kassiber 47 - Dezember 2001

Interview mit einer der ehemaligen politischen Gefangenen von Genua

"...wenn andere aus unseren Schwierigkeiten lernen"


Anfang November führte die Redaktion folgendes Interview mit einer Frau, die nach den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Genua verhaftet wurde und sechs Wochen im Knast saß. Wie fast immer heißen die tatsächlich am Interview Beteiligten ganz anders.


kassiber: Was waren die Gründe für dich, nach Genua zu fahren?


Sonja: Ich denke, es ist wichtig, sich nicht nur an den lokalpolitischen Ereignissen zu beteiligen, sondern eben auch an europaweiten beziehungsweise globalen Demonstrationen. Das einerseits, um Bewegungen mehr Gewicht zu geben und sich mit deren Forderungen zu solidarisieren, zum Beispiel einer solchen MigrantInnendemonstration wie am Donnerstag, den 19. Juni, in Genua. Solche Gipfel stehen als Symbol für die Ausbeutungsmechanismen der ersten Welt gegenüber dem Trikont. Es ist wichtig zu zeigen: Das wollen wir angreifen, wir wollen über den eigenen Tellerrand hinaus schauen; es ist uns nicht egal, was europäische Regierungen im Trikont anrichten beziehungsweise Institutionen wie IWF und Weltbank.

Auf der anderen Seite ist die Teilnahme an solchen Demonstrationen eine Bereicherung: Die Auseinandersetzung mit Konzepten, die in anderen Ländern angewandt werden, erweitert die Vorstellungen davon, wie man im eigenen Land agieren möchte. Nicht zuletzt verleiht eine Teilnahme an einer 300.000-Personen-Demonstration das Gefühl, Teil einer großen Bewegung zu sein. So ein Erlebnis gibt Kraft!


kassiber: Du nennst Proteste wie die in Genua gegen den G8-Gipfel "global". Gibt es aber wirklich eine weltumspannende Zusammenarbeit, ein gemeinsames Agieren? Oder kommen einfach vorwiegend aus den reicheren Ländern Menschen für eine kurze Zeit zusammen, um nebeneinander zu demonstrieren?


Sonja: Vielleicht könnte aber genau das ein Ansatzpunkt für zukünftiges gemeinsames Handeln sein: Bündnisse zu schaffen, Kontakte zu knüpfen, neue Aktionsformen zu entwickeln, bestimmte Bewegungen zu unterstützen. Obwohl aus bestimmten Ländern nur Delegationen da waren, sehe ich das trotzdem auch als ein internationales - und damit mehr als europäisches - Zusammentreffen. Natürlich waren die meisten TeilnehmerInnen aus europäischen Ländern. Eine breitere Protestbewegung könnte allerdings zustande kommen, indem man die Teilnahme weiterer Delegationen ermöglicht. In Genua gab es zum Beispiel Aktionen, um MigrantInnen die Grenzüberquerung zu erleichtern, damit diese sich an den Protesten beteiligen konnten. Es gibt sehr viele Aktionsformen, mit denen man unterstützen kann, daß dieser Protest weltweit wird. Und genau das finde ich sehr interessant und eben auch sehr wichtig.


kassiber: Das heißt, auch zwischen den Gipfeln sollte es eigentlich eine weltweite Zusammenarbeit geben?


Sonja: Auf jeden Fall. Um gemeinsame Forderungen stellen oder sich effektiv solidarisch verhalten zu können, muß es einen Kommunikationsprozeß gegeben haben.


kassiber: Aber ist es nicht so, daß eine deutsche Bewegung zu Events wie Nizza, Göteborg, Genua mobilisiert, aber eigentlich vor Ort zwischen diesen Gipfeln sehr wenig läuft? Außer daß geguckt wird, wo wieder der nächste Gipfel ist?


Sonja: Das kann man so nicht verallgemeinern. Zum Beispiel wurde ja die Unterstützung des MigrantInnenbusses aus Berlin von Deutschland aus organisiert. Damit werden vielleicht noch keine konkreten eigenen Inhalte vermittelt, aber es werden Menschen, die hier kein Sprachrohr finden, dabei unterstützt, ihre Inhalte zu vermitteln.

