kassiber 48 - März 2002

Die afghanische Frauenorganisation RAWA

Krieg im Namen der Frauenrechte?


Für den 17. Dezember 2001 hatten der Frauenbuchladen Hagazussa, belladonna, die DGB-Frauen und die Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF) zu einer Veranstaltung mit dem Titel "Der Krieg in Afghanistan aus Frauensicht" ins DGB-Haus eingeladen. Das Thema stieß auf großes Interesse: Der Raum war mit den ca. 200 Besucherinnen mehr als reichlich gefüllt. Referentin war eine Vertreterin von RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan), die unter dem Pseudonym Shala Asad auftrat. Wir werden diesen Namen im Folgenden ebenfalls verwenden. Shala Asad ist seit 1996 Mitglied der Frauenorganisation und zur Zeit in deren Kulturkomitee tätig.

Wir haben für den kassiber an einer Pressekonferenz mit Shala Asad vor der Veranstaltung teilgenommen. Außer uns waren u.a. Frauen von belladonna, vom FrauenLesbenkalender Trulla, vom Weser-Kurier und der taz anwesend (s. entsprechende Artikel am 18.12.2001). Die im Folgenden dokumentierten Fragen sind also nur teilweise von uns gestellt worden (nur die 7. - 10. Frage); für manche Fragen, die wir gern noch gestellt hätten (z.B. nach der Beurteilung der Zeit unter dem König Sahir Khan Schah) und für konkretisierende Rückfragen blieb leider keine Zeit. Als Übersetzerin fungierte sowohl auf der Pressekonferenz als auch während der Veranstaltung eine seit 24 Jahren in Bremen lebende Afghanin. Sie leistete damit einen Mammutjob, hatte aber leider auch die Eigenschaft, bisweilen Versatzstücke ihres eigenen Meinungsbildes von sich zu geben, und zwar nicht deutlich getrennt von der Übersetzung. Wir hoffen, anhand des Vergleiches mit dem Vortrag und weiteren Äußerungen Shala Asads trotzdem alles ungefähr richtig wiederzugeben. Manchmal haben wir aus Gründen des inhaltlichen Zusammenhangs Passagen verschoben; insgesamt sind jedoch alle Äußerungen Shala Asads im Text enthalten.


Dokumentation der Pressekonferenz


Frage: Wie ist die aktuelle Situation in Afghanistan?


Shala Asad: Die Nordallianz hat es wieder einmal geschafft, sich als Macht in Afghanistan zu etablieren. Das Land ist zur Zeit unter verschiedenen Gruppierungen verteilt, die sich gegenseitig bekämpfen und um möglichst große Machtbereiche kämpfen. Sie ziehen plündernd und vergewaltigend durch das Land - genauso, wie sie es 1992 schon getan haben, diemal eben unter dem Vorwand, Verstecke der Taliban zu suchen. Sie massakrieren die einfachen Taliban-Soldaten - eine menschenrechtsverachtende Methode, die auch von ihren Vorgängern, den Taliban, angewendet wurde, und die RAWA natürlich anprangert.

Was die Bombardements durch die USA betrifft: Die Zahl der Verletzten bzw. Toten ist noch nicht sicher, geht aber in die Hunderte. Es gibt allerdings noch keine offiziellen Zahlen. Betroffen von den Bombardements sind vor allem Privatwohnungen, -häuser und Stadtteile - sowohl direkt in Kabul als auch in anderen Großstädten.

Für die Bevölkerung hat sich die Situation seit den Bombardements nicht verbessert, sondern noch weiter verschlechtert. Das betrifft vor allen Dingen die Frauen. Ihre Angst ist jetzt noch größer geworden. Seit dem Beginn der Angriffe sind viele aus Afghanistan geflohen - aus Angst vor den Bombardements, aber auch aus Angst, durch die neu zusammengesetzte Regierung verhaftet oder gar umgebracht zu werden.

Die USA rechtfertigen ihre Bombenabwürfe nach dem 11. September 2001 unter anderem mit der Behauptung, es ginge ihnen nicht nur um die Toten des World Trade Centers, sondern auch um die Verteidigung der Rechte der Frauen. Das ist lächerlich. Das ist weder ein Grund für die Bombardements (im Gegensatz z.B. zur geostrategischen Lage Afghanistans), noch wird sich an der Lage irgendetwas bessern, solange es keinen Frieden in Afghanistan gibt. Wie immer in Kriegen, gehören die Frauen zu den Hauptleidtragenden.

