kassiber 49 - Mai 2002

Interview mit einer Teilnehmerin einer Kolumbiendelegationsreise

Die Militarisierung der Normalität


Was allgemein über Kolumbien bekannt ist, läuft unter den Schlagwörtern Guerilla und Koka. Vor einer Einordnung in einen Kontext des Krieges zwischen den herrschenden Kreisen, rechtsextremen Paramilitärs, Drogenbaronen und der linken Guerillabewegung scheuen sich bis auf die wenigen "SpezialistInnen" jedoch die meisten.

Das ist angesichts der Komplexität der sozialen und politischen Verhältnisse nicht verwunderlich. Es herrscht seit etwa dreissig Jahren Bürgerkrieg. Im Jahr 2000 fielen pro Tag durchschnittlich 14 Menschen der Gewalt zum Opfer: Acht Personen wurden Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen, vier starben im Zuge bewaffneter Auseinandersetzungen, eine Person wurde gewaltsam zum Verschwinden gebracht und jeden zweiten Tag wurde eine Person im Rahmen "sozialer Säuberungen" ermordet. Insgesamt werden jährlich 30.000 Menschen ermordet. Dies alles macht eine Auseinandersetzung mit Kolumbien und seiner Rolle in den Kämpfen um Macht und Hegemonialrechte eigentlich unumgänglich.

Kolumbien ist für die Industriestaaten geopolitisch eines der wichtigsten Länder. Mit 1,2 Millionen Quadratkilometern dreieinhalb Mal so groß wie die BRD, besitzt es schon aufgrund seiner Ausdehnung und der Lage am Isthmus von Panamá immense militärstrategische Bedeutung. Kolumbien ist so etwas wie die Drehscheibe zwischen Zentral- und Südamerika, besitzt Zugang zu beiden Ozeanen, der für den kapitalistischen Welthandel so wichtige Panamá-Kanal liegt ganz in der Nähe. Die Außengrenzen zu Venezuela (dem wichtigsten Erdölproduzenten des Kontinents), Brasilien (dem Industriegiganten Lateinamerikas), Peru und Ecuador (einem weiteren wichtigen Erdölproduzenten) gelten als nahezu unkontrollierbar. Das ist der Hintergrund, warum US-Strategen Kolumbien seit 1988 mit steter Regelmäßigkeit als "Unsicherheitsfaktor für die ganze Region" bezeichnen und Interventionsmaßnahmen wie der Plan Colombia (1) als politisch unbedingt notwendig.

Aber nicht nur geostrategisch, sondern auch wirtschaftlich ist das Land von Bedeutung. Die von der BP (British Petroleum) und der US-amerikanischen OXY beanspruchten Erdölvorkommen im Osten des Landes gehören zu den größten auf dem Kontinent, in Nordkolumbien befinden sich gewaltige Steinkohleminen, die von EXXON (Esso) im Tagebau ausgebeutet werden, und unweit der Touristenstadt Cartagena wurden vor kurzem Goldreserven entdeckt, die zu den größten in Amerika zählen sollen.

Von all dem hat die Bevölkerung allerdings wenig. Nach gewerkschaftlichen Zahlen leben 55 Prozent der knapp 40 Millionen KolumbianerInnen in Armut, 20 Prozent in absolutem Elend, 50 Prozent haben keine Sozialversicherung, 20 Prozent der Erwachsenen sind arbeitslos, 1,8 Millionen Menschen leben von Gelegenheitsarbeiten, eine Million Familien haben kein Dach über dem Kopf, 15 Prozent der Haushalte verfügen über keinen Trinkwasseranschluß.

