kassiber 48 - März 2002

Afghanistan nach dem "Petersberg-Abkommen"

Der neue Frieden der alten Kriegsherren


Anfang Dezember 2001: Auf dem Petersberg in Königswinter bei Bonn trafen sich UN-Diplomaten und 38 afghanische Politiker - die meisten davon mit ausländischen Pässen, seit Jahren im Exil. Die Bundesregierung hatte nicht nur zu der Konferenz eingeladen, sondern auch gleich einen Sieben-Punkte-Plan vorgelegt, der über die Zukunft Afghanistans entscheiden sollte.

In der Pokerrunde um die neu zu erwerbenden Macht - und Einflußbereiche saßen auf der Seite Afghanistans Vertreter der vier Gruppen, die schnell und geschickt genug waren, ihren Willen zu bekunden, an der politischen Entwicklung eines "demokratischen, modernen Afghanistans" mitwirken zu wollen, denn nur wer im Rahmen des Afghanistan-Abkommens an die Macht gelangt, wird von der UNO als politischer Gesprächspartner Anerkennung finden. Wehe dem also, der seinen Fuß nicht rechtzeitig in der Tür hat...

Die einzelnen Gruppen sind dazu durchaus personell (und finanziell spätestens, wenn die Wiederaufbauhilfe verteilt wird) in der Lage. Das liegt zum Beispiel bei der sogenannten Rom-Gruppe am Rückhalt, den sie im königstreuen (auch königsverwandten) und technokratischem Lager erhält, bei der Zypern-Gruppe, die weitgehend aus exil-afghanischen Hochschullehrern besteht, daran, daß sie die einzige bedeutendere Vertretung afghanischer Intellektueller darstellt. Ebenfalls vertreten waren die Aristokraten und Mudschaheddin der pakistannahen Peshawar-Gruppe. Am zahlreichsten vertreten war das installierte Zweckbündnis der Nordallianz mit den Mudschaheddin des alten afghanischen Präsidenten Rabbani. Größtenteils also die Kräfte, die zwischen 1992 und 1996 maßgeblich an der Zerstörung Kabuls und dem Tod von 50.000 Zivilisten mitgewirkt haben.

Die Konferenz verlief erwartungsgemäß mehr schlecht als recht und gab einen Vorgeschmack auf das zukünftige Hauen und Stechen, das in Afghanistan seine Fortsetzung finden wird. Die Besetzung der Posten in der seit dem 20. Dezember aktiven Übergangsregierung fand offiziell nach "ethnischen Gesichtspunkten" statt - viel Volk, viel Posten. Merkwürdig nur, daß am Ende das politische Gewicht mit 70 Prozent der Ressorts an die "siegreiche" Nordallianz fiel, darunter die Schlüsselrollen im Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium. Nur ihr alter Chef Rabbani wurde von den westlichen Politikern zur Abdankung genötigt, um Platz zu machen für Hamid Karzai, den bereits feststehenden Anwärter auf das Amt des zukünftigen Regierungsoberhaupts und - Wunschkandidaten der USA.

Die Rivalitäten und Unzufriedenheiten ob der Verteilung äußerten sich in protestreicher Abreise des Paschtunen-Vertreters, freiwillig erzwungenem Verzicht auf Kabinettsitze seitens der kleinen Zypern-Gruppe und in mühevoller Überzeugungsarbeit gegenüber dem Delegationsleiter der Rom-Gruppe, Sattir Sirat, der eigentlich selbst ganz gern Regierungschef geworden wäre. Nicht überraschend ist auch die Tatsache, daß nur zwei Frauen Zugang zu Ministerposten gefunden haben, die beide von Aktivistinnen der Revolutionary Association of Afghan Women (RAWA) dafür kritisiert wurden, daß sie nicht am politischen Kampf der letzten Jahre beteiligt waren. RAWA selbst wurde nicht zur Konferenz auf dem Petersberg geladen...


"Fahrplan zur Demokratie"

Unter Zuhilfenahme wirtschaftlicher Druckmittel wurde - trotz anfänglicher Gegenwehr von Teilen der Delegation der Nordallianz - somit die Stationierung von ausländischen "Friedenstruppen" beschlossen, außerdem die Installierung der (bis auf personelle Details festgelegten) Regierung ab dem 20. Dezember und das weitere Vorgehen hinsichtlich der innerafghanischen Sicherheitslage.

