kassiber 47 - Dezember 2001

Perspektiven linksradikaler Politik - Themen, Strategien, Aktionsformen

Global Action - Local Congress

30. November - 2. Dezember 2001 in Hamburg


Zwei Jahre nach Seattle und drei Monate nach Genua kommt die immer größer werdende globalisierungskritische Bewegung, sofern sie als einheitliche Bewegung bezeichnet werden kann, nicht darum herum, ihre bisherigen Vorgehensweisen zu diskutieren. Auch der linksradikale Teil dieser "Bewegung" muß seine Konzepte hinterfragen. Sowohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch die Kraft und Vielfältigkeit des Protestes haben sich geändert. Damit einhergehend müssen wir uns mit verschiedenen Fragestellungen auseinandersetzen:

Welches sind die mittelfristigen Ziele unserer Gipfelmobilisierung? Wie viele Gemeinsamkeiten haben die in der "Bewegung" aktiven Gruppierungen miteinander? An welchen Punkten widersprechen sich die vorhandenen Ansätze? Wie können wir mit der immer stärker werdenden Repression umgehen und welche Gegenkonzepte lassen sich entwickeln? Diese Themen sind nur Beispiele für bewegungsstrategische und politische Debatten, die wir führen wollen. Der Kongreß soll der Diskussion über diese Themen und über die Fragestellungen, die ihr mitbringt, einen Raum bieten.


Die Ereignisse von Genua

In Genua sind 300.000 Leute aus unterschiedlichen Gründen und politischen Vorstellungen in einem sehr breiten Bündnis auf die Straße gegangen. Wo verorten wir uns politisch in solch einer Massenmobilisierung, finden wir sie richtig?

In Genua sind einerseits die Power und die Möglichkeiten einer solchen Mobilisierung sichtbar geworden, andererseits waren aber auch die Grenzen einer solchen breiten Bewegung schnell zu erleben.

Es gab in Genua eine Massenmilitanz, die in verschiedenen Blöcken und zu verschiedenen Zeiten stattgefunden hat und nicht nur vom sogenannten black bloc ausgegangen ist. Diese riots waren ein klarer Ausdruck gegen die kapitalistische Globalisierung, und sie haben dazu beigetragen, daß die Wut vieler Menschen über die ungerechte Weltwirtschaftsordnung in die ganze Welt verbreitet worden ist. Aber es gibt auch einige Fragen und Kritik: Haben die Schergen bei den riots die Kontrolle über die Ereignisse verloren? War es ihre Taktik, zuzusehen, um ihre anschließende Repression rechtfertigen zu können und die Situation zu nutzen, um andere DemonstrantInnen verprügeln zu können und um zu spalten und einzuschüchtern? Wie organisiert und/oder planlos war die Militanz?

Genua hat den Mord an Carlo bedeutet, es hat eine Militarisierung der Auseinandersetzung gegeben, eine neue Eskalation der Polizeigewalt mit einer Strategie der Willkür, die viele überrannt hat. Wie bereiten wir uns auf solche Demos vor, bei denen es passieren kann, daß DemonstrantInnen umgebracht werden, auf der Wache mißhandelt und über Jahre in den Knast gehen? Wie gehen wir mit unseren Ängsten um, wie können wir uns schützen und uns nach solchen Erfahrungen unterstützen? Wie gehen wir mit Meldeauflagen, Ausreiseverboten, der Situation von Leuten ohne Paß usw. um? Was bedeuten solche Gipfel für die Szene in den jeweiligen Ländern, die anschließend mit einer großen Repressionswelle konfrontiert ist?


Gipfel & dann

Die Proteste gegen den weltweiten Kapitalismus haben bisher in den symbolischen Aktionen gegen Treffen der herrschenden Eliten ihren kraftvollsten Ausdruck gefunden. Menschen aus vollkommen unterschiedlichen Hintergründen kamen zusammen, um ihre Ablehnung der bestehenden Verhältnisse und Entwicklungen zum Ausdruck zu bringen. Aber wie wird es nach Genua weitergehen? Werden sich auch in Zukunft noch so viele Menschen mobilisieren lassen, "nur" um symbolischen Widerstand zu leisten? Und wie geht es weiter, wenn verschärfte Sicherheitsvorkehrungen ein solches Zusammenkommen in Zukunft verhindern oder Gipfel gleich ins Internet oder in abgelegene Bergdörfer verlegt werden?

Wie schaffen wir es, die Proteste, die ein bis zweimal im Jahr unübersehbar sind, im Alltag breiterer Schichten zu verankern? Wie lassen sich in Zeiten einer sich auch in den Ländern der sogenannten ersten Welt verschärfenden sozialen Lage lokale Bezüge herstellen zu den eher allgemein gefaßten Forderungen bei Gipfelprotesten?