Kolumbien wird von einer kleinen wirtschaftlichen und politischen Führungselite dominiert, traditionell organisiert in der Partido Liberal (Liberalen Partei) und der Partido Conservador (Konservativen Partei). Besonders bezeichnend für Kolumbien ist, daß die Oberschicht alles unternimmt, um den Status quo mit Gewalt aufrecht zu erhalten. In keinem anderen Land des amerikanischen Kontinents hat der Terror gegen die Opposition vergleichbare Ausmaße, nirgends gibt es so viele Massaker an der Zivilbevölkerung, nirgends sind die Spielräume für eine legale Opposition so klein wie hier. Paramilitärs überfallen mit Rückendeckung von Armee und Polizei ganze Dörfer und ermorden 50 Personen auf einen Schlag, Bauern werden bei lebendigem Leib mit der Motorsäge zerteilt, politische Aktivisten entführt und "beseitigt". Die Gewalt überschreitet die Grenzen der Vorstellungskraft.

Um das eigentliche Ausmaß der Situation erfaßbar zu machen, wurde von der Initiative "Kolumbien-Odyssee" aus Berlin gemeinsam mit dem Nationalen Gewerkschaftsinstitut von SINALTRAINAL (Ernährungsgewerkschaft) über anderthalb Jahre hinweg eine vierwöchige Delegationsreise vorbereitet. Eine Gruppe von AktivistInnen aus linken Zusammenhängen (Studierende, Journalisten, Dokumentarfilmer) hatte sich dabei zum Ziel gesetzt, mit VertreterInnen aus unterschiedlichsten linken sozialen Organisationen in Kontakt zu gelangen, mit den Betroffenen des Krieges, in dem jede linke Opposition versucht wird mit massiver Gewalt zu zerschlagen, in Austausch zu treten sowie Unterstützung und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik herzustellen. Nicht zu unterschätzen sind solche Reisen im Hinblick auf die Notwendigkeit internationaler Präsenz, also in Krisengebieten durch die Anwesenheit internationaler BeobachterInnen den militärischen Kräften und der Regierung zu vermitteln, daß ihre Verbrechen jederzeit öffentlich gemacht werden.

Während in Deutschland der Name "Kolumbien-Odyssee" galt, war die Delegation in Kolumbien unter dem Namen "Delegacion Alemana por la Vida y la Paz" ("Deutsche Delegation für Leben und Frieden") unterwegs. Der christliche Hauch kommt nicht von ungefähr, denn um in bestimmte Gebiete zu gelangen, ist ein relativ neutrales Image weitaus dienlicher als ein bewußt politisches Auftreten, daß in Kolumbien sowieso kaum noch möglich ist. "Kolumbien-Odyssee" sollte andeuten, daß es sich durchaus um eine Art Odyssee handeln würde, also um eine Reise mit ungewissem Verlauf, unerwarteten Ereignissen, möglichen Komplikationen.

Für Ablauf und Koordination des Programms in Kolumbien zeichneten, neben dem Gewerkschaftsinstitut, die Menschenrechtsorganisation "Sembrar" und Personen aus der Kampagne "Campaña Permanente Nacional e Internacional contra la Impunidad - Colombia Clama Justicia" (Permanente nationale und internationale Kampagne gegen die Straflosigkeit - Kolumbien fordert Gerechtigkeit (2)) verantwortlich.

Der Reiseplan umfaßte fünf Tage in Bogotá, dort Treffen mit GewerkschaftlerInnen, Studierenden und Bauernverbänden, daran anschließend einen Aufenthalt von zwei Wochen in den Goldgräbergemeinden der Serranía de San Lucas im Gebiet des Magdalena Medio sowie fünf Tage in der Erdölstadt Barrancabermeja, bis dann am 24. März das Programm offiziell zu Ende geht.

Sunita aus Bremen (Name redaktionell geändert) hat an dieser Delegationsreise teilgenommen. Das Interview wurde Mitte April geführt.


Frage: Kannst Du knapp deinen Eindruck der aktuellen Situation in Kolumbien wiedergeben?


