kassiber 47 - Dezember 2001

Zu den faschistischen Ausschreitungen in Genua (1)

Berlusconi ohne Maske


Daß Silvio Berlusconi nach seinem Wahlsieg am 13. Mai mit dem Führer der AN (Alleanza Nazionale)-Faschisten Gianfranco Fini und dem Chef der rassistischen Lega Nord Umberto Bossi eine Regierung bilden würde, war zu erwarten. Weniger, daß Fini, der selbst zum Vizepremier aufstieg, seine vier weiteren Ressorts mit ausgesprochenen Hardlinern besetzen würde, darunter der frühere SS-Offizier aus Mussolinis Salò-Republik Mirko Tremaglia. Die Manöver Berlusconis, die profaschistischen Charakterzüge seiner Regierung zu verhüllen, zeigten trotzdem zunächst gewisse Erfolge. Das ergab sich aus mehreren Faktoren. Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi, der nach den Grundsätzen der Verfassung die Berufung aller Minister der AN und der Lega hätte ablehnen müssen, unternahm nichts dergleichen. Ein weiterer Aspekt war der Eintritt von drei Vertretern der christdemokratischen Parteigrüppchen CDU und CCD sowie von vier Parteilosen in das 24 Mitglieder zählende Kabinett. (2)


Demokratisches Outfit

Eine Schlüsselrolle bei dieser Verschleierung übernahm der parteilose frühere WHO-Direktor, Renato Ruggeri, der Berlusconi als Außenminister dient. Das wirkte beruhigend auf die bürgerliche Mitte. In diesen Kreisen nahm kaum jemand an, der angesehene konservative Diplomat, der Italien viele Jahre als Botschafter in den USA vertrat, würde mit Faschisten und Rassisten gemeinsame Sache machen. Hinzu kam, Ruggeri ist ein Mann des FIAT-Besitzers Agnelli, der im Gegensatz zum Emporkömmling Berlusconi noch immer zum "vornehmen Kapitalismus" gezählt wird. Viele Menschen [...] verkannten die faschistoiden Züge der Regierung auch, weil es sich um keine offene Diktatur handelt, der Repressionsmechanismus zunächst nicht über den unter einer bürgerlichen Regierung Üblichen hinausging und der parlamentarische Rahmen fortbesteht. Es stimmt, daß derzeit ein mit Hitler oder Mussolini vergleichbares Regime nicht [...] existiert. Dennoch warnt Professor Bodo Zeuner von der FU Berlin zu Recht: "Wenn Polizisten, wenn Spezialeinheiten der Polizei es sich herausnehmen, politisch unliebsame Personen, wie in Genua geschehen, mitten in der Nacht zu überfallen und brutal, ja lebensgefährlich zu verprügeln, dann ist es zu Folterkellern wie denen der SA im Deutschland von 1933 nur noch ein Schritt." (3) PRC-Sekretär Fausto Bertinotti warnte vor der Gefahr des Übergangs zu einem faschistischen oder ähnlich gearteten autoritären Regime und rief zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung auf. (4)

Unter solchen Gesichtspunkten ist es, ohne in Schematismus zu verfallen, durchaus angebracht, die historischen Lehren zu beachten. Mussolinis erste Regierung nach seinem Machtantritt 1922 war formal gesehen ebenfalls keine reine faschistische Exekutive. Von 15 Ressorts besetzte die faschistische Partei nur vier. Weitere vier hatten zwar zuverlässige Erfüllungsgehilfen des Duce inne, aber sieben Minister kamen aus bereits vorher in der Regierung sitzenden rechten bürgerlichen Parteien, die, unter vielen, Mussolini mit Vorbehalten gegenüber stehenden bürgerlichen Politikern die Illusion nährten, der Duce könne im Zaum gehalten werden. Mussolini [...] ging erst 1926, in der sein Regime existenziell bedrohenden Matteotti-Krise, zur offenen terroristischen Diktatur über.


Stoiber an der Seite Berlusconis

Berlusconis Verschleierungsmanöver wurden u. a. durch die Haltung der EU begünstigt. Deren Sanktionspolitik gegenüber Österreich war zwar halbherzig und umstritten, stellte aber immerhin eine moralische Verurteilung der Aufnahme der Haiderpartei in die Regierung dar. Daß solche Schritte gegenüber Berlusconi, Fini und Bossi - zusammen in einer Koalitionsregierung weitaus gefährlicher als der Kärntner - unterblieben, mußte der profaschistischen Exekutive in Rom nachgerade einen demokratischen Heiligenschein verleihen. Kräftig an diesem "demokratischen Outfit" mit wirkten die CDU/CSU der Bundesrepublik, samt Medien wie die FAZ oder die Welt. [...] Stoiber [...] übermittelte eine Einladung zum Staatsbesuch in Bayern, der nach Genua demonstrativ eine weitere zum CSU-Parteitag im Oktober in Nürnberg folgte. [...]


