kassiber 47 - Dezember 2001

Albert Camus' "Die Gerechten" im Bremer Schauspielhaus

Welche Tat, zu welchem Zweck, mit welchen Mitteln


Im Februar 1905 kommt der russische Großfürst Sergej bei einem Bombenanschlag ums Leben. Hinter dem Angriff auf einen führenden Repräsentanten des zaristischen russischen Reiches steht eine Zelle russischer Sozialrevolutionäre. Wenige Monate später werden - ausgelöst durch das Massaker an einer an den Zaren gerichteten Bittprozession ("Petersburger Blutsonntag") - revolutionäre Verhältnisse in Rußland ausbrechen: Die ArbeiterInnen organisieren Massenstreiks und Demonstrationen, bilden Räte, fordern den "8 Stunden-Tag und Waffen". Unter dem massiven Druck der Bevölkerung muß der Zar schließlich einlenken und bewilligt eine Volksvertretung, die Duma, die allerdings schon bald wieder abgesetzt wird, als es gelingt, die Aufstände blutig niederzuschlagen und das Land wieder unter Kontrolle zu bringen.

Die revolutionären Ereignisse hatten sich bereits im Vorfeld angekündigt. Die gesellschaftlichen Spannungen traten immer deutlicher hervor. Nach der Niederlage Rußlands im Krieg gegen Japan Anfang 1905 brachen sie endgültig aus. Selbst aus dem liberalen Bürgertum kam nun Kritik am zaristischen Regime.

Das Attentat an Großfürst Sergej fällt genau in diese Zeit. Es stand dabei in einer langen Tradition von Anschlägen, mit denen versucht wurde, das System in seinen wichtigsten Vertretern zu treffen; prominentestes Attentat war das 1881 auf Zar Alexander II.

40 Jahre später befaßt sich Albert Camus, gerade zurückgekehrt aus dem französischen Untergrund, mit den vorrevolutionären Ereignissen in Rußland. Es liegt ihm nichts daran, die Kämpfe, die letztlich auch die Oktoberrevolution vorbereiten halfen, in seinem Stück "Die Gerechten" zu historisieren, auch wenn er sich auf die realen Tatumstände bezieht und dem Attentäter Iwan Kaljajew seinen realen Namen läßt. Hier planen fünf SozialrevolutionärInnen den Anschlag gegen den Großfürsten. Bei der Frage nach der Inkaufnahme auch unschuldiger Opfer entbrennt eine Grundsatzdiskussion, welche die Gruppe fast sprengt. Beim zweiten Versuch findet der Anschlag statt - der Großfürst stirbt. Iwan Kaljajew kommt ins Gefängnis. Dennoch kämpft die Gruppe weiter.

Camus selbst wuchs unter ärmlichen Verhältnissen im kolonialen Algerien auf und unterstützte immer den Anspruch der Menschen auf die kleinen und großen Revolten. Auch für das Jahr 1949 ist für Camus die Sache für die "die Gerechten" militant eintraten noch legitim, wenngleich ihr auch andere gesellschaftliche Verhältnisse zugrunde liegen. Er schreibt: "Seitdem hat man Fortschritte gemacht, gewiß, und der Haß, der wie ein unerträgliches Leid auf diesen Seelen lastete, ist zu einem bequemen System geworden. Ein Grund mehr, diesen großen Schatten heraufzubeschwören, ihre berechtigte Revolte, ihre komplizierte Brüderlichkeit, die maßlosen Anstrengungen , die sie unternahmen, um sich mit dem Mord zu versöhnen - ein Grund mehr auszudrücken, wie unsere Treue ihnen gegenüber beschaffen ist."

Camus reflektiert in seinem Stück die militante Aktion, den bewaffneten Kampf, das was von bürgerlicher Seite als "Terror" diffamiert wird. Er läßt seine Figuren reflektieren: Welche Tat, zu welchem Zweck, mit welchen Mitteln? Und nicht zuletzt die zugespitzte Frage: Über welche Leichen dürfen-müssen-können wir gehen?