Sunita: Der Konflikt hat sich gerade zugespitzt. Im Januar gab es noch Friedensverhandlungen zwischen der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia - größte Guerillaorganisation) und der Regierung - die wurden aber für beendet erklärt. Das Militär ist in die entmilitarisierte Zone im Süden des Landes (in der Größe der Schweiz), die seit drei Jahren von der FARC kontrolliert wird, einmarschiert und seitdem haben sich die bürgerkriegsähnlichen Zustände in einigen Teilen des Landes verschärft. Es gibt fast täglich Gefechte zwischen der Guerilla und dem Militär, das häufig von Paramilitärs unterstützt wird, es gibt Anschläge, Entführungen (sowohl von Seiten der Guerillas, als auch der Paramilitärs), die Ermordungen von politischen GegnerInnen nehmen zu, der gesamte Alltag und die "Normalität" ist sozusagen völlig militarisiert. Zum anderen ist es so, daß der Paramilitarismus immer mehr Städte und ganze Gebiete übernommen hat. Im März waren Wahlen zur Kammer sowie zum Senat und es wurde ganz klar gesagt, daß auch Paramilitärs mit reingekommen sind. Momentan ist noch nicht bekannt, wieviele da jetzt drin sind, aber es gibt Schätzungen, die von der Hälfte der Sitze ausgehen.

Im Mai sind Präsidentschaftswahlen und der aussichtsreichste Kandidat, Alvaro Uribe Velez, ist ein Paramilitär. Er ist verantwortlich für Massaker, die in der Zeit begangen wurden, als er Gouverneur in Antioquia war - das wird aber alles verschleiert. Es ist z.B. so, daß in Barrancabermeja - wo wir auch waren - Militärstützpunkte der Paramilitärs gleichzeitig Wahlkampfbüros für Uribe sind, und das bedeutet, daß, wenn er die Wahlen gewinnt, es noch einmal zu einer enormen Zuspitzung kommen wird. Es wird noch offener gegen soziale Organisationen gehen, als es gerade eh schon der Fall ist. Bereits heute ist es so, daß es gefährlicher ist, in einer Gewerkschaft zu sein, als in einer Guerilla.


Frage: Mit welchen Gewerkschaften hattet ihr denn Kontakt und wie sehen die Bedingungen für die gewerkschaftliche Organisierung aus?


Sunita: Erstmal ist es so, daß nur ein geringer Prozentsatz an Leuten überhaupt in Gewerkschaften ist. Das liegt zum einen an der rigiden Privatisierungspolitik der kolumbianischen Regierung, die es überhaupt nicht mehr möglich macht, eine Gewerkschaft zu gründen. Viele haben Zeitarbeitsverträge, mit denen es nicht möglich ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Zum anderen ist es schlichtweg zu gefährlich - Gewerkschaftler werden ganz massiv bedroht, wieder auszusteigen, es geht bis hin zu Ermordungen.

Kontakt hatten wir zur Ernährungsgewerkschaft SINALTRAINAL , die u.a. dadurch bekannt wurde, daß sie in Florida (USA) Anklage gegen Coca-Cola erhoben hat, weil Coca-Cola gemeinsam mit Paramilitärs massiv Coca-Cola-ArbeiterInnen bedroht hat und diese vertreiben, entführen und ermorden ließ. Diese Anklage steht auch im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Kampagne gegen Straflosigkeit. Bis heute wurde keiner der Verantwortlichen belangt. Diese Praxis gibt es jedoch nicht nur bei Coca Cola, sondern auch bei anderen multinationalen Konzernen wie beispielsweise Nestle`.

Desweiteren haben wir uns mit der USO getroffen, das ist die ErdölarbeiterInnengewerkschaft. Auch die kämpft gegen die Privatisierungspolitik der Regierung, die die Interessen der multinationalen Konzerne vertritt. In der Zeit als wir in Barrancabermeja waren, wurde Rafael Jaimes Torra, ein Gewerkschafter der USO, umgebracht.


Frage: Was ist da genau passiert, stand das im Zusammenhang mit Eurer Reise?


