- kassiber Sonderausgabe zum Krieg 09/2001 -


Glaubenskrieger, wahrhaft steinzeitlich

In der Ideologie der Taliban mischt sich paschtunischer Nationalismus mit Radikal-Islamismus

Der Prophet Mohammed soll gesagt haben, "Meine Gemeinde wird sich in 72 Gruppen spalten. Nur eine von ihnen wird die wahre sein." Im Laufe der islamischen Geschichte entstanden Hunderte von Sekten, von denen eine jede meinte, sie sei der von dem Propheten verheißene Hüter des wahren Islam. Die neueste Gruppe, die sich als Vortrupp des "wahren Islam" ansieht, sind die Taliban. Der arabische Plural bedeutet "Religionsschüler" oder "Koranschüler".
Als die Taliban 1996 in Kabul einmarschierten, gab es eine Pressekonferenz. Auf den Einwand eines Journalisten, der Mufti von Ägypten als höchste religiöse Autorität des Islam habe per Fatwa die Schließung der Mädchenschulen in Kabul als unislamisch bezeichnet, antwortete Maulawi Mottaqi, der damalige Kulturminister der neuen Herrschaft: "Der Mufti hat keine Ahnung vom wahren Islam."
Mottaqi hatte nur drei Jahre lang eine Koranschule besucht. In der Kairoer Universität Al-Azhar oder im iranischen Qom beansprucht ein theologisches Studium mindestens zehn Jahre. Die meisten Taliban jedoch wurden per "Schnellkurs" unterwiesen. Theologen sollten aus ihnen nicht werden, sondern Glaubenskämpfer.
Sie waren Söhne der afghanischen Flüchtlinge im pakistanischen Grenzgebiet, wo sie auch ihre religiöse Schulung erhielten: In Medressen, den religiösen Schulen des fundamentalistischen Vereins "Versammlung der Gelehrten des Islam", eines Ablegers der berüchtigten Haqqani-Schule, wurde ihnen ein kriegerischer Islam eingetrichtert. Die Haqqani-Schule entstand in Indien als Reaktion auf die bunte Götterwelt des Hinduismus. Sie ist das indische Pendant zum puritanischen islamischen Wahhabismus, der herrschenden Religion in Saudi-Arabien. Daher rührt auch die ideologische Nähe zwischen dem saudischen Terroristen Osama bin Laden und den Taliban.
Eines Tages im Herbst 1994 hißten die Koranschüler die weiße Fahne des Friedens und marschierten in die afghanische Heimat ein. Einer ihrer Lehrer, der pakistanische Rechtsgelehrte Maulawi Abdulqani, hatte zum Dschihad "gegen das Verderbnis" im afghanischen Nachbarland aufgerufen. Daß ausgerechnet ein pakistanischer Mullah zum heiligen Krieg getrommelt hatte, erhärtete den Verdacht, hinter den frommen Studenten stehe der pakistanische Geheimdienst. Islamabad, so hieß es, wolle mit Hilfe der Taliban die Transportwege zwischen Indus und Amu-Darja, dem Grenzfluß zu den mittelasiatischen Republiken, sichern. Dieser Verdacht wurde später durch die offenbare finanzielle und militärische Unterstützung der Taliban durch Pakistan bestätigt.
Auch die USA hatten ihre Finger im Spiel. An der östlichen Grenze des "Schurkenstaates Iran" sollte eine antischiitische Macht installiert werden. Auch sollten die Taliban zu Wächtern über die Gas-Pipelines werden, die von Turkmenistan über Afghanistan und Pakistan zu den indischen Gewässern führen sollte. Die Route über Iran kam für Washington nicht in Frage.
Das erste Ziel der Taliban war die südafghanische Stadt Kandahar. Die Bevölkerung empfing die paschtunischen Eiferer mit Jubel. Ihr Ruf als Vorkämpfer des Friedens war ihnen vorausgeeilt. Mit drakonischen Maßnahmen sorgten sie in der von den Mudschaheddin-Truppen geschundenen Stadt für Ruhe und Ordnung. Den Männern des islamischen "law and order" gelang in kurzer Zeit der Siegeszug durch die afghanischen Provinzen. Die dort beheimateten paschtunischen Stämme schlossen sich der neuen Gruppe an.
Die Begeisterung für die "Heerscharen der Scharia" galt freilich weniger der Frömmigkeit der Taliban als ihrer ethnischen Herkunft. In den Taliban sah man die Vortruppe des Paschtunentums auf dem Marsch in die afghanische Hauptstadt, wo bisher die persischsprachigen Tadschiken das Sagen hatten. Die Taliban-Bewegung ist also eine Mischung aus Steinzeitislam und paschtunischem Nationalismus. Viele ihrer Bräuche, wie etwa die Verhüllung der Frauen, die mit der Scharia begründet werden, wurzeln in Wahrheit von ihren Stammestraditionen.
1996 marschierten die Taliban im "Sündenpfuhl Kabul" ein. Als erstes richteten sie den Kommunistenchef Nadschibullah hin. Drei Jahre später eroberten die Koranschüler mit Hilfe des pakistanischen Militärs die Städte im Norden. Das Reich der Nordallianz unter dem international anerkannten Staatschef Burhanuddin Rabbani und dem vor kurzem ermordeten Ahmad Schah Massud schrumpfte auf zehn Prozent des afghanischen Berglands.
Auf 50 000 Mann werden die Kämpfer der Taliban geschätzt. Hinzu kommen 3000 Araber, die auf Osama bin Laden hören. Auch einige tausend "Freiwillige" aus Pakistan dürften auf der Seite der Taliban kämpfen. Mit Opium und Heroin finanzieren die Koranschüler ihren heiligen Krieg.
Einen monolithischen Block bilden die Taliban wohl kaum. Unter ihnen gibt es viele Khalqi, frühere Kommunisten paschtunischer Herkunft. Sie fliegen die MIGs und steuern die Panzer der Taliban. Auch unter den Koranschülern selbst gibt es Unterschiede. Der Premierminister Mohammad Rabbani, der vor einigen Monaten starb, galt als Gemäßigter. Es gibt Spekulationen, man habe ihn beseitigt. Das Sagen haben jedenfalls die Hardliner, vor allem der Taliban-Führer Mullah Mohammad Omar al-Mujahed. Auf seinen persönlichen Befehl wurden Tausende von Schiiten in Mazar e-Sharif im Norden Afghanistans massakriert. Er befahl per Fatwa die Sprengung der Buddha-Statuten von Bamian.
Tausend afghanische Theologen haben ihn zum Emir al-Mu'menin, zum "Fürsten der Gläubigen" erklärt. Der hagere, hochgewachsene Mann hat im "heiligen Krieg" gegen die Sowjets ein Auge verloren. Kein westlicher Journalist hat ihn bisher gesehen. Als Hüter der Scharia, des islamischen Rechts, läßt er Dieben Hände und Füße abhacken und Ehebrecher öffentlich steinigen. Er ordnete die strenge Trennung der Geschlechter an. Die afghanischen Frauen zwang er, die Burka zu tragen, ein sackartiges Gewand, das sie von Kopf bis Fuß verhüllt. Er verbot ihnen, allein das Haus zu verlassen. Auch für die Männer gelten strenge Vorschriften. Wer in westlicher Kleidung, mit unbedecktem Haupt oder ohne langen Bart erwischt wird, wird von bewaffneten Sittenwächtern mit Peitschenhieben bestraft. Schon Schulkinder müssen einen Turban tragen. Musik, Fernsehen und Fotoapparate sind als Teufelswerk verboten.
Die Taliban haben Afghanistan zu einer Trutzburg religiöser Knechtung gemacht. Ein Großteil der Bevölkerung dürfte die Entmachtung der "Koranschüler" deshalb als Befreiung empfinden.