Noch während des Rückzugs der Taliban aus den Großstädten war die Lage sehr unsicher. Viele Männer hatten die Großstädte verlassen, um vor dem Krieg und seinen Folgen zu fliehen bzw. auf der Suche nach Arbeit, um ihre Familien zu ernähren. Besonders stark betroffen von den Folgen des "Anti-Terror-Krieges" waren daher vor allem die in den Städten allein zurückgebliebenen Frauen: die Kriegswitwen, die Alleinerziehenden und die, deren Männer vor dem Krieg nach Pakistan geflohen sind. Diese Frauen konnten selbst nicht fliehen und hatten auch keine Möglichkeit, eine Arbeit zu finden, um die Kinder zu ernähren: Das war ihnen verboten.

RAWA hat einen Film über Frauen gemacht, die aus den Städten in Richtung Pakistan geflohen sind. Da die offizielle Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan geschlossen war, haben sie den Weg über die Berge der Grenzregion genommen. Der Film zeigt, unter welchen schrecklichen Umständen so eine Flucht stattfindet, wie schwer sie ist.


Frage: Gibt es so etwas wie Hoffnung unter den Frauen?

Shala Asad: Sowohl die moralische als auch die finanzielle Lage in den afghanischen Lagern, aber auch in Afghanistan selbst, ist zur Zeit sehr schlimm. Bei unserer Arbeit in den Lagern erfahren wir, daß die Frauen von großer Angst erfüllt sind - aber trotz allem auch von der Hoffnung, daß eines Tages Frieden nach Afghanistan kommt und die Flüchtlinge nach Afghanistan zurückkehren können.

Wenn die Versprechungen der UNO tatsächlich wahrgemacht werden, daß die Frauen ebenfalls an der Regierung beteiligt werden, dann werden die Frauenorganisationen sich natürlich am Wiederaufbau der Gesellschaft beteiligen, die Schulen wieder eröffnen und beginnen, wieder in allen möglichen Lebensbereichen zu arbeiten. Wenn ihnen tatsächlich diese Chance gegeben wird.


Frage: Erhoffen Sie sich das auch durch die Übergangsregierung - oder was erhoffen Sie sich von dieser?

Shala Asad: Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, aber die Zusammensetzung dieser Übergangsregierung läßt nichts Gutes erwarten. Ausgerechnet die Schlüsselpositionen - z.B. das Innen-, das Außen- und das Verteidigungsministerium - sind nach wie vor in der Hand von Fundamentalisten. Auch wenn in der Öffentlichkeit angegeben wird mit den jetzt angeblich zu erwartenden Fortschritten für die Frauen - mit einer Regierung in dieser Besetzung ist es sehr unwahrscheinlich, daß die Frauen in Zukunft eine Chance haben werden. Es sei denn, sie stehen selber auf und kämpfen für ihre Rechte.

Im Gegensatz zu den vorherrschenden Darstellungen in den westlichen Medien handelt es sich bei den Frauen, die den Schleier abgelegt haben und den Männern, die sich rasieren lassen haben, um bloße Eintagsfliegen. Die Mullahs der Nordallianz verbieten zur Zeit schon wieder, daß Männer ihre Bärte abrasieren: Wer das mache, sei ein Linker. Es wurden bereits Männern wegen dieses "Vergehens" die Nasen und Ohren abgeschnitten. Und die Frauen gehen nach wie vor nicht arbeiten, die Mädchen bekommen nach wie vor keine Schulbildung.

Schon bevor die Vertreter der Nordallianz in Kabul einmarschierten, war allen bewußt, daß damit keine Verbesserung der Situation eintreten würde. Die Bevölkerung hatte ab 1992 nur schlimme Erfahrungen mit ihnen gemacht. Mit der Nordallianz sind ein weiteres Mal, nur in neuen Masken, Fundamentalisten an die Macht gekommen. Nun befürchten die Menschen zu Recht, daß sie recht bald wieder ihr wahres Gesicht zeigen werden.