Sunita: Nein, vielmehr hing das damit zusammen, daß es sich um eine Person handelte, die sehr aktiv in der Gewerkschaftsarbeit war. Er hatte u.a. ein Diskussionsforum organisiert und stand im Prinzip schon seit längerem auf der Abschußliste der Paramilitärs. Wir hatten uns bereits zweimal mit ihm getroffen und wollten ihn nochmals treffen um die Erdölraffinerie anzuschauen. Dann wurde er mit Kopfschüssen vor seiner Wohnung erschossen, dabei starb auch sein Neffe.


Frage: Wie habt ihr die Zeit unmittelbar nach diesem Mord erlebt?


Sunita: Das war natürlich erst mal ein ziemlicher Schock für uns, plötzlich die Situation derart hautnah mitzuerleben. Wir sind dann zu der Demonstration gegangen, die daraufhin in Barrancabermeja stattfand. Einige hundert GewerkschafterInnen hatten sich versammelt, obwohl einige von ihnen noch am Morgen Drohanrufe bekommen hatten, daß auch sie auf der Abschußliste stünden. Am Rande der Demonstration hielten sich auch Paramilitärs und Militärs auf.

Einige GewerkschafterInnen und Leute aus sozialen Organisationen sind an uns herangetreten mit der Bitte, für ihre Sicherheit sowohl bei der Demo als auch beim Trauerzug internationale Begleitung zu machen und natürlich Öffentlichkeit über den Vorfall zu schaffen. Wir haben eine "urgent action" gestartet, also eine Fax/e-mail-Protestkampagne (www.de.indymedia.org/2002/03/18391).


Frage: Wie wirkt sich diese permanente Bedrohung des eigenen Lebens auf die Arbeit der politisch Aktiven in Kolumbien aus?


Sunita: Sicherheitskriterien spielen eine sehr große Rolle. Viele Dinge dürfen nicht gesagt werden, sehr viel muß also auch immer unausgesprochen bleiben, das geht bis hin zur Verständigung über Codes. Viele Leute müssen den Ort, an dem sie leben, verlassen, viele müssen untertauchen. Tatsächlich ist es so, daß jede Person, die wir getroffen haben, in ihrem FreundInnen-, Bekannten-, GenossInnenkreis Tote zu beklagen hat. Speziell nach dem Tod von Rafael Jaimes Torra haben wir gefragt: "Wie könnt ihr eigentlich damit leben?" und alle meinten, sie hätten die Erfahrung schon mehrere Male gemacht: "Aber jedes Mal wieder ist es schockierend - daran kannst du dich einfach nicht gewöhnen."

Was mich sehr beeindruckt hat, ist, unter welchen Umständen die Leute arbeiten, was für Anstrengungen in Kauf genommen werden, um überhaupt weiter zu machen. Ich fand das sehr bewundernswert und habe da zum Teil viel Energie raus gezogen.


Frage: Mit welchen anderen sozialen Bewegungen hattet Ihr noch zu tun?


Sunita: Wir haben uns mit Studierenden getroffen, da ging es vor allem um die Privatisierung der Hochschulen. Wie in den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten kann auch in Kolumbien nur ein ganz geringer Prozentsatz der Bevölkerung studieren. Die Privatisierungspolitik verschärft dieses Dilemma noch einmal um, ein vielfaches. Durch die schlechte ökonomische Situation müssen bereits die Kinder arbeiten, um überleben zu können, da ist an studieren überhaupt nicht zu denken.

