kassiber 46 - Juli 2001

Zur Spitzeldiskussion

Eine Diskussionsveranstaltung


In den letzten zwei Monaten hat es in der göttinger Drucksache eine Reihe von Artikeln zu dem Spitzel-Outing im Januar gegeben. Mehr oder weniger konstruktiv wurde sich damit auseinandergesetzt, wie mit diesem Verdacht umgegangen werden kann. Schnell wurde es wichtig, sich zu einer der zwei Seiten zuzuordnen: zu denjenigen, die es mit dem Outing als Tatsache ansahen, daß sich in unseren Reihen ein Bullenspitzel aufhält, oder zu denjenigen, die dieses erst einmal in Zweifel zogen und auf weitere Fakten harrten. Die Auseinandersetzung nahm auch bald eher Züge einer Abarbeitung als einer Aufarbeitung an - und klarer wurde nicht viel.

Wir vom autonomen infobüro haben selber lange über den Spitzelverdacht diskutiert und überlegt, wie eine konstruktive Diskussion jenseits von Schlammschlacht und Abarbeitung aussehen könnte. So entstand die Idee, eine Diskussionsveranstaltung mit möglichst vielen politischen Gruppen (und Einzelpersonen) zu organisieren, wo eine allgemeine Auseinandersetzung mit Spitzel-Outings stattfinden sollte. Allgemein deshalb, weil ein Defizit an Spitzeldiskussionen immer wieder und längst nicht nur in Göttingen darin besteht, daß sich am konkreten Fall sehr aufgerieben, ein allgemeiner Umgang allerdings kaum klarer wird. Und so die Diskussionen bei jedem Fall wieder und wieder aufs neue stattfinden.

Wir haben am Anfang der Veranstaltung unseren eigenen Diskussionsstand vorgestellt, der in fünf Thesen zusammengefaßt wurde. So sollte die anschließende Diskussion erleichtert werden. Im folgenden soll dieser Diskussionsstand noch einmal dargestellt werden, damit auch eine breitere LeserInnenschaft die Möglichkeit zur Auseinandersetzung hat. Deutlich muß aber auch gesagt werden, daß es nicht DAS Outing gibt und deshalb allgemeine Positionen immer auch an der Realität geprüft werden müssen. Unsere Position, wie wir sie auch in der Veranstaltung vorgestellt haben, ist im folgenden kursiv gedruckt, Diskussionsbeiträge von anderen in Normalschrift. In der Veranstaltung haben wir zwar unseren Stand zuerst komplett dargestellt, die Wortbeiträge haben sich aber immer wieder darauf bezogen, weshalb sie im Artikel hier auch im Kontext dargestellt sind.


1. Die Recherche bei einem Spitzelverdacht muß sehr verantwortungsvoll durchgeführt werden.

Sie bewegt sich zwischen folgenden Polen: einerseits muß bei einem tatsächlichen Spitzel der Schaden für unsere politischen Strukturen möglichst gering gehalten werden, andererseits muß vermieden werden, daß ein falscher Verdacht entsteht. Das bedeutet, daß im Vorfeld gut überlegt werden muß, zu welchem Zeitpunkt der Recherche der Verdacht geoutet wird. Die recherchierende Gruppe (wir halten es nicht für angebracht, dieses Unternehmen als Einzelperson anzugehen) hat eine hohe Verantwortlichkeit zunächst der Szene gegenüber. Es muß genauestens überlegt werden, wer in die Recherche eingebunden wird, damit diese genau durchgeführt werden kann. Dabei ist es wichtig, nicht jedes Mal von neuem zu beginnen, sondern durchaus von anderen Outings (z.B. aus anderen Städten) zu lernen, d.h. sich auch mit diesen auseinanderzusetzen. Die Recherche-Gruppe muß sich der Folgen des Outings bewußt sein und schon deshalb auch die Form des Outings diskutieren. Aus anderen Städten ist bekannt und hat sich vielfach bewährt, ein "stufen- oder schrittweises" Vorgehen bei der Recherche und dem Outing in Erwägung zu ziehen. Das könnte bedeuten, daß die recherchierende Gruppe zunächst einige Basis-Fakten zusammenträgt, um in einem weiteren Schritt Personen/Gruppen hinzuzuziehen, die ihrerseits über zusätzliche Informationen und Fakten verfügen. Bevor nun die Restszene informiert wird, ist es auch denkbar bzw. war in anderen Städten auch erfolgreich, den Spitzel mit dem Verdacht zu konfrontieren (zu Repressionsbefürchtungen siehe weiter unten).