Ansonsten ist es natürlich schwierig, sich in die Vorbereitung eines solchen Gipfels zu involvieren, wenn man mit der Situation vor Ort nicht vertraut ist und sich nicht im Diskussionsprozeß mit anderen Gruppen des Bündnisses befindet. Nach der Ankunft bleibt meist nicht viel Zeit, um ein eigenes Konzept zu entwickeln, das auch auf die vorgefundenen Gegebenheiten ausgerichtet ist. In Genua gab es aber eine große Vielfalt von Aktionsformen und von Inhalten, denen man sich unterstützend anschließen konnte.

Schwierig wird es immer dann, wenn es um die Vermittlung von konkreten Inhalten geht. Da die Medien sich in ihrer Berichterstattung von Gegengipfeln meist auf die Aktionsformen stürzen, ohne von den Inhalten zu berichten, halte ich es für wichtig, daß die Aktionsformen symbolisieren, wo der Widerstand sich inhaltlich verortet. Das finde ich zum Beispiel am Ansatz der Tute Bianche toll. Sie wollten den Ausschluß der Mehrheit der Menschen vom Gipfel, der durch die Schaffung einer "roten Zone" erwirkt wurde, nicht tolerieren, und wollten genau dort eindringen. Es wird immer schwierig sein, politische Inhalte direkt durch die Aktionsform zu vermitteln, solange die Medien ihre derzeitige Berichterstattung beibehalten, aber es ist möglich.


kassiber: Ich hatte den Eindruck, daß das Berichten über Aktionsformen statt über Inhalte nicht allein ein Problem der Medienberichterstattung ist, sondern auch ein Problem der Bewegung, die sich eben hauptsächlich über Aktionsformen darstellt. Vor Jahren war es zum Beispiel noch sehr wichtig, zu entsprechenden Anlässen an Gegengipfeln oder parallel organisierten Kongressen teilzunehmen - wie zum Beispiel 1992 in München, wo es zumindest Ansätze für eine breitere Diskussion gegeben hat. Das scheint sich verändert zu haben.


Sonja: Ja, vielleicht hatte das Konzept da Mängel. Der Anspruch ist toll, allerdings ziemlich hoch: Zusätzlich große Kongresse zu organisieren und Produkte aus den Diskussionsprozessen zu ziehen. In Genua hat man sich ja zunächst darauf konzentriert, Bündnisse zu schließen und durch eine Personenstärke zu symbolisieren, daß es gegen die Politik der G8-Staaten Widerstand gibt. Vielleicht ist es jetzt - ausgehend von dem, was dadurch erreicht worden ist - auch möglich, sich nach weiteren Möglichkeiten eines Ausdrucks der Bewegung umzuschauen. Es sollte nicht vergessen werden, daß diese ganze "Anti-Globalisierungs-Bewegung" noch relativ neu ist.


kassiber: Inwieweit waren die Bedingungen, die ihr in Genua vorgefunden habt, spezifisch italienisch - einmal in Bezug auf die Gegenbewegung und ihre SympathisantInnen, andererseits bezüglich des Repressionsapparates?


Sonja: Da ist vor allem das Genova Social Forum als Bündnis der Protestbewegung zu erwähnen: 800 Gruppierungen - von katholischen PazifistInnengruppen und Gewerkschaften über Menschenrechtsgruppen und Flüchtlingsgruppen bis hin zu kommunistischen, syndikalistischen und anarchistischen Gruppen, den VertreterInnen der Centres Sociali - es war total breit gefächert. Die haben meines Erachtens ein gutes Bündnis auf die Beine gestellt - sowohl, was Pressearbeit und die Organisation vielfältiger Aktionen angeht, als auch in Bezug darauf, daß sie sich nicht spalten lassen haben zum Beispiel durch die Militanzdiskussion beziehungsweise durch die Frage, wem Solidarität gebührt. Sie haben bis heute eine gemeinsame Organisation beibehalten, und das finde ich gigantisch. Gerade an den Militanzdiskussionen sind Bewegungen ja bisher immer wieder gespalten worden. Daß das Forum geschafft hat, zusammenzuhalten, hat sicher auch ziemlich viel mit italienischer Geschichte zu tun.

Was die Repression betrifft, so waren meines Erachtens einige Sachen schon spezifisch italienisch, zum Beispiel der extrem hohe Anteil von militanten Faschisten an den Einsatzkräften. Das erklärt teilweise das Vorgehen der Carabinieris zur Zeit des G8-Gipfels, auch wenn nicht per se jeder einzelne Carabinieri/Polizist ein Nazi ist.

