kassiber 49 - Mai 2002

Interview mit Moshe Zuckermann zur Eskalation des israelisch-palästinensischen Konfliktes

Die militärische Eskalation kann nichts retten ...

Das folgende Interview mit Moshe Zuckermann haben wir in der zweiten Aprilhälfte per eMail geführt. Moshe Zuckermann ist Professor am Cohn-Institut der Universität Tel Aviv und leitet dort auch das Institut für deutsche Geschichte. In kassiber Nummer 44, Februar 2001, erschien von ihm der Artikel "Angst vor Frieden?". (kassiber-Redaktion)


kassiber: Seit Wochen vermelden die Medien täglich eine weitere Eskalation des Konfliktes in Israel und den besetzten Gebieten. Ist diese Eskalation Teil einer militärischen Dramaturgie beider Seiten? Wieweit kann diese Eskalation schließlich noch gehen?


Moshe Zuckermann: Als Arafat im September 2000 die zweite Intifada startete, stellten sich viele israelische Linke die Frage, ob es sich um eine Gewalttaktik mit Friedensstrategie handle. Die allermeisten von ihnen gingen davon aus, daß dem so sei, wobei als Grund die nach den geplatzten Camp-David- und Taba-Gesprächen entstandene Sackgasse angeführt wurde. In der Tat ist es so, daß Arafat die in diesen Gesprächen erzielten Abmachungen schlecht hätte seiner eigenen Bevölkerung verkaufen können. Denn gemessen daran, daß es sich um die finalen Gesprächen zur endgültigen Beilegung des Konflikts handelte, waren die von den Israelis gemachten Angebote zwar "generöser" als alle zuvor gemachten Angebote, aber eben nicht hinreichend.

Ganz anders verhält es sich mit der israelischen Seite, zumindest seitdem Scharon an die Regierungsspitze gelangt ist. Denn mit Scharon steht heute jemand an der Spitze der israelischen Politik, der den Palästinensern gegenüber schon seit Jahrzehnten eine Politik der Gewalt betreibt: Er möchte sie niederkämpfen, die Autonomiebehörde zerschlagen, Arafat liquidieren bzw. lahmlegen. Er hat seit jeher die Siedlerbewegung in der Westbank protegiert, die Siedlungsinfrastruktur vorangetrieben und die damit einhergehende Politik der territorialen Kompromißlosigkeit vertreten. Für Scharon, will es scheinen, konnte nichts Besseres passieren, als die momentan hereinbrechende Gewalt. Jetzt darf er endlich vollziehen, was ihm im Libanon-Krieg versagt blieb.


kassiber: Scharons Kriegspolitik trifft in der israelischen Bevölkerung inzwischen auf immer stärkere Kritik ...


Moshe Zuckermann: Ich bin nicht davon überzeugt, daß Scharon inzwischen die Unterstützung für seinen Kriegskurs wirklich verloren hat. Sobald die Geschehnisse in der Westbank als Krieg apostrophiert wurden, stellte sich bei vielen Israelis der traditionelle Reflex der nationalen Loyalität im "Ausnahmezustand" ein. Man sammelt sich gleichsam um das mythische Lagerfeuer. Man darf sich durch die Zahl der Reservisten, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert haben, nicht täuschen lassen. Es war eine eher verschwindende Minderheit gemessen an den großen Reservistenmassen, die den Dienst bereitwillig angetreten sind. Solange die Propaganda ihre Wirkung tut - es handle sich bei dieser Militärunternehmung um einen "Krieg gegen den Terror" -, wird Scharons Politik den "von den Palästinensern desillusionierten" Israelis als adäquat vorkommen. Eins ist aber klar, sollte seine Politik scheitern, was so viel bedeuten würde, daß ihm die breite Koalitionsregierung auseinanderfällt, dann wird es - früher als geplant - zu Neuwahlen kommen.


kassiber: Scharon trat zu seiner Militärzeit immer für ein "Großisrael" ein, er gilt als Mann der Provokation, so besitzt er beispielsweise eine Wohnung im arabischen Ostteil Jerusalems. Ist er auch heute noch derselbe "Falke", der er in den letzten 30 Jahren war?