Während der Veranstaltung gab es eine breitere Diskussion darüber, was denn "verantwortungsvoll" bedeutet, wann ein Verdacht geklärt ist, bzw. welche Beweise dafür vorliegen müssen. Die Meinungen gingen in diesen Fragen ziemlich auseinander. Von der Ansicht, hundertprozentige Beweise könne es gar nicht geben, weil sie immer auch gefälscht sein könnten, bis zu der, daß es nicht widerlegbare Beweise geben muß, wurde so ziemlich alles vertreten.

Es gab auch die Meinung, daß eine Recherche erst dann verantwortungsvoll durchgeführt worden sei, wenn vor einem öffentlichen Outing eine zweite, andere Recherche zu dem gleichen Ergebnis kommt.

Einer Meinung konnten sich aber alle anschließen: Die Klärungsphase kann nicht nach dem Outing erfolgen, dieses sei die falsche Reihenfolge, sondern ein öffentliches Outing kann erst nach einer Klärung erfolgen. Im nachhinein ist eine Recherche immer viel schwieriger.

Bevor konkret geoutet wird, halten wir ein Einbeziehen der betroffenen Gruppen/Personen für unerläßlich. Gemeint ist hierbei nicht der Bäcker an der Ecke, wo der Spitzel immer seine Brötchen kauft, sondern sein direktes politisches Umfeld. Zum einen gehen wir davon aus, daß es keineswegs zufällig ist, in welche politische Struktur ein Spitzel gesetzt wird, zum anderen hat er hier wahrscheinlich Informationen bekommen, die für diese Strukturen erhebliche repressive Folgen haben kann.

Um dieses Umfeld abzustecken, ist es notwendig zu wissen, in welchen Strukturen er sich aufgehalten hat. Das muß nicht immer nur eine Gruppe sein, sondern kann durchaus auch verschieden sein. Hier können direktere GenossInnen eine wertvolle Informationsquelle sein.

In der Diskussion wurde aber auch deutlich, daß es durchaus möglich ist, mit wenig Material zu outen, dann muß aber relativ zügig etwas Konkreteres nachkommen. Außerdem müssen zumindest direkter betroffene Gruppen genauer informiert werden.

Eine Gefahr des Einbeziehens von anderen Gruppen vor einer Veröffentlichung wurde aber auch benannt: nämlich die Gefahr, daß gequatscht wird und der Spitzel dadurch im Vorfeld gewarnt wird. Ob dadurch ein Outings allerdings nichtig wird, sei dahingestellt.

Desweiteren ist wichtig, daß sich die outende Gruppe im Vorfeld einer Veröffentlichung Gedanken darüber macht, wie wohl das Outing in der Szene aufgenommen wird - das heißt auch, im Vorfeld einzuschätzen, ob die Informationen reichen, um kein wildes Spekulieren und Zweifeln in Gang zu bringen. Unseres Erachtens läßt sich dieses zwar nicht gänzlich ausschließen, es ist aber in den meisten Fällen möglich, es in etwa einzuschätzen.

Darüberhinaus macht ein Outing nur dann Sinn, wenn es bundesweit geschieht, da sich Spitzel in der Regel erst einmal aus der jeweiligen Stadt verpissen, im Anschluß aber durchaus versuchen, in Szenen anderer Städte erneut unterzukommen. Hier ist ein bundesweiter Austausch unerläßlich. Um ein bundesweites Outing aber sinnvoll zu gestalten, ist es absolut notwendig, Bildmaterial zu besitzen und zu veröffentlichen (gilt auch für die lokale Szene).