Natürlich hat die Regierung Berlusconi die Weichen für das Vorgehen im Vorfeld gestellt. Das zeigt auch der Überfall auf die Diaz-Schule: Da saß Fini, der Vizepremier, in der Einsatzzentrale. Das heißt, das brutale Vorgehen der Polizeikräfte kann nicht darauf zurückgeführt werden, daß einzelne kleine Polizisten durchgedreht sind, sondern es war von höchster Stelle so gewollt. Kommissionen, die die Polizeigewalt untersuchen, werden daher wohl kaum des Übels Wurzel entfernen. (...)

Die Stoßrichtung der Repression durch die italienische Regierung und ihre Exekutive war aber auf jeden Fall nicht nur die italienische Szene (obwohl das Hauptgewicht der Repression im Nachhinein die italienische Linke trifft), sondern ganz klar der internationale Widerstand, die "Anti-Globalisierungs-Bewegung". Diese Stoßrichtung können wir ganz klar auch bei der deutschen Regierung wiederfinden. Ich würde von einer Vereinheitlichung der Repression in den europäischen Staaten sprechen. Zwischen Göteborg und Genua gab es zum Beispiel eine StaatsanwältInnen- und eine Innenministerkonferenz, auf denen diskutiert wurde, wie man diese gesamte Bewegung unter Kontrolle bringen kann. Außerdem haben die entsprechenden Länder, deren Geheimdienste und Polizei eng zusammengearbeitet. Entsprechend gab es dann diese Ausreiseverbote und Meldeauflagen, den Austausch von Personendaten etc. Insofern war das, was in Genua passiert ist, nur zum Teil ein italienisches Phänomen, ansonsten aber Ausdruck der europaweiten Anstrengung, die "Anti-Globalisierungs-Bewegung" - und nicht nur diese - möglichst schnell in den Griff zu bekommen, sie zu kriminalisieren, sie zu ersticken, bevor sie noch weiter anwächst.


kassiber: Du bist nach dem G8-Gipfel zusammen mit neun weiteren Deutschen festgenommen worden und hast sechs Wochen im italienischen Knast verbracht. Kannst du erzählen, wie es zu der Verhaftung kam und was danach passierte?


Sonja: Der Gegengipfel war eigentlich am Samstag beendet, obwohl es am Sonntag noch ein Treffen der G8-PolitikerInnen gab. Wir hatten vor, nach dem Gegengipfel Urlaub zu machen. In dieser Zeit war - wie wir jetzt wissen - bereits ein Befehl an die Carabinieri gegangen, nach Leuten zu suchen, die in Campingmobilen unterwegs sind und sich womöglich abseits bekannter Touristenrouten aufhalten. Dabei ist es in Italien ganz normal, abseits touristischer Pfade zu campen. Wir sind nach Recco gefahren und haben dort auf einem Hügel gecampt, draußen standen die Campingmöbel rum, wie das eben so ist. Also keine Spur von "verstecken" oder so, was man uns später in die Schuhe schieben wollte, um uns aufgrund von "Fluchtgefahr" in Untersuchungshaft zu halten.

Die ersten beiden Carabinieri, die dann morgens um neun bei uns auftauchten, hatten schon Maschinenpistolen am Start und holten gleich Verstärkung. Sie wußten auch gleich, was sie bei uns finden wollten (das unterschied sich von den sonstigen Durchsuchungen, die wir vorher erlebt hatten): schwarze Klamotten und Werkzeug. Dementsprechend haben sie auch die beiden Busse durchsucht und holten die Werkzeugkisten aus den alten Bussen.