Alte faschistische Stoßrichtung

Nach Seattle, Prag und Göteborg fanden in Genua die seit Jahren größten antiimperialistischen Aktionen statt. Es ging nicht schlechthin um Klimaschutz oder Welthungerhilfe. Bereits im Vorfeld des Gipfels zeichnete sich ab, daß mit Massenprotesten gegen die weltweite imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung, gegen NATO-Aggressionen und den Staatsterror [...] in der Welt zu rechnen war. Auf diesem Gipfel agierte erstmals nicht ein parteipolitischer Interessenvertreter des Kapitals in der Rolle des Regierungschefs, sondern mit Berlusconi der reichste Kapitalist des Landes und Medienzar als Verkörperung der Personalunion mit der politischen Exekutive. Stellt man weiter in Rechnung, daß bei Berlusconi die Bewunderung für Hitler und der eigene autoritäre und faschistoide Züge beinhaltende Führungsstil mit hemmungsloser Geltungssucht zusammentreffen, dann war für Genua eine bis dahin nicht gekannte Repression geradezu vorprogrammiert. Dieser Mann, dessen erklärtes Ziel es ist, in Italien "Ordnung zu schaffen" und mit der "Hinterlassenschaft der Linken" aufzuräumen, wollte in Genua demonstrieren, wer Herr im Hause ist. Bereits in Göteborg verkündete er provokatorisch vor den mehrheitlich sozialdemokratischen Regierungschefs, Italien von Kommunisten und Ex-Kommunisten (mit letzteren ist die sozialdemokratische Linkspartei DS, Democratici di Sinatra gemeint) "zu befreien". Im Wahlkampf beschimpfte er Linksdemokraten sowie Zentrumspolitiker der Olivenkoalition als "Stalinisten" und den Ex-Premier der DS Massimo d'Alema im Goebbelsjargonals als einen "alten Bolschewisten", dem er "das Arbeiten beibringen" werde. Die alte faschistische Stoßrichtung kam unverhüllt zum Vorschein. Nicht nur gegen die Kommunisten, deren Partei der kommunistischen Neugründung (PRC) er mit der Wahl aus dem Parlament ausschalten wollte (was mißlang), sondern gegen Sozialdemokraten und bürgerliche Politiker, die sich mit ihnen verbündeten und gegen sein Kabinett opponierten, sollte die Hetzjagd eröffnet, jede Kritik an der Regierung unterdrückt werden - für Berlusconi eine entscheidende Voraussetzung, den in einem weit größeren Maße als bisher vorgesehenen Demokratie- und Sozialabbau durchzusetzen.(5)


Schwarzer Geist in den bewaffneten Kräften

In Genua sollte sicher kein Putsch nach chilenischem Vorbild eingeleitet werden; eher ähnelte das Szenarium dem in den Plänen der Putschloge P2, zu deren "Dreigestirn" genannter Führung Berlusconi gehörte, (6) vorgesehenen Colpo bianco (kalten Staatsstreich). In diesem Klima wähnten offensichtlich viele der im faschistischen Geist groß gewordenen Polizei-Offiziere, die von der Mussolininachfolgepartei Movimento Sociale Italiano (MSI), die sich heute Alleanza Nazionale nennt, Jahrzehnte lang propagierte "Stunde X" der Abrechnung mit den Linken sei gekommen. [...] Das zum Bestand der Armee gehörende kasernierte elitäre Carabinieri-Korps, dessen Einheiten in Genua in "vorderster Linie" an den blutigen Ausschreitungen beteiligt waren, wollte bereits 1964 unter General De Lorenzo, vorher Chef des Geheimdienstes, in Absprache mit der CIA und unterstützt von Faschisten in einem Staatsstreich die Regierung des linken Christdemokraten Aldo Moro stürzen. (7) [...]. 1990 sagte General Serravalle, langjähriges Mitglied des Gladio-Stabes, jener geheimen NATO-Truppe, die sich in Italien haufenweise aus Faschisten rekrutierte, vor einer Parlamentskommission aus, daß ihre Einheiten die Initiatoren der berüchtigten Spannungsstrategie (die in Genua mit der Einschleusung von Polizeiagenten in den sogenannten "schwarzen Block" von Anarchisten eine Neuauflage erlebte) (8) waren, sie sich an allen verfassungsfeindlichen Umsturzversuchen sowie auch an der Ausschaltung Aldo Moros (9) beteiligten und jederzeit bereit standen, zur Verhinderung einer Linksentwicklung auch einen Bürgerkrieg vom Zaun zu brechen.(10) Diese Spannungsstrategie, die angefangen mit dem faschistischen Terroranschlag auf der Piazza Fontana im Dezember 1969 (11) bis in die 90er Jahre hinein hunderte Tote und tausende Verletzte forderte, stellte einen wesentlichen Faktor der Wegbereitung der derzeitigen profaschistischen Regierung dar.


