kassiber 47 - Dezember 2001

Queering the Verhältnisse


Trotz besten Sommerwetters war die Veranstaltung über das Buch Queer Theory im rat & tat-Zentrum für Schwule und Lesben am 6. Juli sehr gut besucht. Zwei der vier Berliner ÜbersetzerInnen präsentierten das Buch und stellten sich den Fragen des schwitzenden, aber sehr ausdauernden Publikums (unter den Anwesenden befanden sich nicht einmal zehn Männer). Das deutet darauf hin, daß queer derzeit tatsächlich auf Interesse stößt. Ist queer nur eine neue Modetheorie, die der Entpolitisierung der Lesben- und Schwulenbewegung entgegenwirkt? Ist queer ein Feld, in dem ehrgeizige NachwuchswissenschaftlerInnen akademische Meriten in den Gender Studies erwerben, oder ist es doch ein theoretisch-politisches Projekt, das (geschlechtliche) Zwangsidentitäten jeglicher Couleur und Heteronormativität angreift?

Das Buch Queer Theory der Australierin Annamarie Jagose bezieht sich vor allem auf den angloamerikanischen Sprachraum. Es erschien im Original schon 1996 und versteht sich vor allem als Einführung in dieses Feld. Deshalb haben die vier ÜbersetzerInnen in einem Nachwort die seitdem neuen Debatten und Anmerkungen zur Befassung mit queer in Deutschland nachgereicht.

Vorweg: Es gibt keine feststehende Definition von queer. Jagose erläutert einige Grundaussagen, wie etwa die, daß Queer Theory die Analyse und Destabilisierung gesellschaftlicher Normen, vor allem der von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit, anstrebt. Queer Theory analysiert, wie Sexualitäten reguliert werden und wie diese Regulierung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen (Staat, Militär, Erziehung etc. pp.) verwoben ist.

Jagose stellt queer in die Begriffsgeschichte sexueller Identitäten und gleichgeschlechtlichem Begehren. Sie zeigt zum Beispiel wie im Rahmen der industriellen Moderne vor 130 Jahren die homosexuelle Identität sozusagen "erfunden" wurde - homosexuelles Begehren und Verhalten hatte es auch vorher schon gegeben.

Danach diskutiert sie die Quellen, aus denen queer entstand: Lesbischer Feminismus, die eher biedere Homophilenbewegung und die daraus entstandene radikalere Homo-(Befreiungs-) Bewegung. In der politischen Programmatik ist queer vor allem eine Abkehr von den auf Identitätspolitik basierenden Integrationswünschen der schwulen und lesbischen Bewegungen.

Nicht zuletzt ist queer als Kultur der Versuch, die Heteronormativität, die Heterosexualität als Norm dieser Gesellschaft anzukratzen und sie zu entprivilegisieren. Zum Schluß diskutiert Jagose einige Kritiken an queer, zum Beispiel die nachdenkenswerte These, Queer Theory sei antifeministisch, da queer vor allem von Schwulen getragen werde. Oder queer sei vor allem eine Sache von weißen MittelschichtlerInnen, ein Vorwurf, der berechtigterweise auch der Linken, Feministinnen und anderen gemacht wurde.

Ein politischer Ansatz, der viel über Hierarchien und Ausschlüsse redet und trotzdem in einer Sprache verfaßt ist, die nur als ausschließend erlebt werden kann, verliert leider viel von seiner Glaubwürdigkeit. Die Sprache sowohl von Jagose als auch die des Nachwortes ist mehr als anspruchsvoll und ich kann nicht behaupten, daß ich alles verstanden habe. Da hätte vieles auch einfacher ausgedrückt werden und so mehr Menschen erreichen können. Queer steht, da die dazugehörige Praxis nicht ganz einfach zu gestalten ist, in der Gefahr, in der Akademisierung zu verkümmern. Wenn Queer studies aber nur ein weitere Nische im akademischen Betrieb würde, wäre das schade und eindeutig zu wenig.

Daß die Beschäftigung mit queer angezeigt ist, um die todlangweilige kulturelle Grammatik der Restlinken etwas durcheinanderzubringen - sie zu verqueeren - steht außer Frage. Queer greift Fragestellungen auf, die in der autonomen Linken vor zehn Jahren unter dem Stichwort "drei zu eins" zu Rassismus, Feminismus und Kapitalismus diskutiert wurden und könnte die zeitgemäße Fortsetzung davon sein. Das Patriarchat ist noch lange nicht vorbei, auch wenn dies antideutsche Flachdenker von der Zeitschrift bahamas oder italienische Differenzfeministinnen (Libreria delle donne di Milano: Das Patriarchat ist zu Ende, Göttert Verlag, 1996) behaupten. Wie traditionell die Geschlechteridentitäten und Rollenzuweisungen immer noch sind, läßt sich nicht nur in Lesbenkrimis, sondern auch - was Kinderbetreuung angeht - an jedem Nachmittag am Café Sand oder auf jedem anderen Spielplatz besichtigen ...


Winnie Olivieria


Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung; Berlin: Querverlag, 2001, 220 Seiten, DM 29,80, www.querverlag.de; erhältlich im Infoladen, St.-Pauli-Straße 10/12, und im Frauenbuchladen hagazussa, Friesenstraße 12

Hinweis: Ein Bremer Diskussionszusammenhang, der sich mit Queer Studies beschäftigt, ist unter projektqueerstudies@freenet.de zu erreichen.


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kombo(p) - 10.02.2002