Wir wurden auf die Wache gebracht und sofort danach befragt, ob wir an dem Gegengipfel teilgenommen hätten. Wir haben dazu nichts gesagt und AnwältInnen gefordert. Das wurde ignoriert. Stattdessen wurden wir nach Recco in ein Krankenhaus gebracht, wo wir auf Hämatome untersucht wurden, die als Indizien dafür gewertet worden wären, daß wir an gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligt waren. Wir hatten keine. Daraufhin sind wir nach Sankt Margarita gebracht worden, wo eine ganz spezifische Form von Verhör stattgefunden hat: die Anwendung massiver phsychischer Gewalt gekoppelt mit tatsächlicher physischer Gewalt. Eine Person brüllte und drohte, die andere schlug. Zur psychischen Gewalt gehörte zum Beispiel das Entfernen von Brillen, der Entzug von Wasser und Nahrung, Gesten sexueller Gewalt oder das Schließen der Fenster mit der Ansage "Wenn ihr laut schreit, kriegt ihr noch mehr auf's Maul!". Wir wurden isoliert vom sonstigen Polizeibetrieb auf der Station (...) Die physische Gewalt kam zum Beispiel in Form von Schlägen mit dem Schlagstock auf Kopf, Brust und Beine, Tritte, Würgen - alles mit Handschellen auf dem Rücken. Wenn Leute am Boden lagen, wurde weitergetreten. Vor allem wurde darauf geachtet, daß sich mit anderen solidarisierende Personen doppelt so viel auf's Maul kriegten. Eine Person haben sie sich rausgepickt, um Druck bei uns zu erzeugen: Sie haben sie zum Beispiel rausgeholt und zu uns gesagt: "Wenn ihr euch jetzt nicht endlich dazu äußert, was ihr in Genua gemacht habt, dann ...", und es folgten Gesten des Halsabschneidens ... Das alles zog sich so etwa von 14 Uhr bis 22 Uhr hin.

Danach sind wir in die Knäste gebracht worden. Für die Frauen hörte ab da diese Form der Gewalt auf. Das war ein unglaublicher Unterschied für uns, in diesen Knast zu kommen. Zwar gab es auch hier unter den WächterInnen organisierte oder zumindest sympathisierende Nazis, wie wir später herausfanden. Es gab auch die übliche herabsetzende Behandlung, die Verweigerung von Informationen über unsere Rechte, keine Hilfe bei unseren Sprachschwierigkeiten usw., aber letztlich wurden wir behandelt wie die anderen Gefangenen auch.

Bei den Jungs war das ganz anders. Die ersten drei Tage über setzte sich bei ihnen genau dieselbe Struktur von Gewalt fort. Das Licht war permanent angeschaltet. Nachts kamen Wächter hereingestürmt und machten faschistische Gesten, riefen "Unter Mussolini wär so was nicht passiert!" Unter Drohung und Ausübung von Gewalt wurden die Männer zu Unterschriften gezwungen.

Im Männerknast von Marassi ging es viel darum, die Gefangenen zu erniedrigen: Die Leute mußten den Boden putzen, auf den zum Beispiel wieder geascht wurde. Nachts kamen Wachen hereingestürmt, setzten Leuten das Messer an die Kehle, drückten ihnen den Stiefel ins Gesicht mit der Aufforderung, ihn abzulecken. Es wurde nachgetreten, auch wenn Leute schon nackt auf dem Boden lagen ...

Diese Art von Gewalt hörte dort erst nach dem dritten Tag auf, als das erste Mal Leute vom deutschen Generalkonsulat und Abgeordnete des Bundestages zu Besuch kamen. Danach waren aber immer noch dieselben Schließer im Dienst! Die gefühlte Bedrohung hatte sich für die Gefangenen also nicht wirklich geändert: Sie konnten nicht einschätzen, ob sie jetzt sicher waren vor solchen Übergriffen oder nicht. Auch nicht, ob die Veröffentlichung dieser Erlebnisse ein Schutz für sie wäre oder eine zusätzliche Gefahr. Es gab keinerlei Erfahrungswerte, was italienische Gefängnisse angeht, welches Verhalten welche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Deswegen hatten die Männer zunächst beschlossen, nichts davon öffentlich zu machen, obwohl von außen der Wunsch danach an sie herangetragen wurde. Natürlich gab es bei den offiziellen Besuchen Fragen nach der Behandlung im Gefängnis. Bei den Gesprächen waren aber immer Schließer anwesend, das heißt die Personen, die sie mißhandelt hatten.

Für die Gefangenen kam der erste Hinweis darauf, daß die Öffentlichkeit sich in diesem Fall als Schutz auswirken würde, als ein damals Freigelassener in Deutschland offen in einem Interview von den Zuständen im Knast, von der Behandlung durch die Schließer und durch die Carabinieri erzählte. Ab dann waren bestimmte Schließer plötzlich nicht mehr mit ihrer Betreuung beauftragt, und die Männer sahen, daß sich die Behandlung nach dieser öffentlichen Aussage nicht verschlechterte. Dann, das war etwa drei Wochen nach der Verhaftung, kam ihre Entscheidung, daß eine Veröffentlichung möglich ist.


kassiber: Das ist natürlich immer ein Problem, wie von außen mit einer solchen Situation umgegangen werden kann: zu entscheiden, wie weit man diese Entscheidungen den Leuten im Knast überlassen kann.


