- kassiber Sonderausgabe zum Krieg 09/2001 -


Schurkenstaaten - states of concern

Die USA sehen sich in der Verantwortung, die Welt zu schützen

Im Juni 2000 hat das US-Außenministerium den Ausdruck "Schurkenstaat" aus seinem diplomatischen Wortschatz gestrichen. An seine Stelle ist der Begriff "state of concern" getreten (Besorgnis erregender Staat), was nunmehr ein flexibleres Vorgehen gegenüber solchen Staaten gestattet. Der alte Begriff "rogue state", den man auch mit Banditen- oder Pariastaat übersetzen kann, war für eine scharf umrissene Gruppe von sieben Staaten reserviert (nämlich Nordkorea, Kuba, Irak, Iran, Libyen, Sudan und Syrien). Diese Staaten unterstützen nach Auffassung der US-Regierung den Terrorismus und wurden bzw. werden deshalb von den USA einseitig mit Sanktionen belegt.
Das Konzept des "Schurkenstaates" (1) hat für die politische Analyse und die perspektivische Planung eine herausragende Rolle gespielt. Die Irakkrise ist in dieser Hinsicht nur das bekannteste Beispiel. (2) Washington und London haben den Irak zum "rogue state" erklärt, der für seine Nachbarn und die ganze Welt eine Bedrohung darstelle. Dieser "geächtete Staat", an dessen Spitze ein Widergänger Hitlers stehe, müsse entsprechend von den Hütern der neuen Weltordnung - den Vereinigten Staaten und deren Juniorpartner Großbritannien - in Schach gehalten werden. (...)
Das Konzept vom "Schurkenstaat" entspringt der Auffassung, daß die USA auch nach dem Ende des Kalten Krieges noch immer in der Verantwortung stünden, die Welt zu schützen. Doch wovor? Seit Beginn der Achtzigerjahre war klar, daß die übliche Technik der Massenmobilisierung - im Sinne von Reagans "Reich des Bösen" - an Wirksamkeit einbüßte. Also mußte man neue Feinde finden, innen wie außen. (3)
An der inneren Front wurde die Angst vor der Kriminalität - insbesondere der drogenbezogenen - angeheizt durch "eine Reihe von Faktoren, die nichts oder nur wenig mit Verbrechen als solchen zu tun haben", wie die National Criminal Justice Commission befand. Die Kommission hat dabei mehrere Faktoren im Auge: die Berichterstattung in den Medien, "die Rolle der Regierung und der Industrie, wenn es darum geht, die Angst der Bürger zu schüren", die "Ausbeutung von latenten interethnischen Spannungen zu politischen Zwecken", wobei in Strafjustiz und Strafvollzug systematische rassische Vorurteile herrschen, die die schwarzen Communitys zerstören und eine "Rassenspaltung" erzeugen, welche für die Nation "die Gefahr einer sozialen Katastrophe" mit sich bringe. Das Resultat dieser Entwicklung nennen Kriminologen "den amerikanischen Gulag", oder "die neue amerikanische Apartheid". Damit ist gemeint, daß Afroamerikaner heute mit rund zwei Millionen Häftlingen (!) erstmals in der Geschichte der USA die Mehrheit der Gefängnisinsassen ausmachen, ein Prozentsatz, der sieben Mal höher liegt als bei Weißen und der auch den Anteil bei Verhaftungen weit übersteigt, wobei die Schwarzen ohnehin häufiger ins Visier der Polizei geraten, vor allem bei Delikten wie Drogenkonsum oder Drogenhandel. (4)
Außerhalb der USA wurden als Hauptbedrohungen der "internationale Terrorismus", die lateinamerikanischen Drogenhändler und - als allergefährlichste - "die Schurkenstaaten" identifiziert. Eine geheime Studie des Strategic Command (die für das strategische Atomarsenal verantwortliche Institution) skizziert die grundlegenden Überlegungen. Diese Studie mit dem Titel "Essentials of Post-Cold War Deterrence" (Grundsätze der Abschreckung nach dem Ende des Kalten Krieges) verrät laut AP, "wie die Vereinigten Staaten ihre Abschreckungsstrategie von der untergegangenen Sowjetunion auf die so genannten Schurkenstaaten wie Irak, Libyen, Kuba und Nordkorea verlagert haben". In der Studie wird vorgeschlagen, die USA sollten sich mit Hinweis auf ihr nukleares Potential als eine Macht darstellen, "die sich irrational und rachsüchtig verhält, wenn sie ihre vitalen Interessen angegriffen sieht (...) Es ist abträglich, wenn wir uns als zu umfassend rational und kühl kalkulierend darstellen" - oder gar als Leute, die sich an so dumme Dinge wie das Völkerrecht und vertragliche Verpflichtungen halten: "Die Tatsache, daß einige Elemente (der US-Regierung) den Eindruck erwecken, sie könnten potentiell ,außer Kontrolle' geraten, mag insofern günstig sein, als sie bei gegnerischen Entscheidungsträgern Befürchtungen und Zweifel auslösen und verstärken können."