Moshe Zuckermann: Die revisionistische Großisrael-Ideologie hat sich in den 1990er Jahren mehr oder minder überlebt. Das dürfte selbst einem Ariel Scharon klar geworden sein. Dafür gibt es in der israelischen Gesamtbevölkerung schlicht keine Unterstützung. Das besagt freilich nicht, daß Scharon bereit ist, die Siedlungen in der Westbank abzubauen und die Gebiete an die Palästinenser zurückzugeben. Worum es ihm zur Zeit also geht, ist die Erhaltung des Status quo, ohne ein sichtbares Ziel über den bestehenden Zustand hinaus zu verfolgen. Das läßt in der Tat den Verdacht aufkommen, daß es Scharon eher um Machterhalt (und um Profilierung seinem Rivalen Benjamin Netanyahu gegenüber) als um die von ihm demagogisch versprochenen "Frieden und Sicherheit" zu tun ist. Keines von beiden hat seine Politik erbracht - und konnte letztlich nicht erbringen: Denn das, was er sich unter Frieden vorstellt, kann von den Palästinensern unter keinen Umständen akzeptiert werden; und das bedeutet eben, daß es auch keine Sicherheit geben kann.

Wie gesagt, war Baraks Angebot "generöser" als irgendein von einem israelischen Politiker jemals zuvor gemachtes Angebot, aber eben nicht "großzügig" genug. Denn gerade, weil es sich um die finale Beilegung des Konflikts handelte (und zwar von Barak selbst in diese Richtung forciert), ging es dann in den Verhandlungen um die allerletzten Dinge, die man teilweise über Jahre in Klammern gesetzt hatte. Es stellte sich denn in der Tat heraus, daß ohne eine fast vollständige Räumung der israelischen Siedlungen auf der Westbank und im Gaza-Streifen, ohne eine nahezu vollständige Rückgabe diese Gebiete an die Palästinenser, ohne eine Regelung der Jerusalem-Frage im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung und ohne eine zumindest symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge kein Frieden zu haben war. Arafat hätte sie seinem Volk nicht verkaufen können.

Die Palästinenser hatten (aus ihre Perspektive) Israel bereits im Jahre 1988 anerkannt und auf 75 Prozent dessen, was sie als ihre Heimat ansahen, verzichtet. Mit dieser Anerkennung Israels haben sie ihre Ansprüche auf das israelische Kernland in den Grenzen von 1967 aufgegeben. Da sie in diesem Land ihre ihnen im 1948er Krieg abgenommene Heimat sehen, bedeutet für sie der Verzicht darauf die Aufgabe von 75 Prozent (genauer: 78 Prozent) der von ihnen als solcher erachteten Heimat. Deshalb verweigern sie auch die Verhandlung um weitere Gebietsabgaben in den verbleibenden 25 Prozent (bzw. 22 Prozent), das heißt also in der Westbank und im Gaza-Streifen. Sie hatten (wiederum aus ihrer Perspektive) nicht sehr viel Verhandlungsspielraum. Was für sie das mindeste war, erwies sich als zu viel für die israelischen Verhandlungspartner.


kassiber: Offenbar hat sich sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite aus dem zunächst noch politischen inzwischen ein rein ethnisierter Konflikt entwickelt. Gibt es noch Stimmen, die versuchen, die Grundlinien dieses Konfliktes anhand der sozialen Widersprüche zu skizzieren?


Moshe Zuckermann: Nein, dieser Aspekt war ja schon immer eher unterbelichtet in der Analyse des Konflikts, und zwar von beiden Seiten. Man war stets geneigt, das Politische in ethnischen, also Volkskategorien zu fassen, und diese Tendenz hat sich durch die Gewaltereignisse der letzten 18 Monate nur noch verschärft. Das hat übrigens nicht nur mit dem auflodernden Haß zu tun, sondern auch mit dem seit etwa zehn Jahren betriebenen Diskurs der israelischen Intelligenz, welche soziale Kategorien unter postmodernen Gesichtspunkten zugunsten kulturellen und ethnischen eingetauscht hat.


kassiber: Haben denn anhand der zunehmenden Ethnisierung der Politik sowohl linker Zionismus als auch säkulärer Sozialismus noch eine Chance?


