kassiber 46 - Juli 2001

Virtueller Krieg


Ignatieff beschreibt den Kosovo-Krieg als ersten Krieg eines neuen Zeitalters militärischer Auseinandersetzung: Es sei ein "virtueller Krieg" gewesen und bilde das Modell künftiger Kriege, die der Westen führt. (Da seine Virtualität unter anderem auf die hochtechnisierten "Präzisionswaffen" des Westens zurückzuführen ist, könnte sich auch sonst niemand so einen Krieg leisten.)

Den virtuellen Krieg zeichnen laut Ignatieff folgende Merkmale aus:

a) Folgenlosigkeit für die westliche kriegsführende Partei: Dadurch, daß der Krieg nicht mehr zu Opfern auf der eigenen Seite führe, werde er irreal, ein Spektakel am Bildschirm, das nicht mehr als "wirklicher Krieg" empfunden wird. Hier liege eine große moralische Gefahr, denn, so Ignatieff, wenn die eine Seite eines zukünftigen Konflikts von der Wirklichkeit des Krieges und seinen Konsequenzen abgeschottet ist, warum sollte sie sich dann noch Einschränkungen auferlegen?

b) Unter Umgehung der politischen und rechtlichen "Regeln" für einen Krieg wird ein virtueller Konsens geschaffen, der eine politische Absicherung - sei es im Parlament, sei es bei der UNO - ersetzt. Moderne Kriege werden nicht mehr erklärt, sonst müßten sie in den Parlamenten gebilligt werden.

c) Die Virtualisierung des Krieges wird bedingt durch (und bedingt ihrerseits) eine Revolutionierung der Strukturen des Militärs; die modernen Präzisionswaffen machen Bodentruppen und den damit einhergehenden logistischen Apparat tendenziell überflüssig. Die Streitkräfte alten Typs sind "Dinosaurier": Ignatieff beschreibt in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung innerhalb des Militärs selbst um eine Umstrukturierung und "Automatisierung" der Streitkräfte aller Waffengattungen.

"Virtueller Krieg" ist interessant zu lesen, und die Kapitel, die sich mit dem Phänomen eines "Kriegs neuen Typs" und den Dimensionen von Virtualisierung in militärischen Auseinandersetzungen beschäftigen, bieten auch für linke Diskussionen neue Denkanstöße. Politisch bleibt Ignatieff allerdings ganz im bürgerlichen Rahmen stecken. Zunächst einmal ist er kein erklärter Gegner des Kosovo-Kriegs gewesen; die Zweifel, die er bezüglich des Kosovo-Kriegs und der virtualisierten Kriegsführung im Verlaufe dieses Krieges entwickelte, beziehen sich nicht auf das Prinzip, daß "wir" Krieg führen, um Menschenrechtsverletzungen andernorts zu stoppen. Einem erklärten Gegner des Kosovo-Kriegs wäre wohl andererseits auch kaum der Zugang zum Oberkommandanten der alliierten Truppen und zum amerikanischen Sonderbeauftragten für den Balkan gewährt worden. In zwei Kapiteln kann man diesen Herrschaften bei der Arbeit über die Schulter blicken. Zwei weitere Reportagen beschäftigen sich mit der Hauptanklägerin des internationalen Kriegverbrechertribunals und mit den Auseinandersetzungen, die Ignatieff selbst wegen seiner Haltung zum Kosovo-Krieg mit seinen serbischen Freunden führte.

Fazit: Wer bürgerliche politische Rhetorik gut aushalten kann, kann diesem Buch etwas abgewinnen. But if not, not.


Else Stratmann

Michael Ignatieff: Virtueller Krieg. Berlin: Rotbuch, 2001


Inhaltsverzeichnis Kassiber 46
Bezugsmöglichkeiten


zurück!

kombo(p) - 24.10.2001