kassiber 47 - Dezember 2001

Interview mit Christoph Finger zu "Die Gerechten"

"Wenn wir über Gewalt sprechen ist das immer Theorie"


Derzeit wird im Bremer Schauspielhaus das Stück "Die Gerechten" von Albert Camus aufgeführt (siehe Rezension in diesem Heft), in dem der Schauspieler Christoph Finger die Rolle des russischen Revolutionärs Stepan spielt. Christoph Finger ist seit sechs Spielzeiten am Schauspielhaus, nachdem er sich in Hamburg, Berlin, Wuppertal, Düsseldorf und Frankfurt bereits 14 Jahren dem Theater widmete. Sein Weg zum Theater verlief jedoch nicht gradlinig - so absolvierte er zunächst eine Ausbildung als Groß- und Außenhandelskaufmann und war danach bei der Bundeswehr. Obwohl er die '68er-Bewegung miterlebte, begann seine eigentliche politische Sozialisation erst in den siebziger Jahren, in denen er auch zur DKP stieß. Nach fünf Jahren Mitgliedschaft kehrte er dieser jedoch den Rücken. Der kassiber führte im Oktober aus aktuellem Anlaß das folgende Interview:


kassiber: Ursprünglich hattet Ihr eine andere Konzeption für "Die Gerechten": Es ging eher um die 68er-Kontroverse, Fischer und die RAF. Aber auch um Genua und die GlobalisierungsgegnerInnen...


Christoph Finger: Der Regisseur ist sehr jung, 1970 geboren, kommt sozusagen aus der Kohl-Ära. Ihn haben die 68er sehr interessiert. Er hat sehr viel Dokumentationsmaterial angeschleppt, viele Filme, die wir uns angesehen haben. Er wollte die aktuellen Brennpunkte, zumindest bei uns SchauspielerInnen, ins Bewußtsein rufen: Was ist los, was geht ab? Genua ist so ein Beispiel: Wenn du einen Polizisten, einen Militär aus den 68ern und dann heute in Montur siehst, hast du das Gefühl, das ist Science Fiction.

Es sollte zu dem eigentlichen Text von Camus Fremdtexte und Filmmaterial geben, in ganz unterschiedlicher Art und Weise und auch ganz unterschiedlich für die Figuren. Das waren zunächst noch assoziative Gedanken. Wir haben versucht, über die Figuren einzusteigen, nach vorne zu gehen und ein Gedicht von Erich Fried vorzulesen, eine Zeitung aufschlagen und etwas über Genua zu zitieren. So haben wir rumprobiert...


kassiber: Wäre das deiner Meinung nach eher ein Potpourri aus Versatzstücken der BRD-Geschichte der letzten 30 Jahre geworden? Oder hätte es einen agitatorischen Charakter gehabt?


Christoph: Nein, agitatorisch glaube ich nicht. Es hätte sicherlich mehr spielerische Elemente gegeben: In der Form - wenn man Realismus hereinbringen will - , daß man sich es eher hätte so vorstellen können, wie sich die RAF bewegt hat, wie sie sich zu Hause verhalten, wie sie Diskussionen geführt haben...

Es wäre eher in die Richtung gegangen, daß man weitaus mehr gewagt hätte zu sagen: unsere Sympathie liegt bei den Menschen, die nicht einverstanden sind mit dem Glücksbringer Staat, so wie er sich gibt.


kassiber: Gab es reale Personen, die den Figuren zugeordnet worden wären?


Christoph: Baader und Ensslin wären eher Janek und Dora gewesen. Das ist aber eine Vermutung, wir waren ja nicht am Ende, wir hatten Material, jeder hatte sich jemanden rausgesucht, aber es gab nichts Fertiges. Baader und Ensslin würde ich da zuordnen.


kassiber: Ich hatte bei der heutigen Inszenierung eher das Gefühl, daß es auch darum ging, Fischers Vergangenheit zu retten und daß die SchauspielerInnen, mit Deiner Ausnahme, die Spontis, die Militanten der 70er Jahre sind, während du da den RAFler verkörperst und die anderen so gar nicht RAF sind...