Moshe Zuckermann: Im Moment hat nichts von alledem eine Chance. Man ist (abgesehen von diesen oder jenen verschwindenden Minderheiten) fast vollkommen verblendet. Es reicht hin, zu verfolgen, welchen Rechtsdrall große Teile der vorgeblich endgültig "desillusionierten" zionistischen Linken in den vergangenen anderthalb Jahren erfahren hat, um zu verstehen, wie regressiv sich die Strukturen auch im sogenannten emanzipativen Lager gestalten. Ob diese Tendenzen späterhin "eine Chance" haben werden, ist momentan unabsehbar. Zumindest aber der "säkulare Sozialismus" scheint in Israel endgültig ausgespielt zu haben. Man darf nicht vergessen, daß ein gewichtiger Teil der friedensorientierten, dem Zionismus anhängenden israelischen Linken klassenmäßig eher den wohlhabenderen Schichten der israelischen Gesellschaft zuzuordnen ist. Diese Leute sind politisch (also in der Israel-Palästina-Frage), nicht sozial links.

In Israel ist die um soziale (Klassen-)Belange kämpfende Linke untergegangen. "Linker Block" meint daher in Israel schon lange nicht mehr ein um soziale Gerechtigkeit kämpfendes Lager, sondern Friedensbewegte, die in der außenpolitischen Frage zu Territorialkonzessionen bereit sind. Nun werden diese sogenannten politischen Linken gesellschaftlich für gewöhnlich vom mittleren bzw. höheren Bürgertum getragen, mithin von den sozialen Trägern des Kapitals. Wohingegen gerade viele Angehörige der unterprivilegierten bzw. armen Schichten, die eigentlich linken Idealen in ihrem eigenen Interesse anhängen müßten, in den außenpolitischen bzw. die besetzten Gebiete betreffenden Fragen gerade rechts ausgerichtet sind. Damit zusammen hängt die genuine israelische Erscheinung der Schass-Partei: orthodoxe orientalische Juden, die zumeist arm sind, in der Territorialfrage aber einen harten Kurs vertreten.


kassiber: In Europa und jetzt auch in Deutschland hat es in den letzten Wochen verstärkt Demonstrationen mit meist pro-palästinensischem Charakter gegeben. Zwar weist zum Beispiel die deutsche Linke einige Zurückhaltung in der Bewertung der Eskalation in Israel auf, dennoch werden nun auch Stimmen lauter, die die israelische Politik vehement verurteilen und für eine neue Solidarität mit den Palästinensern eintreten. Wie werden gerade die Protestbekundungen von deutscher Seite in Israel aufgenommen?


Moshe Zuckermann: In Israel wird letztlich alles, was israelkritisch aus Deutschland - ganz gleich, ob von links oder rechts - kommt, schlecht und vollkommen vorurteilsbeladen aufgenommen. Schlagwort ist traditionell "antisemitisch", zuweilen auch "antizionistisch". Das hat eher was mit einem in Israel vorherrschenden fetischisierten Ressentiment zu tun als mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit Kritik. In Zeiten wie der gegenwärtigen wird vom Durchschnittsbürger ohnehin alles in einen Top geworfen. Ein gängiges Idiom in Israel heißt: "Die ganze Welt ist gegen uns." Der diesem Idiom unterlegte larmoyante Unterton steigert sich zum regelrechten öffentlichen Aufschrei, sobald der Ansatz einer Kritik aus Deutschland vernehmbar wird. Von Deutschland erwartet man sich die totale "Loyalität". Europäische Linke sind beim durchschnittlichen Israeli schon als antizionistisch verschrien; bei deutschen Linken handelt es sich gleich um "Antisemiten".


kassiber: Zwar bleiben angesichts der momentanen Lage die Aussichten auf eine politische Beilegung des Konfliktes in nächster Zeit gering, dennoch werden hier und da Zukunftsszenarien diskutiert. Als ein mögliches Lösungsmodell gilt hier die rigorose Abtrennung eines palästinensischen Staates von Israel ... Wird die Entwicklung auf eine solche Lösung hinauslaufen?


