuchung vorgelegt worden (Drucksache 12/7560), vgl. Anlage.

Wir fordern Sie daher - im Sinn der BewohnerInnen - auf, gegenüber den angeführten Behörden vorstellig zu werden, um eine Änderung der untragbaren Situation zu erreichen.

Landrat Dr. B. Wütz Landratsamt Waldshut Kaiserstraße 110 79761 Waldshut- Tiengen, Tel.: 07751/ 86-0 Fax 07751/ 86-159

Regierungspräsidium Freiburg Regierungspräsident Ungern-Sternberg Kaiser Joseph Str. 167 79098 Freiburg Tel. 0761- 208-0 Fax 0761- 3899620

Innenministerium des Landes Ba-Wü z. Hd. Dr. T. Schäuble Dorotheenstr. 6 70173 Stuttgart Tel. 0711-213-4 Fax 0711- 213-4

Anhang:

Folgende Auswirkungen der Lebensbedingungen auf die Gesundheit von Menschen sind dem Bundestag bekannt. Bundestagsdrucksache (12/7560): "Krankmachender Streß entsteht, wenn sich Menschen ihren Aufgaben oder bestimmten Situationen nicht mehr gewachsen fühlen, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen, wenn sie sich als Opfer von Verhältnissen erfahren, die sie nicht glauben beeinflussen zu können, wenn sie im wörtlichen Sinn trostlos sind." "Als ... Risikofaktoren können insbesondere gelten: - eine beengte sozio-ökonomische Lage.... - ungünstige Wohnbedingungen, d.h. beengte Wohnverhältnisse und hohe Wohnungsdichte, aber auch Lärmbelästigungen, fehlende Einbindung in die Nachbarschaft und ungenügende Bewegungsmöglichkeiten für die Kinder; - belastende Arbeitsbedingungen... - das Fehlen naher Verwandter und Freunde und der damit normalerweise erwartbaren Unterstützungsleistungen; persönliche Belastungen der Eltern ... Je mehr dieser Risikofaktoren zusammentreffen, je höher die Kumulation der Belastungen wird, desto wahrscheinlicher führen sie bei einzelnen oder bei allen Familienmitgliedern zu psychischen (insb. depressiven) Folgewirkungen, die sich nicht selten auch in körperlichen Erkrankungen äußern oder aber zu Fehlverhalten wie Gewaltsamkeit, Sucht oder abweichendem Verhalten führen, ...." "Der Zusammenhang zwischen Familie und Gesundheit wird somit durch das Alltagsleben hergestellt: Der Familienalltag stellt eine wesentliche Ressource für die Erhaltung der Lebensfähigkeit und der Gesundheit der einzelnen Personen dar. ... Im einzelnen dürfen insbesondere folgende, den Familienalltag mit prägende Aktivitäten gesundheitlich relevant sein: Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme, Regeneration: Schlafen, Entspannen, Körperpflege, Wohnen, inkl. Umweltschutz, Freizeitgestaltung, insbesondere körperliche Betätigung, emotionale Anerkennung und Unterstützung..." Jeder bekannte Risikofaktor für eine seelische Erkrankung ist per Gesetz den Flüchtlingen auferlegt.

DOKUMENTATION:

Der Offene Brief "Hilferuf vom Stieg"

Wir, 150 Flüchtlinge aus über 10 Ländern, sind in der Flüchtlingsunterkunft Albbruck-Stieg (Landkreis Waldshut) untergebracht. Die Unterkunft war früher ein Erholungsheim, sie liegt mitten im Wald. Niemand von uns hat selbst entschieden, hier zu wohnen. Wir leben hier völlig isoliert einen fremdbestimmten Alltag, der uns verzweifeln lässt und krank macht. Unsere Bitten und Forderungen nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen sind in den Wind gesprochen. Wir werden nicht gehört. Das sind die Gründe, warum wir uns mit diesem Hilferuf an alle Menschen, Gruppen, Organisationen, Verbände und Parteien innerhalb und außerhalb des Landkreises Waldshut, national und international, wenden.

Wir leben hier ganz isoliert:
Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren nur von 6.50 bis 17.10 Uhr die Unterkunft an, an Wochenenden fährt der Bus nur Sa ein- / So zweimal am Tag. Während der Schulferien gibt es fast keine Verkehrsanbindung. Bekannte, die kein Auto haben, können uns abends nicht besuchen. Niemand darf übernachten. Wir haben keinen Kontakt zu den Einheimischen. In der näheren Umgebung liegen Dörfer mit wenigen hundert Einwohnern. Die nächste Stadt ist 9 km entfernt.

Unsere Kinder können keine Freunde treffen.
Wir Kinder werden von den anderen "die Stiegler" genannt und sind deshalb Außenseiter und werden gehänselt. Niemand will etwas mit uns zu tun haben und niemand kommt uns besuchen. Wir haben Angst. Zitat eines Kindes: „Wir haben keine Freunde in der Schule, aber die im Kindergarten sind anders, da sagte ein Dreijähriger zu mir: ‚willst du mein Freund sein‘“

Uns Eltern ist es durch die schlechte Verkehrsanbindung nicht möglich einen Elternabend in der Schule unserer Kinder zu besuchen.