Fini in der Polizeizentrale

Die blutigen Polizeiorgien, die in der nur "Sturmangriff" genannten nächtlichen Operation gegen das Pressequartier in der Dias-Schule und auf das Genueser Sozialforum (GSF) gipfelten, werden von unzähligen Betroffenen und Augenzeugen, darunter Journalisten, Anwälte, Parlamentarier und weitere Politiker, als eine "chilenische Nacht" charakterisiert. Wochenlang wurde darüber von der PRC-Zeitung Liberazione und dem linken Manifesto über das DS-Blatt Unità und das Sprachrohr der Olivenkoalition Repubblica bis zum großbürgerlichen Mailänder Corriere della Sera und weiteren regierungskritischen Zeitungen ausführlich berichtet. Genua war eine "Stadt im Kriegszustand", das Vorgehen der Sicherheitskräfte war "verfassungswidrig", "Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt", lauteten die Einschätzungen. (12)

Berlusconi und sein Repressionsminister Scajola stritten zunächst das blutige Ausmaß der Ausschreitungen ab, leugneten später jede persönliche Verantwortung für die "Übergriffe", wie die faschistischen Orgien verharmlost wurden, und versuchten, das Vorgehen der Polizei zu rechtfertigen. Scajola hatte die Stirn zu erklären, die Polizei habe "ihre Aufgabe würdevoll erfüllt". Vizepremier Fini sekundierte im typisch faschistischen Jargon, die Demonstranten "hätten bekommen, was sie verdienten". Der Antrag der PRC und der Mitte-Links-Opposition, eine parlamentarische Untersuchungskommission einzusetzen, wurde ebenso abgeschmettert wie die Forderung, Scajola abzusetzen.

Die vorliegenden Enthüllungen beweisen, wie u. a. der Corriere berichtete: Berlusconi annullierte den von der vorherigen Mitte-Links-Regierung ausgearbeiteten Einsatzplan für Genua und ließ einen neuen konzipieren, den er bestätigte. [...] Für die geplante systematische Unterdrückung jedweder Proteste spreche auch, daß die berüchtigte Spezialtruppe der GOM eingesetzt worden sei, erklärte die Polizeigewerkschaft der CGIL. Diese, für die Niederschlagung von Gefängnisrevolten zuständige Einheit, führte den "Sturmangriff" auf die Dias-Schule und das GSF-Forum. Die Zeitung Secolo XIX veröffentlichte ein Scajola vor dem Gipfel bekanntes Dossier, aus dem hervorging, daß Hunderte Faschisten sich darauf vorbereiteten, in Genua Provokationen zu starten, um der Polizei Vorwände zum Eingreifen gegen Gipfelgegner zu liefern. Neben der Forza Nuova, deren Führer Roberto Fiore sich bester Beziehungen zur AN rühmt, gehörten die Provokateure den altbekannten MSI-Organisationen Fronte Nazionale und Avanguardia Nazionale an, aus denen heute die Nazi-Skins (wie die Skinheads in Italien sich nennen) ihre Mitglieder rekrutieren. Als Koordinator ihrer Aktionen gilt das Führungsmitglied der AN Teodore Buontempo, ein persönlicher Freund Finis und auch mit den AN-Ministern Tremaglia und Gasparri eng liiert. Die Provokateure [...] konnten unbehelligt von der Polizei wüten. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, daß der Vizepremier sich mit Führungsmitgliedern und Ministern der AN in der Genueser Polizeizentrale aufhielt. Bertinotti hat auf seine parlamentarische Anfrage, was Fini dort während des Gipfels zu suchen hatte, keine Antwort erhalten.

