kassiber 46 - Juli 2001

Indymedia - Widerstand in der Informationsgesellschaft

Kluge, Negt und Enzensberger schmollen



Wie kann ein emanzipatorischer Mediengebrauch aussehen, der die Definitionsmacht der kommerziellen Massenmedien sprengt? Was ist das Neue an Indymedia, und wieso ist es ein so grandioses Mittel des Widerstands in der "Informationsgesellschaft"? Wieso eigentlich "Informationsgesellschaft"?

"Informationsgesellschaft" bedeutet nicht, daß die Gegensätze der Industriegesellschaft aufgehoben wären. Und es bedeutet auch nicht, wie von vielen Postmodernisten kolportiert, daß sich unsere Realität auflöst und alle unsere Erfahrungen nur noch virtuell sind. Wer hungert oder unter Diskriminierung leidet, wer im Knast sitzt oder in ständiger Angst vor Nato-Bomben lebt - dessen Leiden ist real.

"Informationsgesellschaft" bedeutet, daß immer größere Bereiche der gesellschaftlichen Produktion keine greifbaren Dinge mehr herstellen, sondern Werte wie Wissen, Technologie, Image, Know How, Verfahren etc. Vor allem aber bedeutet Informationsgesellschaft, daß immer größere Teile unserer Wahrnehmung nicht von direkter Beobachtung abgedeckt werden, sondern durch Massenmedien und andere Kommunikationsprothesen ersetzt werden. Unser Wissen von der Welt ist von Massenmedien transportiert. Egal ob es um Subcommandante Marcos oder Babsi Becker, ob es um das Weiße Haus oder eine Bambushütte auf der Insel Jolo geht: ohne Massenmedien wüßten wir nichts davon. Die Tatsache, daß die reicheren Länder der Erde tatsächlich als "Informationsgesellschaft" beschrieben werden können, zeigt schon ein Blick auf den geschichtlichen Wandel der Aktionsziele von Aufständen (unabhängig davon, ob sie den Staat von links oder rechts angriffen): Für bürgerliche Revolutionäre war es noch sinnvoll, Theater, Gefängnisse und Universitäten zu besetzen. Später, unter den Bedingungen des Industriekapitalismus, konzentrierten sich Aufständische (proletarische wie reaktionäre und faschistische) auf Bahnhöfe, Fabriken, Telegrafenämter. Heute kennen Umsturzversuche neben dem Parlament fast nur noch ein Zentrum: die Fernsehstation. In den postsozialistischen Auseinandersetzungen (Wilnius, Moskau 1993, Belgrad) wurde um die Fernsehstation fast erbitterter gekämpft als um die offizielle Machtzentrale. Dieser Wandel in den Angriffszielen zeigt deutlich, wie sich der Machtfokus in dieser Zeit verschoben hat, und wie die Informationsmacht zu einer zentralen Instanz in einem modernen Staat geworden ist. Wenn eine emanzipatorische Bewegung das Bewußtsein der Bevölkerung erreichen will, so muß sie die Mechanismen dieser "Informationsgesellschaft" analysieren und angreifen.

Wie funktionieren Massenmedien und wie ihr emanzipatorischer Gebrauch? Moderne kapitalistische Massenmedien funktionieren nach einem einfachen Prinzip: Sie produzieren Information und verkaufen sie dann. Der Wert einer Information bemißt sich also nicht an ihrem Gehalt an Wahrheit sondern an ihrem Marktwert. Der Marktwert aber bemißt sich an vielerlei Kriterien, von denen einige auch von dem System der Massenmedien selbst erschaffen werden: Aktualität, Relevanz für die Zielgruppe, Unterhaltungswert, "Wahrheit", das Vorhandensein von "schönen Bildern" um die Nachricht zu illustrieren, die Eingebundenheit in einen zuvor konstruierten Themenkomplex etc. Sicherlich gibt es auch Momente, in denen gezielt Informationen im Interesse der Mächtigen gestreut und andere unterdrückt werden, aber mit Propagandakategorien ist das Funktionsprinzip der Massenmedien nicht zu fassen. Durch die Auswahl und Formulierung von Nachrichten aufgrund ihrer kommerziellen Verwertbarkeit kommt es zu eigenartigen Gewichtungen, denen ein emanzipatorischer Mediengebrauch entgegentreten muß. So werden zum Beispiel Kriege und Befreiungsbewegungen jahrelang übergangen, um dann plötzlich zu einem Modethema zu werden. Journalisten fallen ins örtliche Hilton ein, legen einen betroffenen Gesichtsausdruck an und berichten der Welt - nach zwei Monaten ist die Sache abgegessen, die Region versinkt wieder in der Bedeutungslosigkeit, der Krieg geht weiter. Das gleiche gilt für innerstaatliche Modethemen - dies können durchaus wichtige Kampagnen sein, wie zum Beispiel die mediale Anti-Nazi-Welle im letzten Sommer, aber auch erzreaktionäre, wie die modische Ausländerhetze der Medien Anfang der Neunziger. Nach kommerziellen Prinzipien funktionierten beide. Emanzipatorischer Mediengebrauch muß diese Modeberichterstattung hinter sich lassen. Wenn ein Hungerstreik für kommerzielle Medien nach 10 Tagen unwichtig wird, weil nichts Neues mehr passiert, so wird er für emanzipatorische Medien mit jedem Tag wichtiger, gerade weil nichts passiert.