Sonja: Bevor die Linke hier aus ihrem deutschen Kontext heraus entscheidet, muß es unbedingt Gespräche mit Leuten vor Ort - hier aus Italien - darüber geben. Aus dem Knast heraus war die Entscheidung, sich auf die Empfehlungen von Leuten draußen zu verlassen, nicht einfach. Dann stellen sich Fragen: Inwieweit sind die draußen eigentlich von den italienischen Verhältnissen informiert? Wissen sie, welche Repressalien uns hier danach drohen können? Wie genau kommen sie eigentlich zu dem Schluß, daß wir das öffentlich machen sollen? ... Aus dem Knast heraus konnte man schlecht eine Analyse liefern, inwieweit die "europäischen Standards" hier noch galten. Zu Irritationen hierbei führte auch das Vorgehen der Polizei in der Diaz-Schule, der auch "chilenische Nacht" genannt wurde.

Um sich auf die Leute draußen zu verlassen, hätte man wiederum eine klare Ansage gebraucht, wer da draußen nach welchen Diskussionen entscheidet. Wenn so etwas gelaufen wäre, hätte man sich im Knast vielleicht auch direkt auf die Forderung von außen verlassen. Die Isolation im Knast verzögerte dies allerdings.


kassiber: Inwieweit habt ihr überhaupt verstanden, was die Carabinieri, die Schließer usw. von euch wollten? War eine Kommunikation überhaupt möglich?


Sonja: Wir hatten keinerlei Italienischkenntnisse. Wir kannten uns auch nicht mit dem italienischen Recht aus. Wir wußten nicht, wie der Umgang mit der Justiz in Italien eigentlich läuft. Wie zum Beispiel mit Aussageverweigerung umgegangen wird. Beides, die fehlenden Sprachkenntnisse und der Mangel an Wissen über Rechtssituation und Verfahrensablauf haben unsere Situation erschwert.

Auch der Umgang mit den italienischen AnwältInnen gestaltete sich schwierig, und zuerst war keinem klar, woran das lag. Diese waren ein ganz anderes Verhältnis zu ihren KlientInnen gewöhnt: Sie bereiten etwas vor, und die KlientInnen ziehen dann mit. Wenn wir mit ihnen bestimmte Sachen diskutieren wollten, zum Beispiel über ihre Strategie, über die nächsten Schritte informiert werden wollten, hielten sie das für Gesten des Mißtrauens. Sie haben auch nicht verstanden, warum wir manchmal anders vorgehen wollten. In Italien ist es zum Beispiel vor Gericht so, daß Angeklagte, die keine Aussage machen, praktisch ein Schuldgeständnis abliefern. Eigentlich die einzigen, die in Italien ihre Aussage verweigern, sind Mafia-Leute, denen eine Kugel droht, falls sie sprechen.

Die Sprache spielte die ganze Zeit über eine entscheidende Rolle. Vielleicht sollte ich ein paar Beispiele nennen: Auf der Carabinieri-Station war dafür gesorgt worden, daß eine Person ziemlich gut Englisch sprach, um uns zu Aussagen zu erpressen. In der ersten Haftprüfung der Jungs gab es dagegen einen Dolmetscher, der völlig falsch übersetzt hat, so daß wir überhaupt nicht herausbekommen konnten, in was für einer Situation wir uns eigentlich befanden. Die AnwältInnen haben wenn, dann nur ganz wenig Englisch gesprochen. Bei den beiden großen Haftprüfungen hatten wir eine Übersetzerin, die es fertigbrachte, einen halbstündigen Vortrag der Staatsanwältin für uns zusammenzufassen mit dem Satz "Sie denkt, ihr seid schuldig." Manchmal haben wir auch völlig unverständliche Übersetzungen eingereicht bekommen, die mittels Sprachcomputer angefertigt worden waren. Aber selbst wenn wir einigermaßen gute Übersetzungen bekamen, haben wir oft den Zusammenhang nicht verstanden.

Auch im Knast war die Sprache natürlich ein Problem: Alle Anträge mußten in italienischer Sprache erfolgen. Wir waren auf die anderen Gefangenen angewiesen, die sich allerdings sehr solidarisch verhielten.


kassiber: Aber ganz allgemein ist das doch eine relativ alte Erkenntnis, daß in den verschiedenen Ländern andere Gesetze gelten, daß Verfahren ganz anders geführt werden, daß die Knastbedingungen anders sind usw.