Die AkteurInnen einer möglichen Diskussion im Anschluß eines Outings müssen der recherchierenden Gruppe im Vorfeld bewußt sein. Ein Outing muß möglichst so eindeutig sein, daß eine Spaltung der Szene nicht stattfindet. Auf der Veranstaltung wurde gefordert, daß eine größtmögliche Transparenz gegeben sein muß, wie der Vorwurf zustande gekommen ist. Kontrovers wurde diskutiert, ob und wann es notwendig oder sinnvoll sein kann, das Outing mit einem Gruppennamen zu versehen, damit klarer wird, aus welcher Ecke das Outing kommt. Es wurde angeregt, sich auch im Falle von Anonymität einen Gruppennamen zuzulegen, der nur für dieses Outing Gültigkeit hat und auch mit einer Kontaktmöglichkeit versehen werden kann. Dieser Vorschlag entsprang dem Bedürfnis, genauer eingrenzen zu können, wann ein Outing glaubwürdig sei. Es wurde auch gesagt, daß ein Spitzelverdacht keine Frage der eigenen Einschätzung sein darf, sondern eine Frage von Fakten. Daher müsse bei einem Outing entweder ein einschätzbarer Gruppenname drunter stehen, oder es müssen konkretere Beweise für den Verdacht präsentiert werden.

Zur Frage nach Repression gegen die recherchierende Gruppe ist in der Analyse von bisherigen Outings in anderen Städten deutlich geworden, daß es eine direkte Kriminalisierung und Repressalien in Form von öffentlich gewordenen Ermittlungsverfahren etc. nicht gegeben hat (es sei denn, andere "Vergehen" wie Sachbeschädigung oder Körperverletzung hingen mit dran). Eine mögliche Repression sollte daher zwar diskutiert, aber auch nicht überschätzt werden.

Die Form des Outings muß dem Sinn und Zweck der Veröffentlichung angemessen sein. Das heißt, DIE Form des Outings kann es nicht geben. Eine Veröffentlichung wurde aber allgemein begrüßt, auch eine, die über den Szenetellerrand hinausgeht. Zweck einer solchen Öffentlichmachung sei es, daß auch die Öffentlichkeit mitkriegen muß, wie der Bullenapparat funktioniert. Angeregt wurde außerdem, mit Hilfe von Personen aus Parteien Anfragen in Landtagen zu stellen usw., also dahingehend kreativer mit Outings umzugehen. Klar war aber auch, daß das Outing in der eigenen Szene Vorrang haben muß.


2. Bei einem öffentlichen Spitzelverdacht hat die benannte Person bis zur Klärung in linken Strukturen und an Szene-Orten nichts verloren.

Auch wenn Zweifel bestehen an dem Verdacht bzw. dieser noch sehr unkonkret ist, ist es oberste Priorität, die politische Szene vor weiterem Ausschnüffeln zu schützen.

Außerdem bedeutet das auch, daß die Outing-Gruppe mit dem Outing keineswegs ihre Arbeit getan hat, sondern sie muß weiter aktiv bleiben, ihre Verantwortung bleibt bestehen. Auch dieses muß in die Anfangs-Überlegungen mit einbezogen werden. Unter Umständen kann sich die Arbeit dieser Gruppe also längere Zeit hinziehen. Auch wenn der Spitzelverdacht geklärt ist, ist eine genauere Analyse des "Schadens" wichtig. Das heißt, es muß betrachtet werden, welche Informationen der Spitzel tatsächlich gekriegt hat, in welche Strukturen er Einblick bekommen hat, wer seine Zielgruppen und -personen waren usw.

Konsens auf der Veranstaltung war bezüglich dieser These, daß der Umgang mit dem Spitzel nicht alleinige Sache der betroffenen Gruppe sein kann und darf, sondern allgemeiner in der politischen Szene diskutiert werden muß.