Ein weiteres Charakteristikum der modernen Massenmedien ist die Fixierung auf Personen (ein Phänomen, was sich teilweise aus wahrnehmungspsychologischen Kategorien ableiten läßt: Abstrakte Konzepte lassen sich leichter transportieren, wenn man sie mit Gesichtern und Namen verbindet): Dadurch wird Politik auf die Handlungen exponierter Einzelpersonen reduziert, und der Blick auf die, deren Interessen sie vertreten, verstellt. Ins Perverse gerät die Fixierung auf Personen in dem Prominentenkult der Massenmedien. Emanzipatorischer Mediengebrauch muß diese Personenfixierung durchbrechen und jedem einzelnen sein Recht auf mediale Reproduzierung zuerkennen, wo sie wichtig ist. Die Aktivistin, die als eine von 200 festgenommen wird, ist nicht weniger wichtig als der Innensenator himself.


Wo steht Indymedia?

Für eine emanzipatorische Bewegung gibt es verschiedene Möglichkeiten, der Definitionsmacht der modernen Massenmedien zu begegnen. Eine Möglichkeit ist es, gezielt Bilder zu produzieren, den Widerstand zu inszenieren. Besonders in der "Antiglobalisierungsbewegung" wurden hier große Fortschritte erzielt, phantasievolle Aktionsformen schufen mächtige Bilder, die von den kommerziellen Medien mit Eifer übernommen wurden. Eine andere Möglichkeit ist es, selber die Kanäle zu besetzen. Diese Strategie verfolgen linke Zeitungen, freie Radios, Videogruppen und das weltweite Indymedia-Netzwerk. Bei diesen Gruppen werden Nachrichten nicht nach ihrer kommerziellen Verwertung ausgesucht, sondern hier stellen die AktivistInnen selber ihre Darstellung der Ereignisse her. Bei diesen Gruppen muß die Aktivistin nicht abends durch die Programme zappen, hoffend, daß ihre Aktion den kommerziellen Kriterien der bürgerlichen Medien entsprochen hat. Und sie muß auch nicht fürchten, daß diese durch die ideologische Position des Redakteurs, des Senders oder des Konzerns verzerrt dargestellt wird. Diese Gruppen und ihre Vorgängerinnen haben sich der modernen Massenmedien bemächtigt, sobald sie erschwinglich wurden. Zuerst des Flugblatts, dann der Zeitung, der Photographie, später des Radios und der Videotechnik. Heute hat die rasante technische Entwicklung den AktivistInnen das Internet in die Hand gespielt. Mit dieser technischen Neuerung kann der Widerstand eine neue Qualität gewinnen. Die gemeinsame Utopie einer gerechteren und unhierarchisch organisierten Gesellschaft kann heute in den Prozessen einer massenhaften Nachrichtenproduktion abgebildet werden. Darin besteht der revolutionäre Gedanke von Indymedia.


Die traurige Geschichte der Medienutopien

Die Vision ist nicht neu. Eine kleine Geschichte von Medienutopien, die ähnliches wollten, sieht vielleicht so aus: In den sowjetischen Montagefilmen der Zwanziger Jahre entdeckte Walter Benjamin eine radikale Neuerung: Es gab in diesen Filmen keine klassischen "Helden", jedes einzelne Mitglied des Kollektivs konnte in diesen Filmen sein Recht auf Reproduziertwerden beanspruchen, sei es in seinem Arbeitsumfeld, sei es beim revolutionären Kampf. So müßten Filme in einer Gesellschaft aussehen, in der die Produktionsmittel in Hand der revolutionären Massen seien. Gleichzeitig interessierte sich Bertolt Brecht für das noch jüngere Medium des Radios. Er befand es für einseitig, im wahrsten Sinne, und stellte folgende Forderung: "Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein öffentliches Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zusetzen."