Christoph: Ich finde das schwierig, so ein Stück auf die 68er zu übertragen. Die Frage war eher: Wo stehen wir als Ensemble? Natürlich wäre meine Figur, weil sie vom Stück her so angelegt war, eher der Konsequente gewesen, in dem was er sagt. Wobei auf der anderen Seite die anderen Figuren in ihrer Haltung und ihren Gedanken auch konsequent sind. Das ist ein schwieriges Thema. Die Gewaltdiskussion hat es in den 70ern auch gegeben, permanent.


kassiber: Dora und Janek hätte ich jetzt nicht in der RAF gesehen, aufgrund der Diskussionen, die auf der Bühne geführt worden sind. Ich hatte eher das Gefühl, daß es um Auseinandersetzungen im "Deutschen Herbst" 1977 gegangen ist. Um eine RAF-Politik, die nicht nur Tyrannen oder Stellvertreter der Herrschaft erschießt oder wegbombt, sondern eben auch Fahrer oder andere Unbeteiligte, die in "Die Gerechten" die Kinder sind. Während die anderen vielleicht eher Spontis, RZler verkörpern. Deshalb hätte es mich gewundert, wenn Baader und Ensslin da auftauchen würden.


Christoph: Das ist entstanden aufgrund der Frage, wen man sich als Vorbild nimmt. Du siehst ein Video und denkst, wie Gudrun Ensslin den (Baader) unterstützt hat, wie sie für ihn Wortführerin war oder er über sie was hat sagen lassen. Klar ist der Konsequente im Stück uns am liebsten, das ist der Stepan. Wobei, wenn man das Stück liest, er am Ende, im fünften Akt, nochmal eine Wende macht: Die beiden Figuren nähern sich aneinander an. Janek sich an Stepan und umgekehrt.


kassiber: Ist das eine politische Annäherung bei Camus?


Christoph: Wenn man so einen konsequenten Weg geht, wie die RAF den teilweise gegangen ist, dann befindest du dich in einer Isolation. Du gehst in die Illegalität und du hast den Kontakt nach außen nicht mehr. All die Dinge, die das Leben ausmachen, wie Liebe, in den Urlaub fahren, daß was zum Leben dazugehört, das wünscht man sich, auch wenn man "Terrorist" ist.


kassiber: Das eine ist die Intention, die ihr mit diesem Stück hattet. Das andere ist die Rezeption durch das Publikum, mein Eindruck bei der Diskussion im Anschluß an die Aufführung war der, daß diese Differenzierung die ihr vornehmt, bei den Oberstudienräten und dem Bildungsbürgertum den Eindruck hinterläßt, daß sie raus gehen und sagen, das war ja menschlich ganz interessant, aber wir haben gelernt: Terror ist Mord und Mord ist Terror, und die Leute, die da hinter stehen, sind alles verblendete Spinner. Wie ist deine Einschätzung der Rezeption, kommt ihr mit eurer Intention durch? Oder lesen die Leute aus dem Stück das, was sie lesen wollen.


Christoph: Das tun sie immer, das kannst du nicht verhindern. Es gibt bei den ZuschauerInnen schon Differenzierungen. In ganz vielen Diskussionen war es so, daß Leute sagten, jetzt weiß ich gar nichts mehr: Ich bin da reingegangen und hatte eine klare Haltung und jetzt bin ich verwirrt, weil es doch nicht so einfach ist, zu sagen, der hat Recht und der hat Unrecht. Die Leute kommen da schon ins Schwimmen. Ich weiß gar nicht so genau, ob das etwas mit dem Stück zu tun hat. Man hat so gerne eine feste Meinung, dann geht es einem gut und man ist ganz warm eingepackt. Aber das Leben besteht nun einmal aus Widersprüchen und das ist auch gut so. Du hast auch das Umgekehrte, du hast auch Leute, da kannst du noch fünf Stücke machen und die sagen immer noch: "Weg damit - das geht nicht".


kassiber: Habt ihr Lust, in absehbarer Zeit das Stück in der ursprünglichen Fassung weiterzuverfolgen und zu spielen? Wenn das möglich wäre?