Camus' Revolutionären ist mit Camus gemein, daß die Frage nach revolutionärer Gewalt sich schon längst beantwortet hat. Auf der Bühne versucht niemand, eine Spaltung zwischen gewaltlosem und militanten Widerstand herbeizudiskutieren. Das einzige Mitglied der Gruppe, das die Gruppe verlassen will, um journalistisch der Sache zu dienen, tut dieses nicht aus Kritik an der Aktion, sondern weil ihm schlicht die Nerven für ein Leben im militanten Untergrund fehlen. Ein solcher Konsens muß für das bildungsbürgerliche Publikum eine Provokation ersten Ranges sein - nur merkt es dies selbst kaum.

Die Diskussion im Stück entbrennt um die Frage, inwieweit der Anschlag stattfinden kann, wenn auch die Kinder des Großfürsten getroffen werden. Hardliner Stepan Fjodorow verkündet als Vorwegnahme der Bolschewiki die Vorgaben für die Aktion als rein militärische: "Wenn wir keine Kinder töten wollen, können wir auch keine Revolution machen". Demgegenüber steht die Personifizierung von Camus selbst in Person des Dichter-Revolutionärs Iwan Kaliajew. In seinem Versuch, die revolutionäre Ethik der Gruppe zu bestimmen, bleibt ihm nur etwas hilflos zu konstatieren: "Ich bin zur Revolution gekommen, weil ich das Leben liebe." Daß er nun Leben auslöschen muß, bringt ihn in ein moralisches Dilemma, für das er die Antwort nicht so recht finden mag.

In der weiteren Diskussion innerhalb der Gruppe und vor allem nach seiner Festnahme im Gefängnis kommt dann Iwan Kaliajew auf die revolutionäre Moral zu sprechen, die ihm Camus verpaßt hat. Nur, indem er sich selbst opfert, sein Leben gegen das des Großfürsten setzt, scheint der politische Anschlag legitimiert. Brechen hier quasireligiöse Motive des christlichen Opfertauschs hervor? Und liegen diese nicht in der Auffassung revolutionärer Moral bei Camus selbst? Er schreibt selbst zu seinem Stück: "Der Revoltierende kann sich nur auf eine Weise mit der mörderischen Tat versöhnen, wenn er sich zu ihr hinreißen ließ: durch die Hinnahme seines Tods. Er tötet und stirbt, damit ersichtlich werde, daß der Mord unmöglich ist."

Welche revolutionäre Bewegung, welche Guerrillakriegführung könnte solche Revolutionäre gebrauchen, die mitkämpfen, um sich letztlich doch nur zu opfern? Nun trifft der Opfertausch Camus' eben nicht zu auf die revolutionären Bewegungen dieser Welt, für die jede Genossin und jeder Genosse unersetzbar ist, sondern auf die Selbstmordattentäter, die Flugzeuge in Gebäude lenken...

Mit seinem moralischen Standpunkt war Camus schon in den 40er Jahren erstaunlich nah dran an den politischen Positionen heutiger Bewegungs-Autonomer. Er selbst war 1937 aus der Kommunistischen Partei ausgetreten und war mit seinem Konzept der Revolte für seine Zeit der "Sponti" der französischen Intelligenz. Kein Wunder, daß sich in den 1950ern zwischen ihm und Sartre ein Bruch auftat. Die Berufung auf die wenig gesteuerte Revolte gegenüber dem leninistischen Revolutionsmodell war für Camus das Resultat seiner Loslösung von der KPF im Zuge der Moskauer Schauprozesse von 1937 - insofern beinhaltet seine literarische Arbeit seit den 40er Jahren oftmals eine Abrechnung mit dem Stalinismus.