Des weiteren haben wir uns mit einer Vertreterin einer Bauernorganisation (ANUC -UR Asociacion Nacional de Usarios Campesinos - Unidad Reconstrucion, einst die größte Bauernorganisation, durch Repressionen - Vertreibungen, Ermordungen etc. - geschwächt, nun wieder im Aufbau begriffen) in Bogota getroffen, die gleichzeitig mit Vertriebenen zusammenarbeitet. In Kolumbien gibt es über zwei Millionen Binnenflüchtlinge, darunter Familien, die bis zu vier Mal vertrieben wurden. Vertreibung findet hauptsächlich in Gebieten statt, in denen es ökonomische Interessen gibt: von Seiten des Staates, von multi- oder transnationalen Konzernen. Die Leute werden dann häufig von Paramilitärs zunächst bedroht, vielleicht werden auch einzelne ermordet oder es findet ein Massaker statt, woraufhin die Leute aus Angst fliehen. Im Jahr 2000 gab 432 Massaker in Kolumbien!

Bei einem Treffen mit Blumenarbeiterinnen in Madrid (Ort in der Nähe von Bogota) - Kolumbien ist einer der größten Blumenexporteure, vor allem für den nordamerikanischen Markt - haben sie uns von ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen berichtet, von bis zu 15 Stunden Arbeit in Plastikgewächshäusern mit über 45°C, keinerlei sozialer Absicherung und direktem Kontakt mit Pestiziden. Diese Frauen sind vor acht Monaten gefeuert worden und kampieren nun vor einer der Plantagen, um gegen diese Entlassungen zu protestieren!

In Barrancabermeja gab es außerdem ein Treffen mit einer Frauenorganisation, die dort seit über 30 Jahren tätig ist. In verschiedenen Stadtteilen haben sie so was wie Frauenhäuser aufgebaut. Es finden Volksküchen statt, zudem wird viel Gesundheitsversorgung gemacht. Sie arbeitet mit Ärztinnen, Psychologinnen usw. zusammen, um vor allem für die armen Leute eine gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten. Außerdem gibt es zahlreiche Bildungsangebote, Alphabetisierungs- und Fortbildungskurse. Das Programm ist nicht ausschließlich für Frauen, wenn auch in erster Linie. Bei dieser Organisation ist es so, daß sie inzwischen, da sie so massiv bedroht werden, Begleitung von den Internationalen Peace Brigades (3) bekommt. Eines der Frauenhäuser wurde zum Beispiel von den Paramilitärs über Nacht abgerissen und der gesamte Platz dem Erdboden gleich gemacht, so daß am nächsten Tag nur noch eine leere Fläche zu sehen war.


Frage: Um noch einmal auf die Guerillas zu Sprechen zu kommen: Es gibt neben der FARC noch eine zweite große Guerilla, die ELN (Ejército de Liberación Nacional). Kannst Du die beiden kurz charakterisieren. Wie sind die aktuellen Entwicklungen im Moment?


Sunita: Grundsätzlich kann gesagt werden, daß die beiden wichtigsten, heute noch aktiven Guerillabewegungen FARC und ELN tiefgreifende politische, soziale und wirtschaftliche Reformen verlangen. Dabei hat die ELN nach wie vor eher das Vorbild des guevarraistischen, an Kuba orientierten Sozialismus, während die FARC schon vorher stark am Sowjetmodell angelehnt war. Es soll ein basisdemokratischer Staat mit sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden, in dem die Grundrechte respektiert werden und politische Opposition möglich ist. Ohne dafür mit dem Tode bestraft zu werden, muß wohl zynischerweise gesagt werden.

Beide Guerillabewegungen setzen heute zum Erreichen dieses politischen Ziels auch auf Verhandlungen mit der Regierung, wobei aber auch gesagt werden muß, daß bisher unterschriebene Verträge von Seiten der Regierung nicht eingehalten wurden und eine Entwaffnung der Guerilla in keinster Weise zur Debatte steht.