Moshe Zuckermann: Die rigorose Trennung des palästinensischen Staates von Israel halte ich nur für die (im Moment in weite Ferne gerückte) palästinensische Staatsgründung denkbar; für diese ist sie in der Tat unabdingbar, denn die Palästinenser wünschen sich offenbar die nationale Souveränität, mithin die geschichtliche Phase des Nationalstaates. Ich meine aber, daß mittel- und längerfristig der palästinensische Staat auf Israel in vielerlei Hinsicht angewiesen sein wird und schon deshalb an keiner wirklich rigorosen Trennung interessiert sein kann. Ich würde mir für die Zukunft ohnehin eine konföderative Struktur von Israel und Palästina, in die eventuell auch Jordanien integriert werden könnte, vorstellen. Im Moment sind das freilich Zukunftsklänge, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil durch die Gewaltgeschehnisse der letzten achtzehn Monate so viel Haß geschürt und Mißtrauen genährt worden sind, daß es noch lange dauern wird, bis man an einer wahrhaftigen Koexistenz wird denken und arbeiten können.

Im Moment werden politische Ansätze jenseits einer Trennung (zum Beispiel in Form eines israelisch-palästinensischen Föderalstaates; Anm. kassiber) nicht nur nicht erwogen, sondern sie sind unter den momentan herrschenden sozialpsychologischen Gefühlsdeformationen schlechterdings undenkbar. Es stimmt allerdings nicht, daß die Möglichkeit eines binationalen Staates im Zionismus nie diskutiert worden ist. Es gab in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine (vorwiegend von deutsch-jüdischen Gelehrten - Buber, Simon, Scholem, Kohn u.a. - getragene ) Strömung im Zionismus, die diese Idee erörterte. Bekanntlich hat sie sich nicht durchgesetzt. Auch die israelischen Kommunisten, die diese Vorstellung in den Anfangsjahren Israels vertraten, sind späterhin zur Zwei-Staaten-Lösung übergegangen.


kassiber: Auch die innerisraelische Gesellschaft sieht sich mit den zentralen Problemen der Integration vor allem der sozial benachteiligten arabischen Israelis, aber auch der russischstämmigen Neubürger konfrontiert. Rettet die momentane militärische Eskalation den politischen Zionismus oder bedeutet sie mittelfristig dessen Ende?


Moshe Zuckermann: Die militärische Eskalation kann nichts retten, sondern höchstens die Auseinandersetzung mit inneren Konfliktpotentialen zeitweilig aufschieben. Denn sobald der äußere Druck sich gelegt haben wird, werden diese Konfliktachsen wieder an die Oberfläche gelangen, um dann die politisch-soziale Tagesordnung Israels mit um so größerer Vehemenz zu beherrschen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Konfrontation der Jahrzehnte währenden Diskriminierung der arabischen Bürger des Landes bzw. um die Integration der russischstämmigen Neubürger, sondern in nicht geringerem Maß um die längst fällige Auseinandersetzung mit der immens aufgegangenen sozialen Schere überhaupt, mithin mit dem Klassenproblem; mit der sich zuspitzenden ethnischen Spannung zwischen aschkenasischen (aus Europa eingewanderten, Anm. kassiber) und orientalischen Juden, sowie dem sich verschärfenden Konflikt zwischen religiösen und säkularen Juden, mithin mit der Klärung des Verhältnisses von Staat und Religion. Das alles ist durch die kriegerische Auseinandersetzung mit den Palästinensern ja nicht aus der Welt geschafft, sondern eben nur zeitweilig vertagt worden. Es harrt der Gelegenheit, wieder voll ausbrechen zu können.
 


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kombo(p) - 25.07.2002