3. Die Diskussion um Spitzel muß auf einer politischen Ebene geführt und in einem politischen Zusammenhang betrachtet werden. Persönliche Betroffenheit darf die Diskussion nicht behindern.

Es ist klar, daß jeder Spitzel, der sich längere Zeit schon in einer Stadt aufhält, hier auch persönliche Bezüge hat. Klar ist auch, daß dieses Umfeld schwerer von seiner Spitzeltätigkeit zu überzeugen ist als die Restszene. Trotz dieser Zweifel ist es aber notwendig und wichtig, daß sich alle auf eine politische Diskussion über einen Umgang mit dem Verdacht einlassen. Das bedeutet auch, daß der Spitzel nicht über persönliche Kanäle in politische Diskussionen eingebunden bleibt bzw. so noch weitere Informationen erhält.


4. Die Gefahr durch Spitzel betrifft alle politischen Gruppen und Zusammenhänge. Eine Trennung in "offene" und "geschlossene", in "junge" (gemeint sind unerfahrene) und "alte" (gemeint sind erfahrene) Zusammenhänge dient nur dazu, die eigenen Gruppen und Strukturen zu entlasten.

Es gibt keine Gruppen, die vor Spitzeln gefeit sind. Auch in völlig klandestin arbeitenden Gruppen gab es Spitzel. Wichtiger als die Struktur der Gruppe ist ihr jeweiliger Diskussionsstand zum Umgang mit Spitzeln bzw. zum Umgang mit neuen Leuten. Auch ist es durchaus sinnvoll, Intuitionen, komischen Gefühlen etc. nachzugehen, ohne gleich den Verdacht auf der nächsten Party zu erzählen. Das sollte konsequent erfolgen, um möglichst schnell eine Klärung herbeizuführen, ob die "komischen Gefühle" ihre Berechtigung hatten oder eine Person zu Unrecht verdächtigt wurde. Bei der Lektüre von Texten zu anderen Outings bundesweit wird diese mangelnde Konsequenz immer wieder benannt, weil sie dazu geführt hat, daß tatsächliche Spitzel zu lange in unseren Strukturen geblieben sind.

Spitzeltätigkeit auf bestimmte Strukturen und Menschen zu reduzieren, hat unseres Erachtens nur den Zweck, sich selbst und die eigenen Strukturen von einem solchen Stigma ("war ja klar, daß bei euch...") freizusprechen und nach dem Fingerzeigverfahren auf andere zu deuten.


5. Spitzeldiskussionen müssen kontinuierlich in politischen Zusammenhängen stattfinden.

Der beste Zeitpunkt für eine Diskussion über den Umgang mit Spitzelverdachten ist immer noch derjenige, wenn gerade gar kein konkreter Fall bekannt ist. Insofern wünschen wir uns auch, daß die in letzter Zeit hochgekochten Emotionen in konstruktiverer Weise zu einer allgemeinen Auseinandersetzung führen, die aber nicht mit dem konkreten Fall erledigt ist, sondern darüber hinaus in den einzelnen Gruppen, aber eventuell auch öffentlich weitergeführt wird.

Als Resümee aus der Veranstaltung kann festgehalten werden, daß es zunächst wichtig ist, daß der derzeitige Informationsstand nicht versiegt. Das bedeutet auch, daß eine Zusammenarbeit zwischen Outing-Gruppe und Anti-Atom-Plenum notwendig ist, um den Schaden, den der Spitzel angerichtet hat, in Augenschein zu nehmen.

Ansonsten sind solche Diskussionen wie auf der jetzigen Veranstaltung weiterhin sinnvoll, und es wäre überlegenswert, die begonnene Auseinandersetzung in irgendeiner Form auch weiterzuführen.


autonomes infobüro (März 2001)


Aus: göttinger Drucksache Nr. 394 (13.4.2001)


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