Es gibt erhebliche Unterschiede bei den Konzepten von FARC und ELN. Die FARC sieht sich als Avantgarde und legitimierte Sprecherin des Volkes und seiner Organisationen. Ihre Verhandlungen sind direkt auf das Machtzentrum - die Regierung - ausgerichtet. Mit ihren Waffen will die FARC der Regierung am Verhandlungstisch Zugeständnisse im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich abringen. Nicht die Waffenabgabe und die Eingliederung der Guerilla ins Zivilleben ist Verhandlungspunkt, sondern grundlegende Reformen. Der Zivilgesellschaft weist die FARC eine untergeordnete Stellung zu, sie kann sich an sogenannten Thementischen und öffentlichen Anhörungen zu den einzelnen Verhandlungspunkten einbringen. Eigenständige soziale Bewegungen sind aus der Sicht der FARC nur notwendige Transmissionsriemen für die Politik von oben. Wenn die FARC von einer "Regierung des Volkes" spricht, so meinen sie eine Regierung im Namen der Bevölkerung, nicht aber eine basisdemokratische Umwälzung der Gesellschaft.

Die ELN vertritt ein Verhandlungsmodell, bei dem der "Zivilgesellschaft" eine Schlüsselrolle zukommt. In einer Convención Nacional (Nationalkonvention) sollen die Exponenten der Zivilgesellschaft einen Gesellschaftsvertrag aushandeln und damit die Basis für die Errichtung eines demokratischen und sozialen Rechtstaates legen. Parallel dazu würden Verhandlungen zwischen ELN und Regierung geführt werden, die jedoch direkt von den Resultaten und der Umsetzung der Beschlüsse der Nationalkonvention abhängen würden. Soviel zu einer grundsätzlichen Einordnung.

Momentan gibt es auf Kuba so etwas wie Friedensverhandlungen mit der ELN. In ihrem vorgelegten Vorschlag fordert sie eine Aussetzung der Kampfhandlungen für sechs Monate. Im Gegenzug würde sie von Angriffen auf die öffentliche Infrastruktur absehen, also Ölpipelines, Straßen etc., weiterhin auf Entführungen verzichten und auf die Besteuerung von Unternehmen. Dies ist die derzeitige Haupteinnahmequelle der ELN, während die FARC vor allem auch aus dem Drogenhandel ihr Geld zieht. Gefordert wird die Wiederöffnung von Krankenhäusern und Schulen - um vor allem der armen Bevölkerung eine Grundversorgung zu verschaffen. Ebenso fordert die ELN eine Finanzierung, wenn sie auf die eigenen Finanzierungsmittel verzichtet, um nach den sechs Monaten nicht schlechter dazustehen als vorher. In dieser Zeit will sie politisch tätig werden, also vor allem öffentlich in den Städten agieren.


Frage: Welche Möglichkeiten siehst Du denn nun, nach Eurer Reise, hier in Europa Unterstützung für die in Kolumbien unter der Militärdiktatur Lebenden zu schaffen?


Sunita: Erst mal ist es unglaublich wichtig, überhaupt internationale Öffentlichkeit zu bekommen und in Kolumbien selber internationale Präsenz zu haben. Ich hatte ja schon von den Coca-Cola-ArbeiterInnen erzählt, die werden im Herbst in Brüssel ein öffentliches Tribunal zu Coca-Cola machen.

Wir wollen die erwähnte Kampagne gegen Straflosigkeit unterstützen, deren Konzept zum einen darin besteht, den kolumbianischen Staat als Verantwortlichen dieser Verbrechen anzuklagen, zum anderen aber auch den Entwurf einer Alternativgesellschaft beinhaltet. Unterstützt werden können zum Beispiel sogenannte Widerstandsgemeinden, die in ländlichen Gebieten initiiert wurden.

Was auch einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert hat, sind "urgent action"-Kampagnen, damit politische Morde nicht Normalität bleiben, sondern möglichst jedem ein großer Aufschrei folgt. Was mit solchen öffentlichen Kampagnen erreicht werden soll, ist vor allem, politischen Druck aufzubauen und die Verknüpfung von Militär, Paramilitärs, Polizei und Staat aufzuzeigen.


