kassiber 46 - Juli 2001

Elend hinter Gittern


In diesem kleinen Band beschreibt der in den USA lehrende französische Soziologe Loïc Wacquant einige zentrale Veränderungen in den Bereichen Sozial- und Strafrechtspolitik in der westlichen Welt. Sein Thema ist "die Neubestimmung der Aufgaben des Staates, der sich überall aus der ökonomischen Arena zurückzieht und die Notwendigkeit betont, einerseits seine sozialpolitische Rolle zu reduzieren, andererseits seine Möglichkeiten strafrechtlicher Intervention durch eine Verschärfung der Strafmaßnahmen zu erweitern" (S. 8). Dazu zeichnet er den Weg nach, den diese neuen Strömungen genommen haben. Als "Geburtsort" macht er New York aus, wo zum einen am Manhattan Institute mit Charles Murrays "Loosing Ground" (1984) die "Bibel" im "Kreuzzug gegen den Wohlfahrtsstaat" entstand, und zum anderen mit der Zero Tolerance-Strategie der Polizei das "harte Durchgreifen" (inklusive Polizeiübergriffen und Kriminalisierung von Obdachlosigkeit) erstmals in die Praxis umgesetzt wurde. Unter der Überschrift "Die Globalisierung von 'Null Toleranz'" zeichnet Wacquant dann nach, wie die Ideologien von Sozialstaat (böse) und Repression (gut) über Großbritannien in den Rest Europas, aber auch nach Australien, Südafrika oder Brasilien exportiert wurden. Anhand zahlreicher Beispiele (vor allem aus den USA, Großbritannien und Frankreich) zeigt er, daß tatsächlich allerorten die Daumenschrauben angezogen werden, und daß das überall mit denselben Ideologien gerechtfertigt wird. Auch wenn Wacquant an einigen Stellen von der "doxa" und vom "sozialen Raum" fabuliert - womit er zu erkennen gibt, daß er dem Stall von Pierre Bourdieu entstammt und halt doch vor allem Soziologe ist -, gibt er sich ansonsten alle Mühe, nachvollziehbar und am konkreten Gegenstand zu bleiben.

Leider beläßt es Wacquant nicht bei der in weiten Teilen sehr treffenden Analyse von Praxen und Ideologien, sondern macht im letzten Abschnitt eine "historische Entscheidung" auf, vor der Europa stehe: Ob denn auch hier der US-amerikanische Weg gegangen werden solle oder lieber nicht. Der Autor selbst plädiert für die "unverzügliche Schaffung neuer Bürgerrechte [...] und gleichzeitige, offensive Wiederherstellung der sozialen Leistungsfähigkeit des Staates" (S. 149). Ganz Staatsidealist fordert er also, daß die lieben Herrschenden sich doch mal zusammensetzen sollten, um endlich einzusehen, daß das total blöd ist mit "Null Toleranz" und so. Darauf kann er natürlich nur kommen, weil er schon während der vorherigen Analyse nicht die ökonomischen Grundlagen von Sozial- und Strafrechtspolitik analysiert. Stattdessen tut er so, als wären "der Eifer und die Hingabe der transatlantischen Sicherheitsapostel" (S. 53) Schuld an den politischen Veränderungen. Schade eigentlich, aber - wie gesagt - ein trotzdem lesenswertes, da sehr informatives Büchlein.


Allan Leinwand

Loïc Wacquant: Elend hinter Gittern (= raisons d'agir 2). Konstanz: UVK Universitätsverlag, 2000, 170 Seiten



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kombo(p) - 24.10.2001