Der "Fahrplan zur Demokratie" (Spiegel, 5.12.2001) ist gültig bis zum 22. Juni 2004. Amtieren soll die Übergangs-Regierung unter Karzai, unterstützt von westlicher Finanz- und Militärhilfe, zunächst in den kommenden sechs Monaten. Dann soll sie einer Interimsregierung weichen, die bis 2004 im Amt bleibt. Wer in dieser Interimsregierung Platz finden wird, soll nach Petersberger Vorbild von einer Kommission vorgeschlagen und dann - hier liegt der Unterschied zur Petersberg-Konferenz - von einer außerordentlichen Loya-Dschirga (Großen Ratsversammlung) noch mal eben abgenickt werden. Womit sich die Einrichtung der Ratsversammlung eigentlich von selbst als Scheininstitution entlarven würde.


Etappensieger : Deutschland

"Weltgeschichte" meint Kanzler Schröder geschrieben zu haben, und damit hat er ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Sicher, schon lange nicht mehr ist in so kurzer Zeit der Plan gefaßt, konsequent umgesetzt und schließlich die Neugründung eines zerstörten Staates so rasch vorangetrieben worden wie jetzt am Beispiel Afghanistans und auch lange nicht mehr ist dabei so viel Profilierung für westliche Politiker - und dabei vor allem für die deutschen - rumgekommen. Denn die internationale Aufwertung, die mit einer in Deutschland stattfindenden Afghanistan-Konferenz verbunden ist, sei nicht unterschätzt - da heißt es schnell und wird gern gehört: "... der Frieden, ein Ergebnis aus Deutschland". Vor allem gegenüber den USA ist es nach wie vor angesagt, auf die Pauke zu hauen und vielleicht ja auch ein bißchen auf die schon sehr viel älteren Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan zu verweisen, die Deutschland womöglich den historischen Bonus und einen Etappensieg auf dem Weg Wirtschaftstandort Mittelasien sichern (vgl. "Von Berlin nach Kabul" in diesem kassiber).

Aber um die jetzige Rolle erfolgreich weiterzuspielen, wird klug und glaubwürdig betont, daß es natürlich ganz und gar nicht um neue nationalstaatliche Spielräume ginge - wer hätte das jemals zu vermuten gewagt?

Ob eines solchen Erfolges kann man also schon mal ein Momentchen weltgeschichtlich größenwahnsinnig werden, auch wenn das ja sonst des Kanzlers Art nicht ist.


Hamid Karzai - der Mann des Westens mit nationaler Vision

Barg das Zusammentreffen der afghanischen Kriegsherren und Monarchisten trotz allem die Chance, Möglichkeiten für eine Friedenssituation zu erörtern, die seit zwei Jahrzehnten undenkbar war (von einer zweifelhaften Stabilität, die die Taliban durchgesetzt haben, einmal abgesehen)? Das ist wohl die Minimalforderung der kriegstraumatisierten afghanischen Bevölkerung an die neue alte Regierung und die westlichen Besatzer. Unter den momentanen katastrophalen Bedingungen ist es den Menschen wahrscheinlich schon egal, von welcher Seite der Frieden jetzt genau kommt.

Ausgenommen sicherlich die USA.. Deren Akzeptanz ist ob der noch immer andauernden Bombardements in den von den Medien weniger aufmerksam verfolgten Regionen Afghanistans und in denen unter pakistanischem und saudi-arabischem Einfluß denkbar gering. Da ist Hamid Karzai als neuer Regierungschef vorerst die sicherste Bank. Der braucht für seinen Machterhalt allerdings womöglich die militärische Unterstützung der verbliebenen und scheinbar nun gemäßigten Taliban. Deren Nützlichkeit als Kämpfer wäre, um sich im innerafghanischen Machtgeklüngel durchzusetzen, nicht unbedeutend. Um Karzais Akzeptanz in der Bevölkerung dürfte es nämlich nicht allzu gut bestellt sein: Er tritt großspurig als vom Westen gesandte Ein-Mann-Partei auf; er und sein Kabinett "... sind weder repräsentativ für den afghanischen Vielvölkerstaat, noch wirklich legitimiert" (Matin Baraki, Blättter für deutsche und internationale Politik, 2/2002 ). Karzais Karriereverlauf könnte ohnehin Mißtrauen erwecken: Nach ein paar Jahren als Mudschaheddin zog er sich erstmal in die USA zurück und legte sein Geld clever im Aufbau einer Restaurantkette an, bis er schließlich nach Afghanistan zurückkehrte und sich dem Kampf gegen die Taliban widmete. Einen saubereren Mann haben die USA offenbar nicht gefunden, um sich durch seine Präsidentschaft die Zugriffsmöglichkeit auf den mittelasiatischen Raum zu sichern. Um die schließlich geht es noch weit vor Karzais "nationaler Vision", die er für das Land bereit hält.