Die Vertreter der Nordallianz haben in der jüngsten Vergangenheit grausam deutlich gezeigt, wie ihre Position gegenüber den Frauen aussieht: Sie waren es, die die Islamische Republik ausgerufen, den Frauen grundsätzliche Rechte abgesprochen, das Bildungsverbot gegen die Frauen erlassen, die Schulzeit verkürzt und Schulen geschlossen haben. Ein solches Regime, das Menschenrechte, Frauenrechte, Demokratie mißachtet, ist für uns immer noch ein fundamentalistisches. Ein solches Regime können wir nicht akzeptieren.


Frage: Wie beurteilt RAWA die Einmischung der westlichen Länder?


Shala Asad: Ebensowenig, wie wir das Regime der Nordallianz akzeptieren können, können wir dessen Unterstützung durch die westlichen Länder akzeptieren. Und wir sind entsetzt darüber, wie schnell die westlichen Mächte vergessen konnten, was 1992 passiert ist, wer die Vertreter der Nordallianz sind, daß sie die Menschen- und die Frauenrechte völlig mißachten, daß sie sogar damals schon Osama bin Laden unterstützt haben (er bekam z.B. von ihnen einen afghanischen Paß). Und waren es nicht auch die USA, die uns dieses System überhaupt beschert haben?

In Afghanistan herrscht seit langem ein ausgeprägt hierarchisches System - und wird wohl auch weiterhin herrschen. In der Zeit der Besetzung durch die Sowjetunion und des Kampfes dagegen kündigte sich außerdem bereits zunehmend das Aufkeimen des Fundamentalismus an. Die Situation hat sich dadurch seitdem drastisch verschlechtert, vor allem für die Frauen.

Wie Sie wissen, ist Afghanistan auch vorher kein besonders hoch entwickeltes Land mit einer bombastischen Ökonomie gewesen. Frauenrechte, Freiheit der Frauen, Beteiligung der Frauen an der Regierung sind jedoch gebunden an Bildung und damit an die ökonomische Situation. Solange auf dem ökonomischen Gebiet keine Verbesserungen erreicht werden, wird sich auch an der Situation der Frauen nichts ändern - selbst wenn die politische Lage sich ändert.

Die Gleichberechtigung der Frauen ist bereits unter den Regimen, die die Sowjetmacht an die Macht gebracht hatte, mißachtet worden. Ihre Auffassung von den Freiheiten der Frau war sehr traditionell geprägt und in eine hierarchische Struktur eingebettet. Diese falsche Interpretation von "Freiheit der Frau" und deren politische Durchsetzung hat viel Schaden angerichtet. Seit 1992 sind die Frauenrechte dann immer extremer beschnitten worden - bis hin zum jetzigen Zustand.

Die Befreiung der Frau ist ein sehr langwieriger Prozeß in Afghanistan, für den wir noch viel Kraft aufwenden müssen. Aber auch die Frauen in Europa haben nicht von Anfang an die Rechte gehabt, die sie jetzt besitzen: Auch sie haben hart darum kämpfen müssen.


Frage: Was muß in Afghanistan geschehen, damit das Land eine Chance hat, in Frieden wieder aufgebaut zu werden?


Shala Asad: Wir denken, daß nur ein demokratisches und säkulares System, in dem die Rechte der Frauen auch im Grundgesetz verankert sind, die Situation der Frauen verändern kann.


Frage: Wie groß ist die Chance, daß das passiert?


Shala Asad: Ohne Frieden, ohne Sicherheit, ohne Frauenbildung, ohne Beteiligung der Frauen an der Macht ist es natürlich unmöglich, daß das passiert. Ich habe ja bereits gesagt: Vor uns liegt noch ein langer, schwieriger Weg.

Natürlich hat der seit 23 Jahre andauernde Krieg der Bevölkerung ungeheuer schmerzhafte Erfahrungen bereitet. Andererseits hat er auch bewirkt, daß sie den Machthabern sehr kritisch und wachsam gegenübersteht.

Diejenigen, die ausgewandert sind, haben sich darüberhinaus im Ausland mit demokratischen Ideen angefreundet. Und auch in einem so rückständigen Land wie Afghanistan mit diesem ganz zurückgebliebenen Staatssystem kämpfen die Frauen für ihre Freiheit, auch wenn sie vielleicht andere Vorstellungen von der Befreiung der Frau haben als die Frauen in den westlichen Ländern. Das wird in den westlichen Medien oft falsch dargestellt.