Wir sind zum Nichtstun verdammt:
Es ist für uns sehr schwer, eine Arbeit zu finden. Liegt die Arbeitszeit in den Abendstunden oder am Wochenende, wie es beispielsweise in der Gastronomie oft der Fall ist, können wir wegen der fehlenden Verkehrsanbindung die Arbeit nicht annehmen.

Wir können hier nicht weg:
Wir selbst dürfen nur 15 Tage im Jahr - mit einer besonderen Genehmigung - den Landkreis verlassen, die restlichen 350 Tage sollen wir auf dem Stieg bleiben. Wir haben keine Freizeitmöglichkeiten, können keine Freunde treffen, können uns nicht bei Vereinen engagieren, keine Kurse am Abend besuchen und auch nicht an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen.

Wir dürfen selbst die alltäglichsten Dinge nicht selbst bestimmen:
Wir leben zu zweit, zu dritt oder zu viert in kleinen Zimmern. 4,5 qm sind für jede Person vorgesehen. Wir haben kein Recht auf einen freien Einkauf. Eine alleinstehende Person darf nur am Dienstag in der Zeit von 14 bis 16 Uhr einkaufen und zwar in einem einzigen festgelegten Geschäft. Familien dürfen zweimal in der Woche einkaufen. Kann jemand zu der festgelegten Zeit nicht einkaufen, muss er oder sie bis zur nächsten Woche warten. Hin und wieder werden wir beim Einkauf überwacht. Manche von uns dürfen sechs Monate nicht in dem Geschäft einkaufen. Es wird ihnen unterstellt etwas mitgenommen zu haben. Es gibt aber keine Beweise. Andere müssen dann für diese einkaufen. Manchmal werden Waren, die wir ausgewählt haben, aussortiert. Manche Dinge dürfen wir nicht kaufen, zum Beispiel Spielzeug für die Kinder. Kleider können wir gar nicht in einem Geschäft kaufen: zweimal im Jahr kommt ein Kleiderwagen zum Wohnheim. Darin sind wenige Kleider angeboten, unter denen wir auswählen müssen.

Wir sind dankbar, dass wir hier Aufnahme gefunden haben und Hilfe erhalten!

Gleichzeitig kränkt und verletzt uns, dass die Hilfe in dieser Weise gewährt wird: Warum werden wir bevormundet und reglementiert, als wären wir Betrüger oder nicht zurechnungsfähig? Warum werden wir zum Aufenthalt an einem Ort im Abseits gezwungen? Wir fühlen uns ohnehin entwurzelt und verloren und wünschen uns, wieder einer Gemeinschaft anzugehören. Manchmal erkennen wir uns selbst nicht mehr, weil wir kein normales Leben führen können. Immer nur Menschen zu sehen, die nur ein Schatten ihrer selbst sind, das zermürbt auch.

Zwei Frauen haben in der Unterkunft Selbstmord begangen. Einige von uns sind in ärztlicher Behandlung und können die Isolation nur durch Einnahme von Medikamenten aushalten. Viele von uns sind krank und können nicht genesen.

Viermal hat es in der Unterkunft gebrannt. Wir wissen nicht, wer das Feuer gelegt hat. Zuletzt hat es am Sonntagmorgen, den 6. Oktober 2002, gebrannt, gleich an zwei Stellen. Nur durch Zufall wurde niemand verletzt. Viele standen in den Nachthemden vor dem brennenden Gebäude, bis nach ca. 20 Minuten die Feuerwehr und das Rote Kreuz kamen. Nachdem wir zwei Nächte in der Turnhalle in Unteralpfen untergebracht und versorgt worden waren, wurde ein teil von uns in das Heim im Stieg zurückgebracht. Wer nicht zurück wollte, wurde mit polizeilichem Druck zurückgezwungen. Auch einige Familien mit Kindern wollten nicht zurück. Wir wohnen seitdem in dem Teil der Unterkunft, der vom Feuer nicht beschädigt wurde. Aber auch in diesem Teil gab es schon eine Brandstiftung. Wir können nicht schlafen und halten es nicht mehr aus. Wir fordern die Schließung der Flüchtlingsunterkunft in Albbruck-Stieg, bevor es zu weiteren Opfern kommt.

Einige von uns haben einen Brief verfasst und wollen diesen an den UNHCR in Berlin schicken.

Wir möchten weg aus dieser Unterkunft.
Wir möchten in einer normalen Wohngegend in einer normalen Wohnung leben.
Wir möchten auswählen und einkaufen, wie es normal ist.
Wir möchten Verwandte und Freunde besuchen, ohne einen Antrag stellen zu müssen.
Wir möchten, dass die Hilfe, die wir hier bekommen, uns nicht ausgrenzt und nicht demütigt.

UnterzeichnerInnen:
DIE UNTERSCHRIFTEN WURDEN BEI EINEM NOTARIAT HINTERLEGT.
Unterschriften von 49 im Stieg lebenden Bewohner (inkl. Kinder) aus Irak, Türkei, Pakistan, Indien, Kosovo, Guinea, Congo, Syrien und Algerien.
Weitere werden noch dazu kommen.

Quelle_Stattzeitung für Südbaden im Internet [www.stattweb.de]