Anmerkungen:
(1) Kolumbien fällt, wie viel andere südamerikanische Länder auch, unter die US-amerikanische Definition von "Drogenanbaugebieten". Diesem "Drogensumpf" inklusive dem Attribut "organisiertes Verbrechen" haben die USA in ihrem Weltordnungswahn schon seit dem Ende der achtziger Jahre den Kampf angesagt. Tatsächlich sind zehntausende Bauern, für die es keine anderen Erwerbsmöglichkeiten gibt, im Kokaanbau beschäftigt, etwa eine Million KolumbianerInnen leben direkt oder indirekt vom Drogengeschäft. Der "Plan Colombia" beinhaltet vor allem eins: die kolumbianische Regierung und ihre Militärs mit "Hilfspaketen" (Vervielfachung der Militärhilfe, Ausbildung kolumbianischer Spezialeinheiten, logistische und unmittelbare militärische Hilfe) im Kampf gegen die linke Guerilla zu unterstützen, die nicht nur Großgrundbesitzer, die politische Führung und die Drogenmafia angreifen, sondern sich auch ein gutes Stück über den Drogenhandel finanzieren. Momentan unterscheidet sich der militärische, nun noch weitläufiger von Amerika unterstützte "war on drugs" dabei nicht von dem vorherigen Vorgehen: Zehntausende Bauern werden vertrieben, mit Herbizidflügen werden nicht nur Kokaanbauflächen vernichtet, sondern ganze Landstriche, Flüsse, Weiden verseucht. Die USA fordern von der kolumbianischen Regierung die gewaltsame Bekämpfung von Drogenmafia und Guerilla gleichermaßen, destabilisieren sie doch massiv den "Hinterhof" der USA, das vordere Südamerika. Druckmittel bleibt der Entzug oder die Bewilligung von finanziellen und militärischen Mitteln, und damit die Entscheidung über Machterhalt oder -verlust der politischen Führung.

(2) Die Kampagne "Gegen die Straflosigkeit - Kolumbien fordert Gerechtigkeit" entstand als Antwort der Basis- und sozialen Organisationen auf das Massaker vom 16. Mai 1998 in Barrancabermeja, in der das gemeinsame Vorgehen von Militärs und Paramilitärs gegen die Zivilbevölkerung sieben Tote und fünfundzwanig Verschwundene hinterließ. Das Massaker markierte den Beginn einer neuen Repressionsphase, die jedwedes alternative Projekt zu zerstören versucht. Der kolumbianische Staat hat bislang nicht ernsthaft die Verantwortung für die Aufklärung, Verurteilung und Bestrafung der für das Massaker Verantwortlichen übernommen. Bis heute hat die Kampagne vier internationale Meinungstribunale durchgeführt. Weitere sollen folgen, außerdem werden öffentliche Anhörungen mit der Lebensmittelgewerkschaft "Sinaltrainal" stattfinden, um auf bisher unbestrafte Mordanschläge gegen GewerkschafterInnen aufmerksam zu machen. Genauso werden gerichtliche Anklagen indigener und schwarzer Gemeinden unterstützt.

(3) Internationale Organisation, die Freiwillige aus- und weiterbildet, die in Krisengebieten versuchen, durch ihre Präsenz und Begleitung gefährdete Oppositionelle vor Angriffen und Repression zu schützen.


Zum Weiterlesen:
www.eln-voces.com (ELN-Seite)
www.patrialibre.org (ELN-Seite)
www.kolumbien-aktuell.ch (Informationen der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien)
www.elcolombiano.com (kolumbianische Tageszeitung)
www.burks.de/colomb.html
www.collectifs.net/risbal (Spezielles zum Süden von Bolivar und zu den öffentlichen Meinungstribunalen)

Zeitschriften:
Lateinamerikanachrichten
ila
Schwerpunkte in der nächsten ila und arranca!

Bücher:
Gabriel Garcia Marquez, "Hundert Jahre Einsamkeit"
Raul Zelik, "La Negra"
 


Inhaltsverzeichnis Kassiber 49
Bezugsmöglichkeiten


zurück!

kombo(p) - 25.07.2002