Man sagt, durch die Globalisierung sind die Menschen und Länder einander nähergekommen. Wir aber bekommen nicht die Chance, das zu genießen. Finden Sie nicht, daß es die Aufgabe aller Menschen auf der Erde ist, daran mitzuarbeiten, daß eines Tages alle Völker, alle Menschen gleichberechtigt sind?


Frage: Sie setzen Ihre Hoffnung auf eine Demokratisierung. Gleichzeitig betonen Sie, daß sich die Situation - speziell auch die der Frauen - durch das Eingreifen gerade der Länder, die sich demokratisch nennen, noch wesentlich verschlechtert hat. Sehen Sie darin nicht einen Widerspruch?


Shala Asad: Ganz abgesehen von den westlichen Länden ist selbst Pakistan demokratischer als Afghanistan. Deswegen kämpfen wir für eine Demokratisierung. Wir sind aber dagegen, das westliche Demokratieverständnis nach Afghanistan zu importieren: für uns heißt Demokratie, eine Gesellschaft zu schaffen, die der Bevölkerung dient. Dazu muß sie den finanziellen Möglichkeiten sowie den politischen, kulturellen und historischen Gegebenheiten Afghanistans Rechnung tragen.


Frage: Im Namen "RAWA" kommt auch das Wort "revolutionary" vor. Warum, und was versteht die Organisation unter diesem Begriff?


Shala Asad: Das Wort "revolutionär" erschreckt viele Leute aus dem Westen, aber natürlich auch die Nachbarn in Afghanistan. Aber unter den politischen Bedingungen zur Zeit der Gründung von RAWA war schon allein der Gedanke, daß die Frauen sich zu einer unabhängigen Organisation zusammenschließen sollten, revolutionär. Und wir behalten unseren Namen, auch wenn wir uns dadurch manche Türen versperren. (1)


Frage: Unter welchen Bedingungen wurde RAWA 1977 gegründet?


Shala Asad: Wie in vielen anderen Ländern dieser Welt hatten auch in Afghanistan zu dieser Zeit die Frauen angefangen, um ihre Gleichstellung zu kämpfen. Vieles in der Gesellschaft war in Bewegung, und die politische Schicht und die Intellektuellen bemerkten das. In diesem Zusammenhang wurde auch RAWA 1977 als unabhängige Frauenrechtsorganisation gegründet. Da das als staatsfeindlich angesehen wurde, mußten die Frauen im Untergrund arbeiten. In der gleichen Zeit organisierten sich parallel dazu auch die Frauen der prosowjetischen Organisationen. Mit dem Putsch und dem Einmarsch der Sowjetarmee blieb die Situation für die Frauen von RAWA jedoch prekär: Sie mußten weiterhin im Untergrund arbeiten. Die Arbeit - die damals vorwiegend Sozialarbeit war - wurde trotzdem fortgesetzt und sogar noch weiter verbreitet.


Frage: Hat RAWA eine eigene politische Utopie für die gesamte afghanische Gesellschaft oder ist Frauenpolitik der gemeinsame Nenner, der Frauen ansonsten verschiedener politischer Ansichten in der Organisation zusammenführt?


Shala Asad: Die lange Geschichte der Unterdrückung von Frauen und dazu noch die 23 Jahre Krieg veranlassen die Frauen von RAWA, sich gesellschaftspolitisch zu betätigen und ein säkulares, demokratisches Staatssystem zu fordern. Das soll keine Utopie bleiben, sondern wir werden dafür kämpfen, daß es gesellschaftliche Realität wird.

Aufgrund des niedrigen Bildungsniveaus in der afghanischen Gesellschaft, das auf einem noch schlechteren Stand ist als zu Zeiten der Monarchie, kann die Mehrheit der Bevölkerung das Wort "säkular" vielleicht nicht einmal aussprechen, geschweige denn sich etwas darunter vorstellen. Sowohl Demokratie als auch Säkularisierung sind darüber hinaus in Afghanistan durch massive Propaganda zu negativen Begriffen gemacht worden. Aber wenn man die einfachen Menschen fragt, welche Zukunft sie ihren Kindern wünschen, antworten sie, ihre Kinder sollen in Frieden leben und Bildungsmöglichkeiten bekommen.