Christoph: Das weiß ich nicht. Wir leben ja nun auch in einer anderen Zeit. Ich finde manchmal die Sprache von Camus für die Bühne sehr hölzern. Wie ein theoretischer Stoff. Er ist Philosoph und das merkt man. Für einen selbst ist es sehr viel angenehmer, einen Shakespeare-Text zu sprechen als den philosophischen Text von Camus. Wir kommen auch aus einer anderen Zeit, wir gehen damit anders um. Insofern wäre es möglich, sich durchaus noch mal mit einem politischen Thema zu beschäftigen, sehr gerne sogar, aber auf welche Art und Weise und wie und mit welchem Stück wüßte ich so nicht. Wir haben eine Lesung gemacht, von Peter Weiss, "Die Ermittlung", was etwas ganz anderes ist. So etwas überhaupt zu machen, auch mit neueren Sachen, dafür fehlt es manchmal an AutorInnen und am Rahmen.


kassiber: Würdest du gern mal ein Stück spielen, das gar keine anderen Interpretationen übrig läßt? Daß sich da nicht alle Leute gebauchpinselt und abgeholt fühlen, sondern daß man es entweder total ablehnen oder ihm zustimmen muß?


Christoph: Es gibt ja viele Leute, die das so machen, Schlingensief und so. Ich weiß nicht, ob ihr das gesehen habt, die "Mission" in Hamburg, die war ganz toll. Er hat auch Dinge ins Leben gerufen, die dann tatsächlich etwas von Wirklichkeit hatten. Um auf die Frage zurückzukommen, mir geht das eher so, daß ich generell glaube, daß sich das Schauspiel verändern wird oder sich schon am Verändern ist. Schlingensief und solche Leute haben daran ihren Beitrag. Ich glaube, daß wir immer mehr dazu kommen müssen, keine Theaterfiguren im klassischen Sinne, sondern sehr dicht bei einem selbst zu sein. Daß man überhaupt, wenn man im Theater ist, keine Distanz aufbauen kann, in dem Sinne, daß man sagt, dies sind Theaterfiguren und damit habe ich nichts zu tun. Sondern daß man Leute auf der Bühne sieht, die die Sprache der ZuschauerInnen sprechen. Damit man nicht so leicht ausweichen kann. Eher hin zum realistischen Dialog.


kassiber: Würdest Du den Anschlag auf den Großfürsten, um den es in "Die Gerechten" geht, historisch belassen und sagen, die Tat war zu der Zeit gerechtfertigt. Oder ist Widerstand heute auch noch genauso notwendig?


Christoph: Ich glaube das, ja. Ich bin davon überzeugt. Man müßte sich natürlich über die Wahl der Mittel unterhalten, das ist für jeden unterschiedlich, glaube ich. Aber das ist noch nicht zu Ende: Die ganze Atomdebatte, das sind Sachen, wo man sich unbedingt Gedanken machen muß und man muß sich wehren. An ganz unterschiedlichen Punkten, aber unbedingt. Eine Gesellschaft sollte eine klare Vorstellung davon haben, wohin sie will und es nicht Menschen aus der Industrie, Wirtschaft und der Politik überlassen, zu bestimmen, wohin es geht und sich dem dann unterzuordnen. Das finde ich falsch. Insofern finde ich Menschen, die sich wehren oder die Dinge ansprechen und die ihre eigene Meinung gegen die herrschende Meinung kundtun immer richtig. Man kann sie diskutieren und darüber reden, sie zu verschweigen, das bringt gar nichts. Es gibt da ein wunderbares Stück von Brecht, ich komme nicht auf den Titel, aber dort gibt es eine Figur, die das ganze Stück über nichts sagt, während sich die restliche Mannschaft den Schädel einhaut, aber am Ende bemerkt: "Ich dachte immer, wenn man nichts sagt, wird alles besser..."


kassiber: Wurde die Meinung geteilt von den Ensemblemitgliedern?


Christoph: Ja, aber da gibt es Differenzen. Wenn wir über Gewalt sprechen, dann ist das immer Theorie. Wo wir vor dem Interview über die Zeit gesprochen haben, in der ich noch nicht so politisiert war: Da gab es einen Vorgang, daß ich, weil ich mitten in einer Menge war, durch einen Wasserwerfer mal eben so fünf Meter durch die Luft flog. Dann hast du plötzlich eine ganz andere Haltung zur Gewalt. Plötzlich denkst du, ich haue jetzt zurück. Ich möchte nicht, daß man so mit mir umgeht. Schlicht und ergreifend. Es gibt so viele Brennpunkte auf der Welt, wo Gewalt, Hunger stattfindet und wir leben in unserer Welt und konsumieren, wir kommen damit gar nicht in Berührung, für uns ist alles nur Theorie. Für uns ist das leicht zu sagen, wir müssen uns wehren, aber das ist ein einfacher Gedanke...


kassiber: Aber in Genua oder beim Castor war es für einige Leute nicht mehr nur ein Gedanke, das sind Punkte, wo wir mit so etwas in Berührung kommen.


