kassiber 47 - Dezember 2001

Über die Vereinfachung komplexer politischer Verhältnisse in Afghanistan

Die gefährliche Ethnisierung eines Konflikts


Nach Jugoslawien, Ruanda und Tschetschenien rückt mit Afghanistan erneut ein Konflikt, der als ethnisch umschrieben wird, in das öffentliche Interesse. Vielfach wird die Zukunft Afghanistans auf die Frage zugespitzt, wie man mit dem ethnischen Konfliktpotenzial in diesem Land umgehen soll und die verschiedenen ethnischen Gruppen in eine Regierung einbinden kann. Ein jüngst häufig geäußertes Argument lautet, daß die moderaten Vertreter der Taliban in einer neuen Regierung mit von der Partie sein sollten, um auch Paschtunen dabeizuhaben. Dies suggeriert die Annahme, daß alle Paschtunen Anhänger der Taliban sind. Ethnizität steigt damit nicht nur zur bestimmenden Leitlinie des Konflikts auf, sondern die ethnischen Gruppen werden mit den herrschenden militär-politischen Bewegungen gleichgesetzt und als einheitlich handelnde Blöcke aufgefaßt. Auf der einen Seite die Paschtunen, die mit den Taliban identisch sein sollen und das Gros der afghanischen Bevölkerung stellen. Auf der anderen Seite die zahlenstärksten ethnischen Minderheiten der Tadschiken, Usbeken und Hasara, die in der Nordallianz zusammengeschlossen sein sollen.

Diese Sichtweise, die der Vereinfachung der sehr komplexen politischen Verhältnisse in Afghanistan dient, ist realitätsfremd und gefährlich: realitätsfremd, da die meisten Afghanen ihrer ethnischen Zugehörigkeit keine wichtige Bedeutung zugestehen. Gefährlich, da suggeriert wird, daß ethnische Zugehörigkeit einer Konstanten entspricht, die das Denken und Handeln von Menschen unausweichlich bestimmt. Ein Rückblick in die afghanische Geschichte verdeutlicht, daß das Bewußtsein, einer ethnischen Gruppe anzugehören, erst im Zuge der Nationalstaatsbildung geschaffen wurde und Ethnizität erst im Verlauf des seit 1979 andauernden Afghanistankriegs allmählich als Instrument der politischen Auseinandersetzung an Bedeutung gewann.


Erfindung ethnischer Gruppen

Die ethnische Vielfalt in Afghanistan ist kaum zu überblicken. In ethnologischen Abhandlungen werden weit über fünfzig ethnische Gruppen aufgezählt. Auch die Abgrenzungskriterien zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen sind uneinheitlich, mal die Sprache, mal die Konfession, mal die Herkunftsvorstellungen, mal die Kombination einer ganzen Reihe kultureller Merkmale.

Vielfach gerät in Vergessenheit, daß die Vorstellung einer gemeinsamen ethnischen Gruppenzugehörigkeit erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts erschaffen wurden. Der wissenschaftliche Eifer, Menschen auf Grund kultureller Eigenheiten zu klassifizieren, bedingte, daß Ethnologen eine ganze Reihe von ethnischen Gruppen in Afghanistan kreierten: So etwa die Nuristani, Paschai oder Aimaq. Den zu solchen Einheiten zusammengefaßten Menschen ist oftmals nicht einmal das Ethnonym, mit dem sie belegt wurden, geläufig, geschweige denn irgendeine gemeinsame Identität. Ein anschauliches Beispiel stellt die Erhebung der Tadschiken zu einer ethnischen Gruppe dar. In Afghanistan wird der Terminus "Tadschike" für die Menschen verwendet, die sich ethnisch nicht einordnen lassen. Dennoch sprechen wir heute von der ethnischen Gruppe der Tadschiken; ein Widerspruch in sich. Auch läßt sich kaum aus der ethnischen Zuordnung ein gemeinsames Handeln ableiten.