Frage: Haben Sie die Befürchtung, daß das Interesse der Weltöffentlichkeit für die Situation der Frauen in Afghanistan, das infolge des US-Angriffs geweckt wurde, bald wieder verschwinden wird und die afghanischen Frauen wieder in einer schlimmen Situation allein zurückläßt?


Shala Asad: Die Gründerin von RAWA hat einmal auf einer Konferenz gesagt, daß die Fundamentalisten einmal nicht nur für Afghanistan und seine Nachbarn gefährlich sein würden, sondern für die ganze Welt. Die Unterstützung dieses Fundamentalismus wäre damit weitaus gefährlicher und hätte schlimmere Folgen als der Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan. Diese Meinung hat sie schon 1981 vertreten. Sie hatte Recht.

Jetzt sind die Fundamentalisten - diesmal in Form der Nordallianz - ein weiteres Mal mit westlicher Unterstützung in Afghanistan an die Macht gekommen. Da die Geldgeber, die westlichen Staaten, die Weltöffentlichkeit das von ihnen erwarten, reden sie von "Verbesserung der Lage der Frauen", von Menschenrechten und Demokratie. Sobald sich jedoch für sie die Möglichkeit ergibt, werden sie zu ihrer üblichen Alltagspraxis zurückkehren.


Frage: Wie ist RAWA unter den Frauen der Bevölkerung verankert?


Shala Asad: Nur vier Prozent der afghanischen Frauen können lesen und schreiben. Die meisten haben also kaum eine Möglichkeit, sich gezielt politisch zu informieren und ein politisches Bewußtsein herauszubilden. Unsere Arbeit als revolutionäre Frauenliga ist dadurch natürlich eingeschränkt. RAWA versucht dennoch, möglichst viele Frauen zu erreichen und Informationen über die Organisation und deren Ziele mit einfachen Mitteln zu verbreiten.


Frage: Arbeitet RAWA immer noch im Untergrund?


Shala Asad: Da sich die politische Lage für RAWA nicht verändert hat, hat sich auch die Arbeitsweise der Organisation nicht geändert. Nach wie vor sind Fundamentalisten in Afghanistan an der Macht, nach wie vor sind wir auch in Pakistan bedroht und der pakistanische Geheimdienst ist hinter uns her. RAWA arbeitet also weiterhin im Untergrund. Was wir immer schon gemacht haben und auch weiterhin fortsetzen werden, ist, in geeigneten Situationen Demonstrationen zu organisieren.


Frage: Mit welchen afghanischen Organisationen arbeitet RAWA zur Zeit zusammen?


Shala Asad: Es gibt ohnehin nur wenige Organisationen in Afghanistan, und unter den existierenden sind keine, mit denen RAWA zusammenarbeiten könnte. Wir arbeiten allerdings mit verschiedenen NGOs, die in Afghanistan tätig sind, zusammen und unterstützen sie.

Solange sich die in Afghanistan oder Pakistan bestehenden Organisationen nicht vom Fundamentalismus abgrenzen, solange sie zu der Idee von einem demokratischen System unter Mitbeteiligung der Frauen an der Macht nicht äußern, wird RAWA versuchen, ihre Positionen auf sich gestellt weiter zu verbreiten und durchzusetzen. Mit den beiden fundamentalistischen Frauenorganisationen Afghan Women Council und Shuhada, die zur Zeit versuchen, sich in der Öffentlichkeit zu etablieren (2), haben wir natürlich Meinungsverschiedenheiten, weil sie sich nicht offen für die Gleichberechtigung der Frau einsetzen und sich zur gegenwärtigen Position der Frauen nicht äußern. Der Afghan Women Council ist zum Beispiel eine Art Ableger einer relativ gemäßigten islamistischen Organisation, in dem die Frauen keine Rolle spielen durften, seine Gründerin Fatima die Schwiegertochter des Führers dieser Organisation, Sayed Ahmad Gailani. Die Familie Gailani ist eine sehr bekannte, alte fundamentalistische Familie. (3) Fatima fordert, alle Gruppen - auch fundamentalistische - sollten sich einfach zusammensetzen und sich Gedanken darüber machen, wie die Kämpfe und die Gewalt beendet werden könnten. Sie trennt nicht zwischen Politik und Religion und stellt auch keinerlei konkrete politische Forderungen. Das kritisieren wir. In der Zeit, als die Fundamentalisten in Afghanistan massenweise Frauen jeden Alters vergewaltigt haben, kamen vom Afghan Women Council Ratschläge an die Frauen, wie sie sich als "gute Frauen" verhalten sollten, wie sie gute Gastgeberinnen sein und gute Kleidung nähen können - letztlich also, wie sie "gute Frauen" für ihre Männer sein können. Die Frauen in dieser Organisation leisten humanitäre Hilfe, aber politische Forderungen sind nicht ihr Ding.