Christoph: Das meine ich damit. Ich glaube, wenn man vom Wasserwerfer getroffen wird oder an so einem Brennpunkt ist, dann ist das etwas anderes. Dann muß man sich nachher darüber unterhalten, ob etwas richtig oder falsch war, oder welche Strategie man gehen muß. Was ich meine ist - ich schließe mich da voll mit ein - daß wir Vieles nur aus unserem Selbstverständnis heraus diskutieren.


kassiber: Kann Theaterarbeit denn auch politische Arbeit sein? Oder sind die Zeiten vorbei?


Christoph: Das kann sie nur sein, wenn es einen Nährboden gibt. Man muß an einem gesellschaftlichen Prozeß dran sein. Aber wir kommen aus dieser Gesellschaft, warum sollten wir andere Menschen sein als andere. Wir sind subventioniert, das heißt auch in einem angstfreien Rahmen probieren zu können, angstfrei Gedanken äußern zu können, ohne dafür mit Repression belegt zu werden. Das ist unter anderem der Grundgedanke gewesen von Subvention. Je mehr Theater in einen wirtschaftlichen Rahmen eingebunden wird, der da heißt: Wie machen wir aus einer Mark zwei und was ist rentabel und was ist unrentabel, desto mehr kommt man, auch persönlich, in eine existentielle Angst. Ich weiß nicht, in wie weit Theater noch politisch oder kritisch sein kann. Das ist von vielen Faktoren abhängig und nicht nur von den Leuten, die es machen.


kassiber: Bei Camus ist die einzige Lösung für Rebellion, daß man sein Leben dafür hingibt, das ist das einzig Gerechte. Ich kann nur dann ein Leben nehmen, wenn ich ein anderes dafür hingebe. Das ist etwas alttestamentarisch.


Christoph: Naja, das ist doch das grundsätzliche Problem. Daß man als ein Mensch, der das Leben bejaht... zur Bejahung des Lebens gehört eben auch, Gedanken äußern zu können. Wenn man in die Situation kommt zu töten, dann kommt man einfach schlicht und ergreifend in einen Widerspruch. Das Leben bejahen und töten müssen, damit man irgendwann das Leben bejahen kann, das ist schlicht und ergreifend ein Widerspruch. Da kommt man nicht raus. Camus gibt die Lösung, daß der einzige Ausweg da liegt, daß man sagt, ich kann dafür nur mein eigenes Leben geben.


kassiber: Die Organisation sagt in "Die Gerechten", daß die Leute weiterleben müssen, um weiter kämpfen zu können. Camus hat schon beide Aussagen drin.


Christoph: Unbedingt. Das ist immer das Problem. Du unterhältst dich im Publikumsgespräch nach der Aufführung mit den Leuten über ein Attentat auf Hitler. Da heben alle die Hände und sagen: Na klar, muß man machen. In anderen Punkten würden sie es sofort verneinen. Das ist immer so eine Sichtweise der Einzelnen, wo darf man es und wo nicht.


kassiber: Das Ende von "Die Gerechten" hat etwas von einem Opfertod. Daß die Liebenden sich im Tode vereinen ...


Christoph: Ich glaube, daß es für die beiden in ihrem Rahmen die Möglichkeit der Liebe nicht gibt. Das ist ja nicht nur ein Problem, das Camus anschneidet. Wenn du Menschen liebst, dann kommst du in ein ganz großes Problem, daß du ganz große Schwierigkeiten hast zu töten. Das ist schwierig glaube ich, zu lieben und rauszugehen und jemandem eine Kugel in den Kopf zu schießen. In einem Video, den wir zur Vorbereitung auf die ursprüngliche Inszenierung geguckt haben, war es die Resistance, die alten Kämpfer, die interviewt wurden. Die ja nun permanent unterwegs waren, noch unter ganz anderen Bedingungen, und Bomben gelegt haben. Es war sehr interessant zu sehen, wie die heute am sozialen Rand leben, weil man danach auch keine Kommunisten mehr haben wollte. Da trat dieses Problem auch auf. Eigentlich das Leben zu bejahen und sich dann an einem Punkt wiederzufinden, wo man Menschen tötet und etwas in einem selber kaputt geht. Etwas in einem selber zerstört wird, für das man eigentlich kämpft. Diesen Widerspruch kann man nicht klären. Du kämpfst für das Leben und bejahst es und tötest und - es schlägt auf dich selber zurück. Oder es ist vorher schon zerbrochen, damit du töten kannst. Das ist ein Dilemma in dem man steckt.