Sonja: Im Vorfeld von Genua wurde zum Beispiel gesagt: Man darf sich in Italien vermummen; Demonstrationen werden vorher abgesprochen; du hast das Recht, einen Anwalt zu sehen. Nach drei Tagen kommt die erste Haftprüfung. Das sind natürlich alles wichtige und hilfreiche Informationen. Aber das ersetzt noch keine gründliche Auseinandersetzung mit den Verhältnissen vor Ort. Es ist unmöglich, Erfahrungen von hier auf andere Länder zu übertragen. Da gibt es ganz wichtige kulturelle Unterschiede, die man kennen und auf die man sich vorbereiten muß, um zu verstehen, in welche Situationen man dort geraten könnte. Zum Beispiel redet in Italien jeder mit jedem: die Kommunisten mit den Faschos, die Anwälte mit den Schließern ... Es wird unheimlich viel geredet, so auch vor Gericht, aber man gibt keine Informationen weiter. Bei uns führte dies jedoch zu Irritationen.


kassiber: Das klingt ja nach dem klassischen Italien-Klischee... Aber sag doch noch mal was zur Kommunikation unter denen, die festgenommen wurden.


Sonja: Wir Frauen sind nach der ersten Nacht, die wir getrennt voneinander verbracht haben, in zwei Zellen verlegt worden. In der einen waren wir zu dritt, die anderen saßen zu viert in einer Zelle. Die ersten drei Tage hatten wir keinen Hofgang und konnten auch nicht über die Zellen hinweg miteinander kommunizieren. Erst nach der ersten Haftprüfung konnten wir auf dem Hof miteinander reden. Wir hatten dann pro Tag dreieinhalb Stunden Umschluß in Form des Hofgangs. Dazu kriegten wir Besuch, von dem wir verschiedenste Informationen von draußen reinbekommen haben; und von den Knastis Informationen über unsere Rechte, zum Beispiel ob wir telefonieren können. Wir konnten Sachen gemeinsam entwickeln, diskutieren und hatten immer Kontakt zu Müttern, Schwestern usw. Damit hatten wir die Möglichkeit, uns auf Treffen - zum Beispiel mit Leuten vom Konsulat oder mit Mitgliedern des Bundestags - vorzubereiten und bestimmte Forderungen zu stellen, auf unsere Situation aufmerksam zu machen.

Die Jungs waren auch zusammen, zum Teil zu zehnt in einer Achterzelle, und eigentlich nur mit Deutschen zusammen. Das heißt, sie hatten genauso die Möglichkeit zu diskutieren und die Geschichte zusammen durchzustehen.

Die Kommunikation zwischen Frauen und Männern war aber erheblich erschwert. Obwohl eine der Frauen mit einem der Männer verlobt war, war es nicht möglich, miteinander zu telefonieren. Innerhalb der ersten zwei Wochen wurde auch jeglicher Briefverkehr zwischen den Knästen verhindert. So gab es für uns zumindest in der ersten Zeit keine Möglichkeit herauszufinden, was bei den Jungs wirklich passiert.


kassiber: Wann und wie habt ihr mitbekommen, daß es draußen eine Menge Solidarität mit euch gibt, und wie schätzt ihr die Arbeit der Solileute ein?


Sonja: Wir haben relativ schnell mitbekommen, daß sich die Leute draußen um uns bemühen werden, und wir haben uns auf unser Umfeld verlassen. Irgendwann haben wir dann auch Pressespiegel hereingeschickt bekommen, in Briefen wurde über die Soliaktionen berichtet, wir haben Geld geschickt bekommen etc. Dann haben Angehörige, die in der Solibewegung aktiv waren, bei ihren Besuchen davon erzählt, was draußen passiert. Ab und zu haben wir auch politische Einschätzungen geschickt bekommen. Davon hätten wir gut noch mehr gebrauchen können. Es war für uns unglaublich wichtig zu erfahren, wie unsere Situation von außen gesehen wird, denn wir waren dort ansonsten den öffentlichen Medien ausgeliefert - von sieben Fernsehstationen gehörten sechs Berlusconi.