Ahmad Taheri

Aus: Frankfurter Rundschau

Fatwa
Der arabische Begriff "Fatwa" bezeichnet ein islamisches Rechtsgutachten, das von dafür ausgebildeten Gelehrten (Muftis) abgegeben wird. Da die wichtigsten Rechtsquellen der Muslime - Koran und Prophetentradition (Hadith) - nicht in allen Fragen des zivilen und religiösen Lebens eine Antwort geben, entwickelten sich zwei weitere Quellen für die Rechtsfindung: der Konsens der Gelehrten (idjma') und der Analogieschluß (qiyas). Sowohl Privatpersonen als auch staatliche Institutionen können zu strittigen Fragen ein Rechtsgutachten anfordern, das von (weiblichen wie männlichen) Gelehrten erstellt wird, die oft durch lebenslanges Studium dazu befähigt sind. Dabei werden Alltagsfragen wie etwa die Reaktion auf einen verpaßten Gebetstermin oder auf die Unterbrechung der Fastenzeit ebenso erörtert wie grundlegende Fragen von Abtreibung und Glauben. Im sunnitischen Islam ist eine Fatwa nicht unbedingt verbindlich, die Gläubigen können weitere Gutachten anfordern, falls ihnen ein Entscheid nicht zusagt. Im schiitischen Islam hat eine Fatwa größere religiöse Autorität, der Auftraggeber muß die darin geäußerte Auffassung befolgen. Zu den bekanntesten Fatwa zählt die Entscheidung von 1989, daß der Autor Salman Rushdie in seinen "Satanischen Versen" Gotteslästerung betrieben habe. Sie erteilte jedem Gläubigen das Recht, Rushdie umzubringen.


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kombo(p) - 27.09.2001