Unter dem Druck der unerwartet starken Proteste mußte der Verfassungsausschuß des Parlaments allerdings eine Ermittlungskommission einsetzen, der jedoch nicht die Befugnisse einer Parlamentskommission wie richterliche Vollmachten oder Gesetzeskraft zustehen. Berlusconi versuchte die Öffentlichkeit durch eine "interne Untersuchung" zu beschwichtigen, mit der er drei Polizeiinspektoren beauftragte, welche die gewünschten Reinwaschungsergebnisse jedoch nicht vorlegen konnten. Zwar versuchten sie, die blutigen Polizeipraktiken herunterzuspielen, mußten jedoch "Mißbrauch" und "grundlose Anwendung von Gewalt" einräumen. Wie sich herausstellte, verschwand auch das gesamte von der Polizei während ihres Einsatzes in der Dias-Schule aufgenommene Video-Material. Über die staatliche Rundfunk- und Fernsehgesellschaft RAI, die dem braccio di ferro (Eisenarm) genannten AN-Minister Gasparri untersteht, wurde eine rigorose Pressezensur verhängt und die Ausstrahlung von Sendungen, welche die blutigen Ausschreitungen der Polizei bewiesen, verboten. Berlusconis "Konsequenzen" aus den "internen Untersuchungen" bestanden lediglich in Bauernopfern, nämlich der Absetzung von drei Polizeikommandeuren aus der zweiten Reihe.


Qualitativer Sprung im antiimperialistischen Kampf

Berlusconis Rechnung ging nicht in der erwarteten Weise auf. In Genua gelang es nicht, die Gipfelgegner zur Aufgabe zu zwingen. Sie ließen sich nicht einschüchtern, sondern formierten sich nach den Knüppelattacken der Polizei zu neuen Protesten. 300.000 demonstrierten am Tagungsort. Insgesamt waren es in ganz Italien danach eine Million Menschen, wenn nicht noch mehr. In der Hauptstadt gingen an der Spitze von etwa 40.000 Demonstranten Bertinotti und die römischen Mitglieder der Nationalen PRC-Leitung. Nach Seattle, Prag und Göteborg wurde Genua zur seit Jahren größten antiimperialistischen Aktion gegen weltweite Ausbeutung und Unterdrückung [...].


Gerhard Feldbauer


aus: Marxistische Blätter 5/2001 (redaktionell leicht geändert und gekürzt)


Anmerkungen:
(1) Der Beitrag geht von der MBl-Flugschrift "Kommt mit Berlusconi ein neuer Mussolini?", Essen 2001, aus und konzentriert sich auf neue Gesichtspunkte, die sich aus den Ereignissen in Genua ergeben.
(2) Siehe ausführliche Berichte in UZ vom 18. Mai, 15. Juni, 27. Juli, 3. und 10. Aug. 2001, deren Grundlage italienische Medienberichte sind.
(3) UZ vom 3.Aug. 2001.
(4) Interview für Liberazione am 24. Juli 2001.
(5) Flugschrift, S. 41 ff.
(6) Beweiskräftig nachgewiesen von Giovanni Ruggeri und Mario Guarino in "Berlusconi, Showmaster der Macht", Berlin 1994. Siehe auch Flugschrift, S. 26 ff. Der Altmeister der italienischen Politologen Giorgio Galli hält die P2 noch heute für existent. Siehe sein Buch "Staatsgeschäfte, Affären, Skandale, Verschwörungen", Hamburg 1994, S. 214 ff.
(7) Anlaß war, daß Moro die Sozialisten, die 1947 zusammen mit der IKP aus der Regierung vertrieben worden waren, wieder in sein Kabinett aufnahm.
(8) Damit wird das eigenständige Auftreten anarchistischer Gruppen, die sich auch gewaltsam gegenüber der Polizei zur Wehr setzten, nicht in Abrede gestellt.
(9) Moro wurde im Frühjahr 1978 von den Brigate Rosse entführt und später ermordet. An der Operation waren in die BR eingeschleuste Geheimdienstagenten beteiligt.
(10) Serravalle, Gerardo: Gladio, Rom 1991, fortlaufend. Siehe auch Feldbauer, Gerhard: Agenten, Terror, Staatskomplott, Köln 2000.
(11) Siehe UZ 27. Juli 2001.
(12) Siehe dazu die in Fußnote 2 angeführten ausführlichen Berichte der UZ.


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