Der Bericht greift damit auf Nixons "madman theory" zurück: Unsere Feinde sollten davon ausgehen, daß wir von Sinnen und unberechenbar sind und über ein außerordentliches Destruktionspotential verfügen, also werden sie sich aus schierer Angst unserem Willen fügen. Dieses Konzept wurde offenbar in den Fünfzigerjahren in Israel entwickelt. Wie der damalige Ministerpräsident Mosche Scharett in seinem Tagebuch festhielt, hatten die politischen Führer der regierenden Arbeitspartei seinerzeit auf "Wahnsinnsakte" gesetzt und angedroht, daß "wir durchdrehen werden", wenn "uns jemand in die Quere kommt". Diese "Geheimwaffe" war übrigens teilweise auch gegen die USA gerichtet, die von den Israelis damals nicht als hinreichend zuverlässig eingeschätzt wurden. Wenn diese Methode heute von der einzigen Supermacht der Welt angewandt wird, die sich selbst als einen rechtlich ungebundenen Staat versteht, und ohne daß ihre Eliten sich weiter dagegen auflehnen würden, so stellt sie für den Rest der Welt ein ziemliches Problem dar.
Von den ersten Tagen der Reagan-Regierung an war Libyen der Schurkenstaat schlechthin. Die schwache und wehrlose Gaddafi-Republik bietet sich für den World Champion USA, wann immer nötig, als idealer Punchingball an. So wurde etwa die Bombardierung von Tripolis im Jahre 1986 zu einer medienpolitischen Weltpremiere, angesetzt zur besten Fernsehzeit, damit die Redenschreiber des "Großen Kommunikators" Reagan die öffentliche Meinung für die terroristischen Angriffe der Vereinigten Staaten auf Nicaragua gewinnen konnte. Mit der Begründung, der "Erzterrorist" Gaddafi habe "400 Millionen Dollar und massenhaft Waffen und Berater nach Nicaragua geschickt, um von dort den Krieg in die Vereinigten Staaten hineinzutragen". Deshalb müßten die USA ihr Recht auf Selbstverteidigung gegen den bewaffneten Angriff des nicaraguanischen Schurkenstaates wahrnehmen.
Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer, der jeden Verweis auf die sowjetische Bedrohung hinfällig machte, übermittelte die Bush-Regierung dem Kongreß ihre alljährlichen finanziellen Anforderungen für einen gigantischen Rüstungshaushalt. Die Begründung lautete: "In einer neuen Ära (...) bezieht sich der Einsatz unserer militärischen Streitkräfte wahrscheinlich weniger auf die Sowjetunion als vielmehr auf die Dritte Welt, wo vielleicht neue militärische Fähigkeiten und Methoden erforderlich werden." Als größte Gefahr gelten die "wachsenden technologischen Fähigkeiten der Dritten Welt", weshalb die USA "die Basis ihrer Verteidigungsindustrie" stärken müßten. Auch müsse man Interventionsstreitkräfte unterhalten, insbesondere für den Nahen Osten, wo "die Bedrohung unserer Interessen (...) nicht mehr dem Kreml zugeschrieben werden kann".
Dem Irak ließ sich "die Bedrohung unserer Interessen" freilich auch nicht zuschreiben. Denn Saddam Hussein war damals noch ein gehätschelter Freund und Handelspartner. Das änderte sich erst einige Monate später, als Saddam die angedeutete Bereitschaft der USA, ihm eine gewaltsame Veränderung des irakisch-kuwaitischen Grenzverlaufs durchgehen zu lassen, als Erlaubnis zur Eroberung des Nachbarstaates mißverstand. (5)Womit er bloß nachahmte,( )was ihm die Vereinigten Staaten im Dezember 1989 in Panama vorgemacht hatten.
Als Schurke gilt, wer sich nicht fügt
HISTORISCHE Parallelen stimmen natürlich nie ganz. Als die USA sich teilweise aus Panama zurückzogen, nachdem sie ihre Marionette installiert hatten, herrschten Wut und Erbitterung in ganz Lateinamerika, Panama eingeschlossen. Diese Erbitterung erstreckte sich sogar fast auf die ganze Welt und zwang Washington, im UN-Sicherheitsrat sein Veto gegen zwei Resolutionen einzulegen, die zum einen "die flagrante Verletzung des Völkerrechts und der Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität von Staaten" verurteilten, und zum anderen den Rückzug "der US-Invasionsstreitkräfte aus Panama" forderten.
Auf Panama zurückblickend, erscheint es schon eigenartig, daß politische Analytiker wie Ronald Steel heute über das Rätsel nachsinnen, vor die USA angeblich stehen: "Der mächtigste Staat der Welt ist in seiner Freiheit, Gewalt anzuwenden, stärker eingeschränkt als jedes andere Land." Das erklärt wohl, warum Saddam Hussein in Kuwait so überaus erfolgreich war, während Washington seinen Willen nicht einmal dem kleinen Panama aufzwingen konnte!