Schließlich ist und bleibt Afghanistan "lebenswichtige Interessenregion" (nicht nur) "der Vereinigten Staaten", wie Madeleine Albright schon vor 1997 betonte. Nach langer Verzögerung dürfte jetzt auch bald der mit unmittelbarer Unterstützung der US-Regierung am 23. Juli 1997 unterzeichnete Vertrag über das 1.500 Kilometer lange Pipeline-Projekt von Turkmenistan nach Pakistan und weiter nach Indien realisiert werden. Neben dem aserbaidschanischen Erdöl sind die großen Erdölkonzerne vor allem an den Erdgasvorkommen Turkmenistans, den zweitgrößten weltweit, interessiert.


UN-Truppen - zukünftige Besatzungsmacht?

Wie wenig oder wie viel Fundament es für solch einen Frieden in einem Land gibt, in dem Konflikte seit langem nur mit Waffengewalt gelöst werden, wird sich zeigen, aber vor allem, wie unumgänglich die westliche Einflußnahme tatsächlich ist. Denn die Interessenlage der einzelnen Gruppen über ihr Einflußgebiet hinaus hat noch einiges an Konfliktpotential zu bieten - und wie die Truppen der Nordallianz, die sich in kriegsgewinnlerischer Manier kaum anders gebärden als ihre Vorgänger, legen die Clans und Mächtigen die Grenzen ihrer Territorien fest und nicht eine wacklige Regierung in Kabul. Schon toben in verschiedenen Provinzen wieder erbitterte Kämpfe bewaffneter Fraktionen der Übergangsregierung um Macht und Gouverneursposten.

Da nützt alle emanzipatorische Hoffnung nichts, wenn das Wohl und Wehe dann doch von dem Eingriff der UN-Truppen in die regionalen Spannungen abhängt; womit deren Akzeptanz, selbst wenn sie als "humanitäre Einsatztruppe" deklariert werden, in den betroffenen Regionen nicht unbedingt zunehmen wird und somit wieder rasant Spielfeld für rivalisierende und machthungrige Warlords frei wird. Wie der Umgang mit denen dann aussehen wird, läßt sich angesichts der langsam wieder verblassenden Bilder nach dem 7. Oktober (Beginn der Bombardierung Afghanistans) recht gut vorstellen. Aber wie überhaupt eine dauernde Besetzung durch UN-Truppen aussehen könnte, bleibt unklar - in ihrer Finanzierung, ihrer notwendigen Unterstützung von Rußland aus und vor allem in dem Unterworfensein der UNO unter die Vorgaben der USA. Vielleicht doch lieber "ein Scheitern als elegante Lösung"? (Frankfurter Rundschau, 3.12.2001)

Der Einfluß Pakistans, Irans und Rußlands wird durch den vorhersehbaren Ärger im Kabinett und im Land selber ebenfalls zu einem Faktor werden, der noch keine stabilisierende Entsprechung hat. Iran und Rußland favorisieren weiterhin die Nordallianz, Pakistan hält sich weitere Optionen der Zusammenarbeit offen - hierbei sind die "gemäßigten", "gewendeten" Taliban nicht uninteressant. Diese haben sich bereits in Islamabad zu einer "normalen" Partei organisiert, die "allen Taliban offenstehe", so ihr Vorsitzender Amin Mudschaddedi. Desweiteren werde sie sich an den zukünftigen Wahlen beteiligen und dabei sicher keine unwichtige Rolle spielen.