Linksradikale Identität und politische Verortung

Bei den Protesten von Seattle, Prag, Genua, etc. hat sich nach Ansicht vieler eine neue sogenannte "Antiglobalisierungsbewegung" manifestiert. Uns stellt sich angesichts der massiven Differenzen und der sich teilweise grundsätzlich widersprechenden Anliegen der bei den Protesten beteiligten Gruppierungen die Frage, ob es so eine Bewegung tatsächlich gibt oder ob sie eher ein Konstrukt der Medien ist - und wenn es sie gibt, wo die gemeinsamen Nenner dieser Gruppierungen liegen.

Außerdem soll darüber diskutiert werden, wie wir uns als undogmatische radikale Linke bei den Protesten verorten, mit welchen Forderungen wir nach außen treten und mit welchen gesellschaftlichen Kräften wir Bündnisse schließen bzw. von welchen Gruppen wir uns abgrenzen.

In diesem Zusammenhang wollen wir auch darüber reden, wo wir uns unbewußt (und ungewollt?) abgrenzen, z.B. indem wir als größtenteils aus jüngeren, weißen Mittelschichtangehörigen bestehende linke Szene unsere Maßstäbe unhinterfragt auf Menschen mit anderem Hintergrund (z.B. MigrantInnen, ArbeiterInnen...) anwenden. Damit schließen wir Leute aus und reproduzieren Herrschaftsmechanismen.

Wir wollen darüber diskutieren, wie wir das demnächst anders machen können. Dazu gehört auch, darüber nachzudenken, ob es bei Gipfeln und anderen Ereignissen unbedingt fein säuberlich nach Städten aufgeteilte und mit Wäscheleinen abgesperrte deutsche Camps geben muß (wie zum Beispiel in Genua) oder ob es nicht auch möglich wäre, solche deutschen Tugenden zu hinterfragen.


Strategie der Militanz

Militante Aktionen sind ein Bestandteil etlicher linksradikaler Gruppierungen. Bei den Protesten in Genua hat sich mal wieder gezeigt, daß eine allgemeinere Diskussion über militante Aktionsformen nötig ist. Die Geschehnisse von Genua haben verdeutlicht, daß ausgelöst durch militante Aktionsformen und die extreme Medienhetze der Spaltungswille einiger Teile der Bewegung wieder stärker geworden ist. Einige VertreterInnen von NGOs veröffentlichten sofort Presseerklärungen, in denen sie sich von dem "schwarzen Block" distanzierten oder nutzten ihre Pressekontakte um ein Bild des Protestes in die Öffentlichkeit zu bringen, in dem andere als die eigenen Positionen gar nicht erst erwähnt werden.

Aber das Problem besteht nicht nur darin, daß andere Strömungen, wahrscheinlich durch den bürgerlichen Hintergrund ihrer Analyse und ihr Festhalten an vorherrschenden Werten wie Eigentum oder Gesetzestreue, per se militante Aktionen verurteilen. Vielmehr wollen wir diskutieren, wie wir erreichen können, daß keinen Leuten Aktionsformen aufgedrängt werden, die sie persönlich nicht vertreten können. Eine auch militant agierende Bewegung muß sich also Gedanken darüber machen, wie sie es schaffen kann, daß alle Formen des Protestes nebeneinander her laufen können und keine durch die Dominanz einer anderen zunichte gemacht wird. Wie und an wen sollen militante Aktionen vermittelbar sein?


Die Folgen der Anschläge vom 11.9.

"Wir müssen uns der Überlegenheit unserer Zivilisation bewußt sein. Die Freiheit gehört nicht zum Erbe der islamischen Kultur ... Der Westen ist dazu bestimmt, die Völker zu verwestlichen und für sich zu erobern ... Es gibt eine auffällige Übereinstimmung zwischen den Aktionen der Terroristen und der Bewegung der Globalisierungsgegner." (Berlusconi)

Die Anschläge auf die USA haben als Folge den Krieg gegen Afghanistan. Einen Krieg, in dem Deutschland bemüht ist, sich eine neue Rolle in der militärischen Weltpolitik zu verleihen. Und der 11.9. hat eine rassistische Hetzte, rassistische Angriffe und neue Gesetze gegen MigrantInnen und Flüchtlinge gebracht, u.a. in den USA und in der BRD. Die neuen - alten Pläne, die in ähnlicher Form in den Schubladen lagen, werden jetzt unter unglaublicher Propaganda herausgeholt und umgesetzt. Das Klima verschärft sich so schnell, daß die radikale Linke im Moment nicht einmal hinterherkommt, auf die verschiedenen Repressionsmaßnahmen zu reagieren. Eine breite Diskussion über den Umgang damit und um Strategien für die politische Arbeit nach dem 11.9. sollte deshalb lieber heute als morgen geführt werden.