Seit dem Golfkrieg hat der Irak den Iran und Libyen in der Rolle des führenden "Schurkenstaates" abgelöst. Andere Staaten haben es nie zu diesem Titel gebracht. Der einschlägigste Fall ist womöglich Indonesien. Das Land mutierte 1965 mit der Machtübernahme von General Suharto vom Feind zum Freund. Unter seinem Befehl hatte ein ungeheures Gemetzel stattgefunden, das im Westen damals mit höchster Befriedigung registriert wurde. (6) Seitdem war Suharto "our kind of guy" (so eine Formel der Clinton-Regierung), obgleich er mörderische Attacken und endlose Grausamkeiten gegen sein eigenes Volk verübte. Allein in den Achtzigerjahren wurden nach Auskunft von Suharto persönlich 10 000 Indonesier umgebracht, und er merkt an, daß "die Leichen als eine Art Schocktherapie auf der Straße liegen gelassen wurden" (7).
Im Dezember 1975 beschloß der UN-Sicherheitsrat einstimmig, Indonesien müsse seine Invasionsarmee "unverzüglich" aus Osttimor zurückziehen. Und er forderte alle Staaten auf, "die territoriale Integrität von Osttimor wie auch das unveräußerliche Recht seiner Bevölkerung auf Selbstbestimmung zu respektieren". Die USA reagierten damit, daß sie ihre (geheimen) Waffenlieferungen an den Aggressor verstärkten.
In seinen Memoiren hält sich Washingtons damaliger UN-Botschafter Daniel Patrick Moynihan den Erfolg zugute, die Vereinten Nationen bei allen von ihnen ergriffenen Maßnahmen "völlig lahm gelegt" zu haben. Moynihan befolgte damit die Instruktionen des US-Außenminsteriums, das "die Dinge so zu regeln wünschte, wie es dann tatsächlich eintrat". Stillschweigend ließen die USA auch den Raub des in Osttimor geförderten Rohöls geschehen, an dem sich US-Unternehmen beteiligten, obwohl dies eindeutig internationale Abkommen verletzte.
Der Fall Osttimor weist also starke Analogien zum Fall Irak/Kuwait auf. Aber es gibt neben anderen einen bedeutenden Unterschied: Die von den USA unterstützten Greueltaten in Osttimor übertrafen bei weitem alles, was man Saddam Hussein an Verbrechen in Kuwait zugeschrieben hat. (8) Doch deshalb wurde Indonesien von Washington noch lange nicht auf die Liste der "Schurkenstaaten" gesetzt.
Auch Saddam Hussein wurde zum "Ungeheuer von Bagdad" nicht etwa aufgrund der Verbrechen gegen sein eigenes Volk, wie etwa des Einsatzes chemischer Waffen gegen die Zivilbevölkerung, von denen die US-Nachrichtendienste volle Kenntnis hatten. Vor der irakischen Invasion in Kuwait hatten die USA den Diktator demonstrativ unterstützt, und zwar bis zu dem Punkt, daß sie den irakischen Luftangriff auf das US-Kriegsschiff USS Stark vertuschten, dem immerhin 37 US-Marinesoldaten zum Opfer fielen. Ein solches Privileg hatte zuvor nur Israel genossen, als es im Juni 1967 "irrtümlicherweise" die USS Liberty angriff (damals gab es 34 Tote). Die USA hatten noch 1989 mit Saddam Hussein die diplomatische, militärische und ökonomische Kampagne koordiniert, die zur Kapitulation des Iran "gegenüber Bagdad und Washington" führte, wie es der Historiker Dilp Hiro formulierte. Sie hatten von Saddam sogar dieselben Dienste gefordert, die normalerweise von Vasallenstaaten geleistet werden. Wie Howard Teicher, ein früherer Berater von Präsident Reagan, enthüllt hat, übernahm der Irak die Ausbildung einiger Dutzend von den USA rekrutierter libyscher Söldner, die Oberst Gaddafi stürzen sollten. (9)
Wenn Saddam Hussein ins Lager der "Schurkenstaaten" befördert wurde, so weil er sich als aufmüpfig und allzu eigenmächtig erwiesen hatte. Dasselbe Schicksal ereilte den panamaischen General Manuel Noriega, im Vergleich eher ein Kleinkrimineller, der seine schlimmsten Missetaten beging, als er noch in (bezahlten) Diensten Washingtons stand. Kuba wiederum wurde als Schurkenstaat klassifiziert, weil es angeblich Verbindungen zum "internationalen Terrorismus" unterhält - während der Ankläger USA über nahezu vierzig Jahre seine terroristischen Attacken gegen die Karibikinsel eskalierte und sogar Attentatsversuche gegen Fidel Castro unternahm. Auch im Fall des Sudan erklärten die USA ein Land zum "Schurkenstaat", das sie selbst im August 1998 bombardierten. Hinterher erwies sich dann die angebliche Produktionsstätte für chemische Waffen als genau das, was sie laut Aussage der Regierung in Khartum war: eine pharmazeutische Fabrik. (10)
Das Konzept des "Schurkenstaates", von dem man sich nunmehr offiziell verabschiedet hat, wurde schon immer äußerst flexibel gehandhabt. Doch letzten Endes waren die Kriterien eindeutig: Ein Schurkenstaat war nicht einfach ein krimineller Staat. Es war vielmehr ein Staat, der sich den Anordnungen der Mächtigen, insbesondere denen der USA, nicht fügen wollte - als würden die USA nicht selbst unter die infame Bezeichnung "Schurkenstaat" fallen.