Aber allein die Zustände zum momentanen Zeitpunkt, die verheerende Versorgungslage, die Situation der Flüchtlinge und der Bewohner in abgelegenen Regionen, die unkoordinierte, recht wetterfühlige Vorgehensweise der UN-Truppen, kleine faux-pas`, wenn beispielsweise US-Soldaten im "tragischen Irrtum" 15 Dorfbewohner, die mit der Entwaffnung von Talibankämpfern beauftragt waren, für ebensolche halten und ohne weiteres über den Haufen schießen, genauso wie die weitergehenden Bombardements, überfordern derzeit Politiker im Inland wie Ausland.


"Heim nach Kabul"

Aber wie immer, wenn die Kriegsspiele im Fernsehen weniger spannend werden, schrumpft das öffentliche wie das mediale Interesse recht schnell auf ein Mindestmaß. Die tatsächliche Verwendung der "Wiederaufbauhilfe", eine öffentliche Kontrolle der Geldflüsse nach Afghanistan oder der Einsatz der Bundeswehr werden dann erst recht nicht mehr diskutiert. Stattdessen möchte Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul am liebsten den Großteil der 80.000 in Deutschland lebenden Exil-AfghanInnen "mit finanziellen Anreizen" dazu bewegen, in einem "Rückkehrerprogramm" (Motto: "Es ist euer Land") selbst kräftig mit anzupacken. Genug Geld aus dem Anti-Terror-Paket der Bundesregierung gibt's ja und nach einer Analyse der "Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte GmbH" auch das entsprechende Heimkehrer-Potenzial.

Das wären sicher schöne Aufnahmen - nicht mehr Bombenkrater und Todesopfer der Operation "enduring freedom", die noch immer unsere Bilder von satellitenschüsselshoppenden Hauptsstadtbewohnern unangenehm überlagern. Stattdessen fröhlich wuppende afghanische Trümmerfrauen, die sich das aus Deutschland mitgebrachte goldgerahmte Schwarzwald-Foto nostalgisch zwischen die improvisierten Fensterlöcher pinnen ...


Nachrichten aus dem Hinterland

Shopping ist nach wie vor nur den wenigsten vorbehalten, und die besten KundInnen auf den sich nach und nach wiederbelebenden Märkten Kabuls sind immer noch die ausländischen JournalistInnen und die VertreterInnen der humanitären Hilfsorganisationen, bevor sie in die schwer zu erreichenden Landesregionen aufbrechen. In denen sieht es katastrophal aus.

Während die USA sich mit ihrer Großzügigkeit in Sachen Hilfslieferungen brüsten und behaupten, die drohende Katastrophe sei längst abgewendet, hat im Rest des Landes, fernab der großen Städte eine Hungersnot eingesetzt, vor der Organisationen wie Cap Anamur, Care oder die Welthungerhilfe bereits seit Monaten gewarnt haben.

Dass die Hilfslieferungen selten bis gar nicht an die Orte gelangen, an denen sie gebraucht werden, liegt nicht nur an den miserablen Streckenbedingungen, sondern auch daran, dass die dringend benötigten Informationen aus dem Hinterland kaum an die zuständigen Stellen gelangen. Und wie sämtliche noch vor dem Krieg verbliebene Infrastruktur, sind auch fast das komplette Gesundheitssystem sowie nötige Interventionsmöglichkeiten zur Bekämpfung der flächendeckenden Unter- und Mangelernährung, zusammengebrochen. Während sich in den Depots die Weizensäcke stapeln, gibt es weder für die Millionen von Binnenflüchtlingen noch für die aus Pakistan und Iran unter Druck zurückkehrenden Flüchtlinge genügend Nahrungsmittel und Unterkünfte. Die UNICEF befürchtet, daß dieses Jahr in Afghanistan 400.000 Kinder unter fünf Jahren sterben werden. Das wären 100.000 mehr als zu "normalen Zeiten".

Dazu kommt, daß von 30 Provinzen 28 fast komplett vermint sind. Allein sieben Millionen Landminen (nach inoffiziellen Angaben über 12 Millionen) lagen schon vor dem Krieg auf Äckern und Weiden und die Zahl der Blindgänger von US-Streubomben, die jetzt noch dazugekommen sind, wird optimistisch mit 6.000 angegeben. Dringend angeforderte professionelle Minenräumkommandos sind kaum im Einsatz.

