kassiber 48 - März 2002

Bücher und Broschüren


Das rote Jahrzehnt


Im Juni 1967 wird der Berliner Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten ermordet. Diese Zäsur markiert den Beginn des "roten Jahrzehnts" von der Außerparlamentarischen Opposition (APO) bis Stammheim.

Ein halbes Jahr nach dem Tod Benno Ohnesorgs kündigte Rudi Dutschke im Deutschen Fernsehen im Gespräch mit Günther Gaus an, "daß wir dann Waffen benutzen werden, wenn bundesrepublikanische Truppen in Vietnam oder in Bolivien oder anderswo kämpfen - daß wir dann im eigenen Land kämpfen werden". Heute sind deutsche Truppen wieder überall in der Welt mit dabei, und es erscheint geradezu surreal, daß noch vor drei Jahrzehnten von der radikalen Linken offen (über das Fernsehen!) für diesen Fall zum bewaffneten Kampf aufgerufen wurde. Bekanntlich folgten den diversen militanten Lippenbekenntnissen innerhalb der APO bald die Umsetzung in die militante Tat. In wenigen Jahren wuchs die radikale westdeutsche Linke in einem Maße an, daß viele von ihnen sich in der Situation sahen, "die Machtfrage zu stellen".

Gerd Koenen war Teil dieser Bewegung und ihrer vielen Bewegungen: Zunächst im Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) aktiv, fand er sich später als leitendes Mitglied im Zentralkomitee des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) wieder und setzt eben deshalb auch in Das rote Jahrzehnt einen starken Akzent auf die verworrene Geschichte des deutschen K-Gruppen-Geflechts.

Ihm gelingt bei der Beschreibung der ersten Jahre des "roten Jahrzehnts" eine dichte, halb analytische, halb erzählerisch-biographische Darstellung: Die Reise führt vom SDS bis zur Aufsplittung der "Szene" in radikale Frauengruppen, Sozialistisches Patientenkollektiv, Stadtguerrilla oder die vielen K-Gruppen in ihrer jeweiliger Anlehnung an die Lehren von Marx, Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot oder Enver Hodscha. Interessant hierbei sind vor allem die unzähligen Zitate und Textauszüge aus der Mitte der jeweiligen Bewegung, die vielleicht noch am ehesten Aufschluß darüber zu geben vermögen, wie der politische Kern des damaligen gemeinsamen Kampfes aussah.

Dabei gilt es sich vor Augen zu halten, wie schnell die radikale Linke jener Zeit angewachsen ist und zur hegemonialen Kraft zumindest unter den deutschen StudentInnen wurde: Waren 1968 im SDS und im Umfeld der APO nur einige tausend Aktive zu finden, so geht Koenen für Mitte der siebziger Jahre von 80.000 bis 100.000 AktivistInnen - "Revolutionären" - aus, sogenannte "SympathisantInnen" noch außen vor gelassen.

Im Verlaufe der kurzlebigen APO wurde bald von allen Seiten der Ruf nach fester Organisationsstruktur, nach einer Avantgardebewegung und dem Wiederaufbau der Kommunistischen Partei laut. Hier jedoch wurde an einem nicht genau zu bestimmenden Punkt der historische Moment verpaßt, die radikale Linke in der BRD tatsächlich zu bündeln. Statt dessen definierte sich jede der neu entstandenen K-Gruppen nicht nur über ihre jeweilige Analyse mit mal trotzkistischem, syndikalistischem, leninistischem oder maoistischem Einschlag, sondern offenbar auch über die zugehörige Abgrenzung gegenüber ihren KonkurrentInnen.

So beanspruchten sowohl die KPD/AO (Maoisten, Leitspruch: "Dem Volke dienen!") als auch die KPD/ML (Marxisten/Leninisten/Stalinisten, später die noch heute existierende MLPD) die wahre KPD darzustellen, erst einer ihrer Abspaltungen gelang es in den achtziger Jahren, als die Konkurrenz schon untergegangen war, sich den ehrwürdigen Namen KPD ans Revers zu heften. Auf der anderen Seite wetteiferten der norddeutsche KB (Kommunistischer Bund), dem ein Großteil der Hamburger Grünen heutiger Zeit entstammen und der bundesweite KBW um die Gunst des Proletariats miteinander - auch nicht immer auf die feine Art.

Welch schöne Blüten die Geschichte der neu-orthodoxen Linken in der BRD trieb, illustriert Koenen an vielen Stellen durchaus unterhaltsam. Der Wettstreit der KPDler untereinander, wer nun die persönliche Audienz bei Albaniens KP-Chef Enver Hodscha empfangen würde, ist ebenso amüsant wie der pathetische Versuch der KPD/AO, bei einer Kundgebung an der Berliner Mauer 1975 die Arbeitermassen in Ost- und West-Berlin daran zu erinnern, daß "das Vermächtnis des Genossen Stalin hochgehalten werden muß". Man kann sich die Resonanz dieser Aktion in Ost und West lebhaft vorstellen ...

Zur Entwicklung der neuen Frauenbewegung führt Koenen glücklicherweise eine "Gewährsfrau" an, die er aus jener Zeit berichten läßt und hält sich entsprechend mit seiner Analyse in diesem Abschnitt zurück. Etwas ärgerlich wird Koenens Darstellung spätestens mit dem Finale Grande im Deutschen Herbst, die letztlich nur ein lauer Aufguß des "Baader-Meinhof-Komplexes" ist, aus dem vorwiegend zitiert wird. Dazu maßt sich Koenen an, alles und jedes in der Stadtguerilla in Richtung eines ihnen unterstellten narzißtischen Nazismus zu psychologisieren, wobei der politische Kampf von RAF, RZ, etc. nur noch am Rande behandelt wird.

Dementsprechend kann auch die Schlußbetrachtung übergangen werden, denn hier wird ganz aktuell auf die letztjährige Fischer-Debatte verwiesen; so festigt sich doch der Eindruck, daß die politische Tour de force durch die westdeutsche Radikalität für Koenen mit der Regierungsbeteiligung der Grünen zum Guten gewendet wurde.


Günther Feind


Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt, Kiepenheuer und Wisch, 2001, 500 S., 25 Euro


 


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kombo(p) - 21.07.2002