Dann gab es ja den Ermittlungsausschuß (EA) Genua, der sich vorwiegend aus Deutschen zusammengesetzt hat. Der hat alles Mögliche für uns organisiert, viel weitreichender, als es die Aufgaben eines EA eigentlich vorsehen - bis hin zu Unterkünften für die Eltern usw. Insgesamt war es supergeil für uns, so viel Post zu kriegen und Informationen und natürlich auch Kohle, zu wissen, daß uns die Leute draußen nicht vergessen haben, daß wir nicht alleine sind, sondern ganz viele. Die Briefe, die wir bekommen haben, waren sehr verschieden, und alle waren total wertvoll für uns.

Also, wir sind total froh, daß wir so viel Unterstützung bekommen haben. Bleibt zu hoffen, daß die Leute am Start bleiben, wenn wir ein Verfahren kriegen.


kassiber: Wie ist es zu eurer Freilassung gekommen?


Sonja: Nach der zweiten Haftprüfung teilten uns die Anwälte mit, durch eine staatsanwältliche Befragung könne ein dritter Haftprüfungstermin erwirkt werden. Diese Befragungen sind Standard. Man wird gefragt, was man gemacht hat und wann - ausschließlich Angaben zur eigenen Person. Dieses Interview wurde dem Haftrichter vorgelegt, der anhand der vorhandenen Indizien und der Gespräche für eine Freilassung entschied. Seine Einschätzung war, daß keine Fluchtgefahr bestünde, da wir uns in festen sozialen Zusammenhängen befinden.


kassiber: Wie ist eure Situation jetzt?


Sonja: Die Freilassung war vor zwei Monaten. Jetzt haben wir ein Ermittlungsverfahren laufen, das am 23. Januar 2002 einer Prüfung unterliegt, ein halbes Jahr nach unserer Festnahme. Dann muß sich die Staatsanwaltschaft dazu äußern, ob ein Prozeß folgt, das Ermittlungsverfahren fortgesetzt wird oder eingestellt wird. Im Moment gibt es die Einschätzung, daß sie weitere Ermittlungen führen wollen, weil sie enorme Mengen an Videomaterial haben, auf dem sie versuchen, Leute zu identifizieren, die an Ausschreitungen teilgenommen haben. Mittlerweile haben sie auch Videomaterial aus Prag und Göteborg beantragt, um das Wiederkehren von Personengruppen zu recherchieren.

Wann und ob ein Prozeß gegen uns eröffnet werden könnte und in welchem Rahmen das verlaufen würde, dazu gibt es noch keine Einschätzung. Genauso gilt das für viele andere Leute. Die Personen von der Theaterkarawane haben auch noch Ermittlungsverfahren laufen, und viele andere Leute auch.


kassiber: Gibt es denn eine Vorstellung vom Strafmaß, das euch droht?


Sonja: Ursprünglich gab es ja diese beiden Paragraphen, derer wir beschuldigt wurden: § 416 ("kriminelle Vereiningung") und § 419 ("Plünderung und Verwüstung"). Nach welchen Paragraphen wir angeklagt werden, wenn das Verfahren eröffnet werden würde, ist bis jetzt nicht klar. Die Anklage kann genausogut auf Sachbeschädigung lauten oder was anderes.

Auf den italienischen § 419 stehen acht bis fünfzehn Jahre. Der Vorwurf entspricht zwar ungefähr dem deutschen "schweren Landfriedensbruch", aber hier wäre eine Bewährungsstrafe anzunehmen. Daß das Strafmaß in Italien so unverhältnismäßig hoch ist, läßt sich auf die siebziger Jahre zurückführen, auf die Repression gegen die Roten Brigaden beziehungsweise Zeit der "Strategie der Spannung"; die Vorwürfe waren eher auf Bombenanschläge und ähnliches gemünzt. Es gibt die Einschätzung, daß es demnächst in Italien eine Gesetzesfortbildung im Zuge der Anpassung an die europäischen Richtlinien geben wird.


kassiber: Ihr habt jetzt deutsche und italienische AnwältInnen?


Sonja: Ja, aber vor Gericht werden uns nur die italienischen Anwälte vertreten. Wir haben drei in diesem Verfahren - zwei linke Anwälte vom Genova Legal Forum, die sich bereits im Vorfeld des G8-Gipfels als Anwälte zur Verfügung gestellt haben, plus einen Anwalt aus dem liberalen Spektrum, der mit solchen Fällen eigentlich keine Erfahrung hat. Natürlich wäre es bei einem solchen Prozeß wichtig, noch ein, zwei AnwältInnen hinzuzuziehen, aber da sind wir noch im Auswahlverfahren. Das ist natürlich alles schwer, weil wir nicht einfach runterfahren können und gucken, wer denn dafür am besten wäre.