Ansonsten ist noch die Ärztin Sima Samar mit ihrer Organisation Shuhada zu nennen. Sie gehört der zentralafghanischen Minderheit der Hazara an und ist deren politische Vertreterin. Ethnisches wird von ihr instrumentalisiert. Jüngst ist sie Frauenministerin der fundamentalistischen Hezb-e-Wahdat (Einheitsfront) geworden. Sie legt selbst keinerlei Wert auf Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen. RAWA möchte dementsprechend und wegen ihres politischen Auftretens auch nicht mit ihr zusammenarbeiten.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Frauenorganisationen und RAWA: Sie versuchen, um mehr Rechte für die Frauen zu bitten, zu betteln. Wir aber kämpfen für diese Freiheiten und wollen sie uns und allen Frauen selbst verschaffen.


Anke Bohrisch , Britta Meyer


Anmerkungen:
(1) RAWA hatte sich jahrelang erfolglos um finanzielle Unterstützung bei den westlichen Botschaften in Islamabad bemüht. Die englische Botschaft antwortete deutlich: Solange das Wort "revolutionary" im Namen der Organisation vorkomme, brauche sie keinerlei Unterstützung zu erwarten (s. Spiegel 42/2001, S. 180).
(2) S. zum Beispiel die Artikel samt Spendenaufruf von Sima Samar (Shuhada) in Terre des Femmes 1/02, S. 6-9.
(3) Die Aristokratenfamilie Gailani ist verwandt mit Sahir Schah. Nicht nur eine Schwiegertochter, sondern auch ein Sohn des Mudschaheddinführers Sayed Ahmad Gailani macht hohe Politik: Abdul Hamid Gailani hat innerhalb der Peschawar-Gruppe an der Petersberg-Konferenz im Dezember 2001 teilgenommen.





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[Kasten 1]


Veranstaltung mit einer Vertreterin von RAWA in Bremen (Auszug aus der Einleitung)


(...) Afghanistan hat eine sehr wichtige strategische Position innerhalb Asiens und war deshalb für alle ausländischen Mächte immer von Interesse. Es ist im Verlauf der Geschichte immer wieder von verschiedenen ausländischen Mächten besetzt und überfallen worden. Auch die UdSSR wollte hier ihre Macht ausbauen und im asiatischen Raum verankern. Die Besatzung durch die UdSSR hat etwa 11 Jahre gedauert und einen enormen Widerstand hervorgerufen, der auch vom Westen deutlich wahrgenommen wurde. Zu den wichtigsten negativen Auswirkungen des Krieges gehörten die komplette Vernichtung von Dörfern, deren Namen heute nicht einmal mehr bekannt sind, und die Ermordung zahlreicher Menschen. Nach den Opfern, die die Bevölkerung im Befreiungskampf bringen mußte, wuchs die Hoffnung nach dem Rückzug der Sowjettruppen, daß nun endlich Frieden einkehrt. Die Menschen wußten nicht, daß sie noch viel Schlimmeres erwarten würde, nämlich die fundamentalistischen Gruppierungen, die nach Afghanistan gekommen sind und dort die Macht an sich gerissen haben.

Die Fundamentalisten, die sich während des Befreiungskampfes in Afghanistan mit Hilfe der Supermacht USA sowie der Nachbarländer Iran und Pakistan organisiert haben, haben von Anfang an alle Menschen- und Frauenrechte mißachtet und Afghanistan in Schutt und Asche gelegt. Die Medien haben hierbei eine äußerst negative Rolle gespielt: Sie haben manche von diesen Gruppierungen hoch gefeiert und als revolutionäre Befreiungskämpfer dargestellt und ihnen damit auch zu Macht verholfen. Die Medien und die Unterstützung durch das westliche Ausland sind hauptsächlich daran Schuld, daß die Fundamentalisten ihre Macht in Afghanistan derartig stark verankern und ausbauen konnten.