Repression

Viele von uns haben die Traumata, die sie durch die äußerst brutalen Polizeieinsätze von Genua bekommen haben, noch nicht wirklich verdaut. Es war vorauszusehen, daß durch das Wachsen einer systemkritischen Bewegung das System es sich auch nicht nehmen läßt, hart zurückzuschlagen. Je mehr unsere Aktionen eine Gefahr für die Interessen der Herrschenden darstellen, desto brutaler wird auch ihre Reaktion darauf sein. Und es ist ebenfalls kein Zufall, daß nach den Protesten von Prag, Göteborg und Genua einige unserer FreundInnen in den Knästen landeten. Auch dieses ist Teil der staatlichen Versuche, unseren Protest im Keim zu ersticken und durch Härte und Einschüchterung zu unterbinden. Repressionen werden unsere Proteste begleiten. Worüber wir uns also als Bewegung Gedanken machen müssen, ist, wie wir mit ihren Auswirkungen umgehen. Welche Möglichkeiten haben wir, unsere Strukturen zu schützen? Wie können wir Einfluß auf die aufgehetzte Stimmung nehmen, die die Repressionsverschärfungen überhaupt erst möglich macht? Wir müssen Strategien für eine kontinuierliche politische Soliarbeit entwickeln, die über Unschuldsvermutungen hinausgeht.


Rassismus, Migration und Festung Europa

Neoliberalismus und ökonomische Globalisierung haben für viele Menschen in den Trikontländern die Einrichtung von Freihandelszonen, die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen, Hunger und Flucht zur Folge. Die Hindernisse für den Waren- und Kapitalverkehr werden aus dem Weg geräumt, während die Grenzen gegen Menschen auf der Flucht vor Elend, Krieg und sozialer sowie politischer Unterdrückung und auch gegen Menschen, die sich das Recht nehmen zu leben, wo sie möchten, verstärkt und militarisiert werden. Von den EU-Mitglieds - und -Anwärterstaaten wurde nach dem Schengener Abkommen und verstärkt nach dem 11.9. ein "Grenzregime" errichtet, in dem nahezu alle repressiven Maßnahmen ihre Anwendung finden. Es wird versucht, Flucht und Migration mit bürokratischen, militärischen und polizeilichen Mitteln zu fassen und aufzulösen.

Von MigrantInnen und Flüchtlingen wird täglich Widerstand geleistet. Ein breites Spektrum von Gruppen wie The Voice, African Womens Association etc. organisieren Kämpfe für das Recht auf Asyl, für Bewegungsfreiheit, für die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund. Gegen diese und viele weitere Ausprägungen des alltäglichen staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus organisieren sich immer mehr Menschen. Eine linksradikale und globalisierungskritische Bewegung darf diese Kämpfe und Themenfelder nicht aus dem Blickfeld lassen. Ein Politikansatz, der seine Analyse und Kritik nur an einem Herrschaftsverhältnis, im Fall der Globalisierungsthematik am Kapitalismus ansetzt, ist verkürzt und blendet bestehende Zusammenhänge der unterschiedlichen Widersprüche aus.

Für uns stellt sich nun die Frage, wie wir es schaffen können, einen stärkeren Austausch und eine bessere Zusammenarbeit zwischen radikalen MigrantInnengruppen und anderen emanzipatorischen Strömungen zu erreichen. Und wir sollten diskutieren, wie wir es schaffen können, in unseren Zusammenhängen ein Klima zu schaffen, das verhindert, daß auf unseren Plena (wie es wohl in den meisten autonomen Zusammenhängen in der BRD der Fall ist) fast ausschließlich weiße Mittelschichtsangehörige sitzen.


Aktionsformen

In den letzten Jahren hat sich bei vielerlei Anlässen auch eine neue Aktionskultur entwickelt. Reclaim the Streets-Parties, Critical Mass, Pink Silver, und Carneval against Capitalism sind nur einige Beispiele für neue, sehr kreative Aktionsformen, die nach und nach auch hierzulande an Einfluß gewinnen.

Neue Aktionsformen sind aber nicht nur notwendig, weil das ewige 'auf Latschdemos rennen' mit der Zeit langweilig wird, sondern sie sind auch aus einer politischen Debatte geboren worden. So geht es z.B. um die stärkere Verbindung von Politik und Kultur. Auch gibt es einige Kritik an einem "Schwarzen-Block-Konzept", da dieses sehr militaristisch und martialisch rüberkommt, Militanz dort teilweise fetischisiert wird und damit patriarchale Strukturen reproduziert werden.

Auf dem Kongreß soll es die Möglichkeit geben, kreativ neue Aktionsideen zu entwickeln, es soll aber auch Raum da sein, um theoretisch über Aktionskonzepte und ihre politische Auswirkung zu diskutieren.

Wir sind verschiedene Gruppen und Einzelpersonen aus dem linksradikalen Spektrum und arbeiten zu unterschiedlichen Schwerpunkten, wie z.B. Repression, Kapitalismuskritik, FrauenLesbenpolitik und Anarchismus.

Die Beschreibung der stattfindenden Arbeitskreise und allgemeine Informationen zum Kongreß erhaltet ihr über:
kongress 111, c/o Infoladen, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg, eMail: kongress111@gmx.de; http://www.aktionsinfo.de/congress

(redaktionell gekürzt)


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kombo(p) - 24.10.2001