Ein weiteres Problem bleiben die innerafghanischen Machtverhältnisse, die bestimmte Regionen nicht passierbar machen und die Hilfsorganisationen zwingen, auf die Nachbarstaaten auszuweichen, um so weit wie möglich an bestimmte Gegenden heranzukommen. Die lokalen rivalisierenden Clans sorgen mit ihren nach wie vor andauernden Machtkämpfen, genauso wie marodierende Soldaten der Nordallianz, die Wegezölle und Bestechungsgelder fordern, dafür, daß viele Hauptverkehrsverbindungen nicht schnell und unproblematisch genug benutzbar sind. Das führte trotzdem nicht zu verstärkter technischer Hilfe - zum Beispiel seitens der Bundesregierung, die es offensichtlich nicht schafft, seit Monaten versprochene Lieferungen von Brücken, Werkzeugen und Fahrzeugen in die Region zu versenden.

Doch auch Deutschland wird bald sicherlich nicht nur Saatgut, Schultafeln, weitere Soldaten und Frauenrechtlerinnen nach Afghanistan einfliegen, sondern sich neben den geplanten finanziellen Mitteln zum Wiederaufbau auch ein bißchen Hilfe zur Selbsthilfe gönnen. Denn mit dem Neuaufbau der afghanischen Infrastruktur fallen subventionierte Aufträge für Industrie und Mittelstand ab und - die kann die schwächelnde Konjunktur ganz gut gebrauchen. EU-Deutschland hat dementsprechend in Tokio seinen Willen zum Ausdruck gebracht, dem Land "wieder auf die Beine zu helfen" ...


Tokio - wieviel Geld für was?

"Kaum erwarten", konnte es Hamid Karzai, "die gute Nachricht dem afghanischen Volk zu überbringen", ein "sehr, sehr guter Anfang", lobhudelte James Wolfensohn und einen "großartigen Erfolg für den Neuanfang Afghanistans" ersah Heidemarie Wieczorek-Zeul. Die frohen Stimmen überschlugen sich geradezu nach Beendigung der Geberkonferenz Ende Januar in Tokio.

Was war passiert? Sollte die Staatengemeinschaft von ihrer Tradition abgerückt sein und nach milliardenschweren Kriegseinsätzen plötzlich auch, ohne zu feilschen, hochdotierte Wiederaufbauhilfe zur Verfügung stellen wollen? Wohl nicht: Wie immer nach Militärinterventionen ist auch die Afghanistan-Geberkonferenz gelaufen, um sich mit den entsprechenden Mitteln Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückzukaufen. Und natürlich wird gehandelt bis zum günstigsten Preis - einem nicht gar zu blamablen und den eigenen Interessen entsprechendem.

Delegierte von 60 Staaten, die bei der Bekämpfung des Terrorismus nicht nebenbei stehen wollen, und Mitglieder von 22 internationalen Hilfsorganisationen waren vertreten, um eine im Endeffekt doch recht stattliche Summe für Afghanistans abstrakte Zukunft beziehungsweise dessen "demokratischen Neuanfang" zusammenzustellen. Zumindest wurde großartig versprochen - eingezahlt wurde von der versprochenen Anschubfinanzierung erst ein Bruchteil. Nichtsdestotrotz, es geht um insgesamt eine Milliarde Dollar aus der Europäischen Union bis 2006, davon kommen womöglich 486 Millionen noch in diesem Jahr. 70 Millionen davon wiederum aus Deutschland, dessen Gesamtanteil bis 2006 dann 282 Millionen umfassen würde. Japan hat 499 Millionen Dollar für die nächsten zweieinhalb Jahre zugesagt, die Hälfte davon soll noch in diesem Jahr fließen. Die USA stellen, neben dem Versprechen von natürlich "langfristiger Unterstützung", in diesem Jahr vorerst 269 Millionen Dollar zur Verfügung. Bezahlt werden sollen zunächst einmal die 210.000 Beamten des Landes, ohne die sich selbstverständlich kein Staat machen lässt. Und weil die Taliban noch rasch die Zentralbank geplündert haben, wird wohl für die restlichen Vorhaben (Minenbeseitigung, Wiederaufbau der Infrastruktur...) zunächst erst mal kein Geld da sein. Schließlich will Hamid Karzai auch noch eine 250.000 starke Armee aufbauen ...