Noam Chomsky

Aus: Le Monde diplomatique vom 11.8.2000 (Übersetzung: Niels Kadritzke) (redaktionell stark gekürzt)


Fußnoten:
(1) Der Ausdruck "Schurkenstaat" habe seine Raison detre verloren, weil mehrere der betreffenden Staaten ihr Verhalten zwischenzeitlich korrigiert hätten, lautete die Erklärung von Richard Boucher, dem Sprecher des US-Außenministeriums. Für die Sanktionspolitik bedeutet dies aber zunächst keinerlei Änderung. Siehe Le Monde, 21. Juni 2000.
(2) Siehe Alain Gresh, "Unerhörte Agonie in einem zerstörten Land", Le Monde diplomatique, Juli 1999.
(3) International Herald Tribune, 6. Juni 2000.
(4) Siehe dazu "The Real War on Crime - the Report of the National Criminal Justice Commission" (hrsg. von Steven Donziger), New York (Harper Collins) 1996.
(5) Siehe Pierre Salinger und Eric Laurent, "Krieg am Golf - das Geheimdossier", München (Hanser) 1991.
(6) Siehe Noam Chomsky, "Unversöhnliche Erinnerung", Le Monde diplomatique, Oktober 1999.
(7) Zitiert nach Charles Glass, "Prospect", London 1998.
(8) Siehe Roland-Pierre Paringauax, "Osttimor auf dem Weg in die
Unabhängigkeit", Le Monde diplomatique, Mai 2000.
(9) New York Times, 26. Mai 1993.
(10) Siehe Alain Gresh, "Heilige Kriege", Le Monde diplomatique, September 1998.


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kombo(p) - 27.09.2001