Die Militanzdebatte auf der Bühne, die im Jahre 1905 spielt und 1949 geschrieben wurde, kommt uns bekannt vor. Auch die wechselseitige Anrufung moralischer Imperative ist vielen aus den Plenen und Bündnistreffen der vergangenen drei Jahrzehnte bekannt und fand ihren letzten Höhepunkt in der Debatte um die Auflösung von RZ und RAF zu Beginn der 90er Jahre. Und so kann es nicht schaden, auch von den Theaterbrettern herab die Grundkoordinaten all dieser Debatten noch einmal nachzuverfolgen.

Die Bremer Inszenierung von Marlon Metzen wollte ursprünglich klar Stellung beziehen zur Debatte um die Biografien der arrivierten 68'er-Generation (siehe hierzu auch nebenstehendes Interview). Damit war es nach den Anschlägen vom 11. September vorbei. Nun entschied man sich für eine "puristische" Fassung des Stücks. Der Anspruch der Inszenierung war nun der Versuch zu differenzieren. Es ist ersichtlich, daß die Sympathien auf Seiten der russischen Revolutionäre liegen - immerhin hatte ihre Tat ja letztlich Erfolg und wurde somit "geadelt". Was aber ist mit allen militanten Aktionen, wie verzweifelt auch immer, die leider nun mal nicht gleich in der Revolution aufgegangen sind? Ist es nicht etwas einfach, sich mit gönnerhaftem Blick zurück auf der richtigen Seite zu wähnen? Ähnlich selbstgerecht argumentieren gerne auch die Revoltierenden der 60er Jahre, die sich darauf berufen, immerhin eine sozialdemokratische Regierung "erkämpft" zu haben ...

Auch führt der Wille zur Differenzierung auf der Bühne zu einer etwas schemenhaften Dichotomie zwischen den beiden Gegenpolen Stepan Fjodorow (Christoph Finger) und Iwan Kaliajew (Fritz Fenne): Bleibt der eine ein recht pol-potistischer Politroboter, so darf der menschelnde Literat sich später sogar zu seiner Liebe zu Dora Duljebow (Katja Zinsmeister) bekennen. Ganz weggefallen bei Metzen ist der 5. Akt von "Die Gerechten": Hier nämlich nähern sich Stepan Fjodorow und Iwan Kaliajew in ihren Positionen einander an. Die saubere Trennlinie - der eine geht über Kinderleichen, der andere nicht - hätte sich so nämlich kaum aufrechterhalten lassen.

Für die ZuschauerInnen wird am Ende nicht nur der Eindruck des "fanatischen" vs. "moralischen" Revolutionärs bleiben. Auch die politische Debatte an sich - wie sie simpel, aber passend inszeniert wurde - ist ein recht parolenschwangerer Meinungsaustausch, der in wenigen Minuten über die Bühne gebracht ist. So einfach ist die revolutionäre Meinungsfindung dann aber doch nicht - nicht mal in der heutigen Zeit.

Immerhin: Es ist für die momentanen politischen Verhältnisse ein verdienstvolles Anliegen, ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen, das zumindest Militanz als politische Kampfform für legitim erklärt. Wie es mit dem richtigen Anliegen nach Differenzierung steht, muß jedoch fraglich bleiben. Denn Inhalt und Rezeption sind zunächst zwei Seiten der Medaille. "Die Gerechten" ist immer noch gut als Projektionsfläche all der (bildungs-)bürgerlichen TheatergängerInnen für ihre Betroffenheitsohnmacht. So blieb es in der Publikumsdiskussion einem Oberstudienrat überlassen, seine Lehre aus dem Stück zu ziehen: "Nachdem ich aus dem Theater kam, hat sich ja doch bestätigt: Mord ist Terror und Terror ist Mord.". Ist das Anliegen der Inszenierung, sich mit der gerechten Sache "Der Gerechten" zu identifizieren, so fühlen sich doch viele im Publikum eher dazu hingezogen, mal einen interessierten Blick hinter die Kulissen all des schrecklichen Terrors auf der Welt zu werfen, ohne jedoch ihre eigene Position hierzu zu hinterfragen. Sie bleiben hierbei schließlich nur, was sie immer waren: "Die Selbstgerechten".


Günther Feind


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