Franka Wolf





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[Kasten 1]


Afghanische Hinrichtungen sollen künftig "milde" sein

KABUL, 18. Dezember (afp). Auch nach dem Sturz der Taliban wird es in Afghanistan öffentliche Hinrichtungen geben. Exekutionen, Steinigungen und Amputationen entsprächen dem islamischen Recht, der Scharia, und würden beibehalten, sagte ein Richter des Obersten Tribunals in Kabul, Ahamat Ullha Sarif, am Dienstag. In Zukunft sollten die Hinrichtungen jedoch "gerecht und milde" sein. So würden Gehenkte nicht wie bei den Taliban vier Tage am Galgen gelassen, sondern vermutlich nur eine Viertelstunde, sagte Sarif.

Verurteilte Ehebrecher sollten weiterhin gesteinigt werden. Die neuen Machthaber wollten aber kleinere Steine als die Taliban verwenden, sagte der Richter. So erhielten die Verurteilten eine Chance zur Flucht. "Wenn sie entkommen, sind sie frei." Nur wer sein Verbrechen nicht gestehe, werde an Händen und Füßen gefesselt und sei deshalb dem sicheren Tod geweiht.

(aus: Frankfurter Rundschau vom 19.12.2001)





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[Kasten 2]


Einige Daten zu afghanischen Geschichte

Im Juli 1973 putschte Mohammed Daud, der bereits bis 1963 unter Sahir Schah Premierminister war, mit Unterstützung von Militäroffizieren der marxistischen Partei "Partscham" ("Fahne") gegen den König Sahir Schah. Die "Partscham" war eine Abspaltung der Kommunistischen Partei "Chalk" ("Volk" - für "Demokratische Volkspartei") und rekrutierte sich im Gegensatz zum eher ländlich zusammengesetzten Chalk-Flügel vor allem aus Männern städtischer Herkunft und aus der Oberschicht.

Sahir Schah ging ins Exil nach Italien, wo er bis heute lebt. Nach der Stabilisierung seiner Machtposition schmiß Daud das sozialistische Regierungsprogramm kurzerhand über den Haufen, tauschte alle marxistischen Minister aus und ließ sich 1977 ein drittes Mal pompös ins Amt des Regierungspräsidenten wählen. Das Kabinett setzte sich anschließend aus seinem bürgerlichen Freundeskreis und Angehörigen der königlichen Familie zusammen. Daud versuchte, Afghanistan nach und nach aus der Abhängigkeit von der Sowjetunion und den USA zu befreien und statt dessen Beziehungen zu den arabischen Staaten, vor allem zum Iran, Saudi-Arabien, Kuwait und Ägypten aufzunehmen. Dieser Alleingang Dauds provozierte die zerstrittenen marxistischen Flügel zu einem vorübergehenden Zusammenschluß und führte zur sogenannten "Aprilrevolution" 1978, bei der Daud und ein Großteil seiner Familie kurzerhand getötet wurde. Die Revolutionsregierung unter Mohammed Tarakis (Chalk) und den Vizepräsidenten Babrak Karmal und Hafisullah Amin (Partscham) verkündete ein Programm des "Wissenschaftlichen Sozialismus" und begann bereits nach wenigen Wochen mit der Realisierung von Bodenreformen, der Neuregelung von Ehe- und Scheidungsangelegenheiten und Zwangsalphabetisierungsprogrammen. Die Rigidität, mit der diese Maßnahmen zum Aufbrechen der feudalen Strukturen durchgesetzt wurden und die massive Repression, die damit einherging, resultierte in wachsendem Widerstand gegen das zentralistische Regime. Schon im Sommer 1978 rollten die ersten Aufstandswellen unter Ausrufung des "Djihad" durchs Land.