1992, nachdem die heutige Nordallianz - damals Islamische Befreiungsfront - die Macht erobert hatte, wurde klar, daß sie einzig im Interesse ihrer eigenen Macht gehandelt hatten - weder für Freiheit, noch für Menschenrechte oder Frieden. Daß von ihnen die Islamische Republik ausgerufen wurde, und in welche Lage vor allem auch die afghanischen Frauen gebracht wurden, darüber wurde im Westen nicht mehr Bericht erstattet. Nach der Machtübernahme wurde das Land unter den verschiedenen Gruppierungen aufgeteilt, der Machtkampf wurde von Kabul auf das ganze Land ausgeweitet. Die einzelnen Gruppierungen machten dort, wo sie gerade herrschten, alles, was sie wollten. Ihre Untaten sind mittlerweile genügend bekannt.

Der Machtkampf wurde auf allen Ebenen ausgetragen. Der Bevölkerung wurde Angst eingejagt, Frauen wurden vergewaltigt, es gab viele grausige Untaten ... Die allererste unmenschliche Tat der Fundamentalisten war die Schließung der Schulen. In der Zeit ihrer Macht von 1992 bis 1996 wurde nicht eine einzige Schule mehr gebaut, obwohl der Bildungsbedarf so hoch war. Die bestehenden Rechte der Frauen wurden beseitigt, und auch in anderen Punkten setzten sie die Scharia (1) durch. Als die Buddhastatuen durch die Taliban gesprengt wurden, ging ein Aufschrei durch die westlichen Medien. Aber schon die Gruppen der heutigen Nordallianz haben in der Zeit ihrer Herrschaft fast das gesamte kulturelle Erbe Afghanistans vernichtet. Das berühmte Museum von Kabul haben sie ausgeplündert und dann zerstört und die Raubware in den Westen verkauft. Sie, die sich jetzt den westlichen Medien als Verteidiger von Demoktratie und Freiheit darstellen, waren es, die Osama bin Laden in Afghanistan willkommen hießen. Unter ihrer Herrschaft erhielt er den afghanischen Paß und ist seitdem dort geblieben. Es bleibt uns unverständlich, wie der Westen diese Allianz unterstützen kann.

Die Psyche der afghanischen Bevölkerung ist durch den mehr als zwanzigjährigen Krieg zerstört. Die Menschen haben keine Kraft mehr. Hier ist es schwer, sich vorzustellen, daß die Kinder in Afghanistan von Stiften und Heften träumen - von Frieden ganz zu schweigen. Sie haben täglich Grausamkeiten gesehen und selbst erlebt.

Es ist auch schwer, sich die Schmerzen der Frauen vorzustellen, die aus dem gesamten öffentlichen Leben verbannt worden sind, sich vorzustellen, wie die Frauen diese Situation überhaupt überlebt haben. Diejenigen Frauen, die eine Ausbildung hatten, durften ihren Beruf nicht mehr ausüben. Ohne Mann durften Frauen das Haus nicht verlassen. Bei kleinster Abweichung von den Vorschriften der Taliban drohten den Frauen Schläge und in manchen Fällen sogar Steinigung. Um ihre Kinder zu ernähren, mußten Frauen ihren Körper verkaufen oder sind Bettlerinnen geworden - manche haben sogar in ihrer Not ihre Kinder umgebracht, weil sie sie nicht mehr ernähren konnten. Andere flohen nach Pakistan, um in diesem furchtbaren Lager unterzukommen.

Die Schmerzen, die den Menschen durch diese furchtbaren Erlebnisse zugefügt worden sind, sind nicht mehr zu heilen. Vor kurzem gab es eine Nachricht aus einem der Lager in Nordafghanistan, daß innerhalb einer einzigen Nacht hunderte Menschen vor Hunger und Kälte umgekommen sind.