Es gibt aber zusätzlich deutsche AnwältInnen, die uns beraten und sich um so was kümmern wie: "Was für Abkommen gibt es? Wie kann eine Prozeßvorbereitung aussehen?" usw.


kassiber: Wie wollt ihr an den 23.1.2002 herangehen?


Sonja: Abwarten und Tee trinken.


kassiber: Gegen euch und die anderen, die auch in Genua festgesetzt wurden, wurden Einreiseverbote nach Italien verhängt. Wie seid ihr dagegen vorgegangen und warum?


Sonja: (Es gab sogar EU-Einreiseverbote!) Gegen das Italien-Einreiseverbot haben wir bei der italienischen Questura, dem Polizeikommissariat, einen Widerspruch eingelegt. Das haben auch viele andere Leute gemacht. Es gab schon die ersten Prozesse deswegen, und die Leute haben diese Prozesse gewonnen: Diese Einreiseverbote waren nicht rechtens.

Es geht beim Vorgehen gegen diese Einreiseverbote ja nicht nur darum, daß wir persönlich gerne wieder mal nach Italien reisen wollen, sondern das ist ein politisch sehr wichtiges Thema.

Die fünf aus unserer Gruppe, die die massivsten Mißhandlungen erlitten haben, haben außerdem "Anzeigen gegen unbekannt" gegen Carabinieri und Schließer gestellt. Solche Anzeigen laufen bundesweit.


kassiber: Nach den Gipfeln in Göteborg und Genua folgten jeweils eine weitere Repressionswelle ...


Sonja: Die neue Repressionswelle trifft vor allem die italienische Linke: Unheimlich viele Ermittlungsverfahren, auch wegen subversiver Organisation, wegen Brandanschlägen, wegen Antifa-Aktionen. Aber auch gegen das relativ bürgerliche Bündnis wird vorgegangen: Der Sprecher des Genova Social Forum ist vorgeladen worden, genauso der Sprecher der Tute Bianche. Dazu werden anarchistische Zusammenhänge massiv kriminalisiert.

Nach Göteborg gab es 17 Festnahmen. Den Leuten wird vorgeworfen, an den Vorbereitungen des Gipfels beteiligt gewesen zu sein. Sie sitzen in Untersuchungshaft.


kassiber: Was denkst du: Wie soll es in Zukunft aussehen? Zum Beispiel in Brüssel?


Sonja: In Genua haben wir eine ganze Reihe von Problemen festgestellt, auf die wir so nicht vorbereitet waren: Daß wir nicht vertraut genug waren mit den kulturell-rechtlichen Unterschieden, daß wir nicht wußten, daß es keine Antirepressionsgruppen in Italien à la klassischem Ermittlungsausschuß gibt, wieweit sich die sprachliche Barriere auswirken kann usw.

Für die Zukunft fände ich es deswegen klasse, wenn andere aus unseren Schwierigkeiten lernen, wenn die Linke hier ein neues Verständnis davon entwickelt, wie Repression in anderen Ländern aussehen kann. Das muß auf zwei Ebenen vor sich gehen: Einerseits sollte in lokalen Zusammenhängen darüber diskutiert werden, was eine Demonstration im Land X nach sich ziehen könnte. Darüber hinaus müssen für internationale Gipfel Ermittlungsausschüsse organisiert werden, die ganz anderen Ansprüchen gerecht werden als ein lokaler EA.


kassiber: Was hältst du davon, nicht zu jedem Gipfel hinzufahren, sondern zum Beispiel zum Zeitpunkt eines Gipfels an verschiedenen Orten lokal Widerstand zu organisieren?


Sonja: Auf einer Demonstration mit 300.000 anderen Menschen Unmut auf die Straße zu tragen, ist ein unglaublich kraftvolles Gefühl. Solche Erlebnisse geben Mut und Perspektiven. In diesem Zusammenhang könnten eine Zusammenarbeit und Vernetzung erarbeitet werden. Es gibt viele positive Aspekte für das Zusammentreffen vor Ort eines Gipfels. An verschiedenen Orten lokal Widerstand zu organisieren, hat auch positive Seiten. Ich möchte keins von beiden als die einzig richtige Aktionsform definieren.


kassiber: Vielen Dank für das Interview.


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kombo(p) - 24.10.2001