Die an Differenzen krankende Revolutionsregierung war bald nicht mehr in der Lage, die Rebellion einzudämmen und bat alsbald mehrmals (angeblich 21 Mal) die Sowjetunion um militärische Hilfe. Die wurde schließlich gewährt und am 24. Dezember 1979 marschierten die ersten Truppen der Roten Armee in Afghanistan ein. Die USA hatten im Sommer den Plan aufgegeben, die Opponenten der prosowjetischen Regierung zu unterstützen, da eine anschließende großangelegte Militärintervention der Sowjetunion zu wahrscheinlich schien. Für sie war es sinnvoller, abzuwarten, den Sowjets den Vortritt zu lassen und dann sowohl mit Entrüstung über den Einmarsch, mit einem Weizenembargo und dem Boykott der Olympiade 1980 in Moskau zu reagieren - aber gleichzeitig ein verdecktes Programm zur Unterstützung des afghanischen Widerstands gegen Karmal und die sowjetischen Truppen zu initiieren. Dieser wuchs rasch an. Seit 1980 kämpften die Mudschaheddin in verschiedenen regionalen Gruppen innerhalb Afghanistans gegen die Sowjets, bis 1989 hochgerüstet mit mehreren Milliarden US-Dollar.

Im Mai 1986, Babrak Karmal war vom früheren Leiter der Staatspolizei Nadschibullah abgelöst worden, startete eine Kampagne der "nationalen Wiederversöhnung" von seiten der Kabuler Regierung. Diese stieß bei den Mudschaheddin allerdings auf wenig Resonanz. Das war nicht verwunderlich, hatte sich doch deren militärische Situation durch die Zunahme ausländischer Militärhilfe von den USA, Großbritannien und China kontinuierlich und entscheidend verbessert. Über Pakistan wurden die Waffen geliefert, von denen vor allem die US-amerikanischen Stinger-Raketen den sowjetischen Luftkräften erhebliche Verluste zufügten.

Ende der achtziger Jahre kontrollierte die Kabuler Regierung praktisch nur noch die großen Städte und die Verbindungswege, woraufhin sich die sowjetische Regierung entschloß, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Am 14. April 1988 unterzeichneten die Sowjetunion, die USA, Pakistan und Afghanistan ein Abkommen, das neben dem russischen Truppenabzug innerhalb der nächsten neun Monate ebenfalls vorsah, daß Pakistan und Afghanistan jedwede Einmischung in die Angelegenheiten des jeweils anderen Landes zu unterlassen hatten. Beschlossen wurde ebenfalls die Rückführung der afghanischen Flüchtlinge - nur die Frage, wer nach dem Abzug der Sowjets regieren sollte, wurde nicht erörtert. Auf Grund dessen blieb Nadschibullah weiterhin Regierungschef und der Bürgerkrieg im Land ging unverändert weiter. Erst im April 1992 zogen die Mudschaheddin nach etlichen Großoffensiven endgültig in Kabul ein, stürzten Nadschibullah, legten etwa ein Drittel der Stadt in Schutt und Asche und töteten dabei mehr als 50.000 Zivilisten. Kabuls Grenzen wurden vermint, die Stadt in sechs Einflußbereiche zerlegt und sämtliches noch brauchbares Inventar der städtischen Institutionen demontiert und nach Pakistan verbracht. Den Plan ihrer militärischen Unterstützer, der vorsah, stabile politische Verhältnisse zu schaffen, um in strenger Kooperation mit US-amerikanischen und pakistanischen Geldgebern die Region des mittleren Ostens als Wirtschaftsstandort zu realisieren, gelang es allerdings nicht umzusetzen.

Aus diesem Grund bedurfte es einer neuen eigenständigen Gruppe, die, gut gerüstet und selbständig agierend, in der Lage sein mußte, ganz Afghanistan zu besetzen, um die Verwirklichung entscheidender Projekte westlicher Ölkonzerne und der Interessenten an größeren, wenn nicht größten, Gold- und Silbervorkommen voranzutreiben. Im September 1994 tauchten zum ersten Mal die militärischen Formationen der Taliban auf und überfielen die Stadt Kandahar. Es ist trotz der Dementis der USA erwiesen, daß sie über den gesamten Zeitraum, in dem die Taliban Afghanistan beherrschten, enge politische Kontakte zu ihnen pflegten. Nach der Einnahme Kabuls im September 1996 kündigte die für Südasien verantwortliche Staatssekretärin im US-Außenministerium an, das Taliban-Regime anzuerkennen und die US-Botschaft im zerstörten Kabul wiederzueröffnen.

Die weiteren Entwicklungen unter der Taliban-Herrschaft, die Grausamkeiten gegenüber der afghanischen Bevölkerung, vor allem gegenüber den Frauen, sind hinlänglich bekannt ...
 


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kombo(p) - 21.07.2002