So haben die Paschtunen im so genannten Great Game des 19. Jahrhunderts niemals vereint gegen die englische Kolonialmacht gekämpft, wie es die historische Verklärung glauben machen will. Vielmehr wechselten die einzelnen paschtunischen Stämme ständig die Seiten. Paschtunische Herrscher waren nur unter Zustimmung der Engländer in der Lage, den Kabuler Thron zu besteigen. Schließlich verschleiert die ethnische Klassifizierung, daß ein guter Teil der afghanischen Bevölkerung situationsbedingt die ethnische Identität wechseln kann. Paschtunen, die in Kabul aufgewachsen sind und eine urbane Lebensweise annahmen, können sich ohne Mühe als Tadschiken ausgeben. Hasara wiederum verschweigen oftmals ihre schiitische Konfession und bezeichnen sich als Tadschiken, um hierdurch Diskriminierungen zu entgehen.


Nationalstaatswerdung Afghanistans

Die rivalisierenden Kolonialmächte England und Rußland riefen einen Staat Afghanistan erst Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben. Die von Englands Gnaden eingesetzte paschtunische Herrscherfamilie favorisierte in ihrem Nationalstaatskonzept paschtunische Momente: So ist Afghane das persische Synonym für Paschtune, Paschtu war stets afghanische Nationalsprache, und die afghanische Geschichte wurde aus paschtunischer Sicht geschrieben. Die Herrschaftspolitik nutzte das ethnische Raster, um den Zugang zu staatlichen Gütern und Ämtern zu regulieren. Paschtunen erfuhren in allen Bereichen Bevorzugungen und dominierten das Militär. Tadschiken überließ der Staat den Wirtschafts- und Bildungsbereich, während die Hasara außen vor blieben.

Diese verschiedenartige Behandlung der Einwohner auf Grund ethnischer Attribute ging einher mit der Ausbildung ethnischer Stereotype: Die Paschtunen galten als kriegerisch, die Tadschiken als geizig, die Usbeken als brutal und die Hasara als ungebildet und arm. Obgleich die nationalstaatliche Politik ein ethnisches Konfliktpotenzial schuf, traten ethnische Konflikte überraschenderweise kaum auf. So bedingten die ländlichen und dezentralen Strukturen des Landes, daß die meisten Afghanen sich nicht dafür interessierten, was im fernen Kabul geschah und wer von der staatlichen Politik profitierte und wer nicht.


Ethnische Kriegführung

Dies änderte sich mit dem Ausbruch des Afghanistankriegs 1979. Obgleich der Afghanistankrieg entsprechend den Vorzeichen des Kalten Kriegs vom Gegensatz Kommunismus versus Islam dominiert wurde, nutzten die beteiligten Parteien verstärkt das ethnische Konfliktpotenzial, um ihre Position zu stärken. Die kommunistischen Machthaber in Afghanistan erhofften sich, ausgewählte ethnische Gruppen über deren Erhebung zu Nationalitäten an sich zu binden. Noch bedeutender war die Schaffung von Milizen, die auf ethnischer Zugehörigkeit aufbauten; die bekannteste ist die Usbeken-Miliz des General Dostum.

Auch Pakistan sowie Iran, die den afghanischen Widerstand aufbauten, nutzten das ethnische Konfliktpotenzial aus. Iran baute auf Grund schiitischer Verbundenheit mit der Hesb-e Wahdat eine Partei auf, die unter den schiitischen Hasara stark verbreitet war. Für Pakistan gestaltete sich die Situation schwieriger. Der Grund: Zwischen den 50er und 70er Jahren standen Pakistan und Afghanistan in der so genannten Paschtunistanfrage mehrfach am Rande eines Kriegs. Afghanistan strebte die Einverleibung der paschtunischen Stammesgebiete Pakistans an. Um die Paschtunistanfrage ad acta zu legen, protegierte Pakistan gleich mehrere paschtunisch dominierte Parteien, die sich auf Grund persönlicher Rivalitäten ihrer Führer voneinander unterschieden. Mit der Jamiat-e Islami erkannte Pakistan außerdem eine Partei an, die als Sammelbecken für alle Nichtpaschtunen dienen sollte, sich jedoch im Verlauf der 80er Jahre als Fürsprecher der Tadschiken profilierte.