Zu dieser ohnehin schrecklichen Situation gesellte sich seit dem 11. September - bzw. seit dem 7. Oktober - auch noch das Bombardement durch die Amerikaner. Daß Tony Blair und George Bush Afghanistan im Namen von Demokratie, Freiheit und der Gleichstellung der Frau bombardieren lassen - ist das nicht lächerlich?!

Trotz des Schmerzes um den Tod der Personen, die in New York umgekommen sind - für uns ist die Situation der Bevölkerung in unserem Land schmerzhafter. Und die Politik des Westens, der immer wieder wechselnde Bündnisse mit den Fundamentalisten in Afghanistan einging und sie unterstützte, ist Hauptursache für diese Situation. (...)


Anmerkung:
(1) Scharia: Gesetzgebung, die sich auf den Koran beruft





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[Kasten 2]


Frauenrechte in Afghanistan (Chronologie)


1921 wird unter König Amanulla Khan (Amtsantritt mit der formellen Unabhängigkeit von Großbritannien 1919, 1929 von Konservativen vertrieben) ein Heiratsgesetz verabschiedet, das das Heiratsalter für Frauen auf 16 Jahre heraufsetzt und den Frauen einige Rechte sichert. Der König tritt gegen Verschleierung und Abschottung der Frauen im häuslichen Bereich ein. Seine Ehefrau Soraya tritt als erste unverschleiert in der Öffentlichkeit auf. Die erste Primarschule für Mädchen wird eröffnet, unter

König Nadir Schah aber wieder verboten und erst 1932, als Hebammenschule getarnt, wieder eröffnet.

Später (unter der Herrschaft von seinem Sohn Sahir Schah, 1933-73) langsame Modernisierung, konstitutionelle Monarchie.

Anfang der 1950er erhalten die ersten Frauen Zutritt zur Universität in Kabul, innerhalb einer eigenen Fakultät. Premierminister Daud läßt in den 1960ern die Universitäten für Frauen öffnen und erläßt ein Dekret, das gleiche Rechte und Pflichten für Männer und Frauen festschreibt. Anläßlich der Unabhängigkeitsfeiern 1959 erscheint das Ministerkabinett mit unverschleierten Frauen in der Öffentlichkeit.

1964 wird unter Daud der Schleierzwang aufgehoben.

1965 wird das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Einige Frauen erhalten hohe Staatsposten (z.B. gab es in den 1960ern drei Ministerinnen).

Auch in der afghanischen Gesellschaft gibt es Ende der 60er / Anfang der 70er einen Linksruck. Mit Hilfe der kommunistischen Partei putscht Premier Daud 1973 gegen Sahir Schah, Afghanistan wird zur Republik ausgerufen. (Daud versucht aber bald, die KommunistInnen wieder loszuwerden.)

In den 70ern werden mehrere Frauenorganisationen gegründet.

1978 putschen Militärs der kommunistischen, prosowjetischen DVAP (Demokratischen Volkspartei) und setzen Daud ab. Machtkämpfe zwischen dem Chalk- und dem Partscham-Flügel der DVAP.

1979 Einmarsch der Sowjetunion. Unter der DVAP war die Sicherstellung gleicher Rechte für Männer und Frauen gesetzlich festgelegt, Alphabetisierungen wurden z.T. mit Zwang durchgesetzt. Starke Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung blieben bestehen. In den Städten waren bereits viele Frauen berufstätig (vor allem im Staatsdienst und als Lehrerinnen). Nach dem sowjetischen Einmarsch steigt diese Zahl weiter, was aber u.a. daran liegt, daß Frauen an Stelle ihrer (bei den Mudjaheddin oder in der Regierungsarmee) kämpfenden Männer in den Fabriken eingesetzt werden.

1986 wird Nadjibullah Präsident. 1989 werden die sowjetischen Truppen abgezogen.

1992 wird Nadjibullah von den Mudschaheddin-Führern Rabbani und Hekmatjar gestürzt. Die frauenfreundlichen Paragraphen der Verfassung werden außer Kraft gesetzt, der Ganzkörperschleier wird vorgeschrieben. Überall kriegerische Machtkämpfe zwischen den rivalisierenden Gruppen der heutigen Nord-Allianz.

1996 Machtübernahme der Taliban. Das System der totalen Kontrolle über die Frauen wird perfektioniert und stabilisiert.
 


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kombo(p) - 21.07.2002