kassiber: Nochmal zur Rezeption des Stückes. Ich glaube, bei explizit politisch inszenierten Stücken im Theater, "Fidelio" oder "Die letzten Tage der Menschheit", wo konkrete Ereignisse, (AG-Weser-Schließung bzw. 1999 der NATO-Krieg gegen Jugoslawien) "eingebaut" wurden, setzt sich ein Publikum nach der Aufführung, im Publikumsgespräch, in der Kneipe oder wie auch immer, mit dem Stück auseinander. Bei "Die Gerechten" hatte ich das Gefühl, daß diese pure Textinszenierung viele Leute in einer Leere zurückläßt. Daß sich manche zwar um die Auseinandersetzung mit der Inszenierung bemühen, aber ihre Gedanken doch von einem Moralismus, der Medienberichterstattung nach dem 11. September etc. bestimmt sind. Ist das nicht ein grundsätzliches Problem dieser Inszenierung?


Christoph: Meinst Du, wir hätten uns auf eine eindeutigere Aussage einlassen müssen? Oder sollen? Aber die Moral der Leute ist ihre Moral, da kann man nur versuchen, daran zu rütteln, indem man zeigt, daß das nicht so einfach ist, daß viele Dinge nicht mit unserem moralischen Kodex zu lösen sind. Das muß jedem klar sein, daß das nicht mehr geht. Das ist Schwachsinn. Selbst wenn du ganz eindeutig gesagt hättest, der Stepan hat recht - was den Sinn des Stückes beschneiden würde, auf eine andere Art, hättest du den Moralkodex der Leute nur offener zutage gelegt, weil sie noch offener sagen würden, daß das nicht geht.


kassiber: Aber das wäre doch etwas gewesen.


Christoph: Aber warum? Ich will niemanden mehr überzeugen. Ich bin kein Überzeugungstäter.


kassiber: Ich glaube auch nicht, daß mit Theater - auf jeden Fall damit, was ich in diesem Theater in den letzten Jahren gesehen habe - Leute überzeugt werden können. Aber ich glaube, die Rezeption des Stückes, im Bürgertum und auch bei jungen Leuten, ist eher so eine Gleichgültigkeit oder Hilflosigkeit, während zum Beispiel "Fidelio", ob das an den Aldi-Plastiktüten auf der Bühne lag oder nicht, schon mehr Protest bei den Leuten herausforderte.


Christoph: Ich muß dir ehrlich gestehen, daß es so einfach ist, Protest hervorzurufen. Eine Aldi-Tüte und schon hast du Protest, aber das ist noch gar nichts. Es ist sehr leicht, Protest hervorzurufen. Aber man muß sehr genau sein in dem, was man erzählt. Inhaltlich sich genau mit einer Sache auseinandersetzen, das zeigen, was man denkt, über die Figuren, über die Menschen. Dann kann man sich darüber unterhalten, dann kann man sagen: das denke ich nicht, das denke ich wohl. Aber nur deshalb, weil man es nicht so eindeutig und klar darstellt, daß man nicht die Lösung vorgibt.

Die Provokation liegt letztendlich beim 11. September und nicht bei uns. Vor dem Background machen wir das Teil. Das muß man sich vorstellen, man ist in einer Arbeit und dann passiert so etwas. Jetzt läßt sich das alles gut diskutieren, gut sagen. Aber wir hatten noch eineinhalb Wochen - und plötzlich mußt du neu denken, neu verarbeiten. Auch für dich selber, was bedeutet das für dich, was ist denn passiert, was ist denn los. Das dauert und trotzdem mußt du Entscheidungen treffen. Vielleicht würde man das jetzt anders machen. Es kann sein. Die Inszenierung ist das, was möglich war.


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kombo(p) - 10.02.2002