Mit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1992 stieg Ethnizität zum dominierenden Faktor der Kriegführung auf. Die Jamiat-e Islami, die Dostum-Milizen und die Hesb-e Wahdat gaben sich nun offen als die Interessenvertretungen der Tadschiken, Usbeken und Hasara aus. Hierüber vermochten sie es, Kämpfer zu mobilisieren und ihre Existenzberechtigung zu rechtfertigen. Auf Grund der pakistanischen Politik fehlte allein eine Bewegung, die Rückhalt unter den Paschtunen hatte. Die von Pakistan protegierten Parteien, die unter den Paschtunen verbreitet waren, hatten sich im Verlauf der 80er Jahre diskreditiert und nahmen selten mehr als eine lokale Bedeutung ein. Auch das Verhältnis zwischen Pakistan und dem ehemaligen Ziehkind, der Jamiat-e Islami, verschlechterte sich.

Seit Anfang der 90er Jahre befand sich Pakistan im Dilemma, über keinen Verbündeten mehr in Afghanistan zu verfügen. Dies leitete eine politische Kehrtwende Islamabads ein, die 1994 in der Gründung der Taliban mündete: einer Bewegung, die über ein radikal islamistisches und ein paschtunisches Gesicht verfügte. Gerade die paschtunische Ausrichtung war eine wesentliche Ursache für die rasante Ausbreitung der Taliban in Süd- und Ostafghanistan innerhalb weniger Wochen. Mit der Einnahme Kabuls durch die Taliban 1996 und dem Zusammenschluß der Jamiat-e Islami, Hesb-e Wahdat und Dostum-Milizen zur Nordallianz mutierte der Krieg erneut. Diesmal zum Konflikt zwischen paschtunischen Majoritätsansprüchen und ethnischen Minderheitenforderungen.

Die Ethnisierung des Afghanistankriegs in den 90er Jahren schlug sich in einer Reihe ethnischer Säuberungen und Massaker nieder, an denen alle Kriegsparteien beteiligt waren. Vor allem Zivilisten waren die Opfer dieser Auseinandersetzungen. Trauriger Höhepunkt stellte das Massaker in der Stadt Masar-e-Scharif 1998 dar. Die Taliban schlachteten mehrere tausend Hasara ab. Trotz dieser Ethnisierung des Kriegs blieb eine Ethnisierung der Massen aus. Es ist ein Trugschluß zu glauben, daß sich die Paschtunen durch die Taliban und die Angehörigen der ethnischen Minderheiten durch die Nordallianz vertreten sehen. Auch die Relevanz von Ethnizität als politische Klammer blieb begrenzt: Viele Kommandeure und Kampfeinheiten wechselten aus Opportunismus mehrfach die Fronten - unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. (...)

Ethnizität ist nicht Ursache eines Konflikts, sondern Folge der politischen und militärischen Mobilisierung. Eine Berücksichtung ethnischer Forderungen [bei der geplanten "politischen Lösung" für ein Post-Taliban-Afghanistan] behebt daher nicht die Ursachen des Konflikts, sondern bestärkt nur diejenigen, die - wie bereits in Jugoslawien - Ethnizität als Instrument der Interessendurchsetzung einsetzen.


Conrad Schetter

Der Autor arbeitet am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn.

aus: Frankfurter Rundschau vom 30.10.2001 (redaktionell gekürzt)


Inhaltsverzeichnis Kassiber 47
Bezugsmöglichkeiten


zurück!

kombo(p) - 24.10.2001