Diese beiden Visionen, das Recht auf Reproduzierbarkeit jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft und die Verwandlung des Radios in einen Kommunikationsapparat, sind heute Wirklichkeit geworden. Es besteht kein struktureller Unterschied mehr zwischen dem Computer, der eine Information produziert, und einem Computer, der diese Information empfängt. Die eindeutige Sender-Empfänger-Relation, die in den bisherigen Instrumenten Schreibmaschine - Zeitung, Mikrophon - Radio, Kamera - Fernseher bestanden, sind aufgehoben. Doch wer nun denkt, wir würden damit automatisch in einer besseren Gesellschaft landen, hat sich geschnitten. Die Medienvisionäre, die ihre hohen Erwartungen an das Internet knüpften, die 68er, die die "proletarische Öffentlichkeit" (Kluge/Negt) und einen "emanzipatorischen Mediengebrauch" von den neuen Medien erwartet hatten (Enzensberger, aus dessen "Baukasten einer Theorie der Medien" sich dieser Text übrigens bedient), sitzen in der Ecke und schmollen. Der Grund dafür ist, daß sich die neuen Medien unter kommerzorientierten bürgerlichen Bedingungen entwickelt haben. Der kapitalistische Medienbetrieb ist ein mächtiger und flexibler Mechanismus, der ohne Probleme potentiell emanzipatorische Medien vereinnahmen kann. Jeder Mensch hat heute ein Recht auf seine technische Reproduzierbarkeit. In Talk-Shows werden "ganz normale" Menschen präsentiert, ihr Normalsein stellt geradezu ihren Austellungswert dar. Und trotzdem ist in diesen Sendungen nichts Emanzipatorisches. Das Klientel dieser Sendungen, meist aus Kleinbürgertum und Unterschicht rekrutiert, reproduziert hier unaufgefordert Klischees der Leistungsgesellschaft und hackt aufeinander rum, anstatt Fragen nach den Ursachen ihrer gemeinsamen Misere zu stellen. Genauso ist heute der Unterschied zwischen Sender und Empfänger, zumindest für das Drittel der deutschen Bevölkerung mit Zugang zum Internet, potentiell aufgehoben. Durch den immer weiter verbreiteten Zugang zum Internet kann jeder seinen Beitrag - theoretisch - an ein Millionenpublikum richten. Und trotzdem ist am Internet wenig Emanzipatorisches. In seiner rasanten Verbreitung hat es lediglich die kapitalistischen Bedingungen der Gesellschaft in sich hineinkopiert, nach einer euphorischen Pionierphase wird es heute zum großen Teil von Konzernen dominiert.

Indymedia muß sich mit diesem grandiosen Reinfall eines strukturell egalitären Mediums auseinandersetzen. Und Indymedia muß sich mit dem Problem auseinandersetzen, daß eine einfache Bereitstellung eines Netzwerks, bei dem jeder seine eigene Meinung publizieren kann, noch gar nichts mit einem emanzipatorischen Gebrauch zu tun hat. Diesem Trugschluß sind bereits die Medientheoretiker von 68 aufgesessen. Täglich wird sich Indymedia zwischen potentieller Beteiligung aller und Ausschluß reaktionärer Kräfte, zwischen potentiell unhierarchischer Nachrichtenpräsentation und informationeller Beliebigkeit positionieren müssen. Trotzdem glaubt Indymedia daran, daß es als Teil einer Bewegung, die eine gerechtere Gesellschaft fordert, wichtige Merkmale dieser Vision in sich abbilden kann. Daß es die emanzipatorischen Elemente, die im Medium Internet angelegt sind, herauskitzeln kann. Und schließlich zeigt, daß eine solche Gesellschaft möglich ist.


Das ist Indymedia!

Mit folgenden Merkmalen läßt sich der emanzipatorische Mediengebrauch von Indymedia beschreiben: Indymedia arbeitet nicht zentral gesteuert, sondern dezentral und autonom und ist somit schwerer angreifbar und weniger anfällig für die Herausbildung einer Hierarchie von Führung und Basis. Die modernen Medien machen eine feingliedrige Organisation und massenhafte Produktion möglich, ohne auf Bürokraten oder "Manager" angewiesen zu sein. Damit lebt Indymedia Basisdemokratie. Indymedia kennt auch keine Hierarchie von Sender und Empfänger, Nachrichten werden nicht von Spezialisten akkumuliert und von einer Zentrale verstrahlt, sondern von den Menschen vor Ort produziert, die ihre Darstellung der Wahrheit publizieren. Jeder Empfänger ist potentieller Sender, bei massenhaftem Gebrauch ist damit die Definitionsmacht der bürgerlichen Massenmedien gebrochen und das einseitige Bild der Welt durch die Informationen von unten berichtigt.

Anstatt eine Immobilisierung von isolierten KonsumentInnen zu betreiben, die sich abends im Lehnstuhl das Leid der Welt reinziehen, arbeitet Indymedia an einer Mobilisierung der Massen für eine gerechtere Welt. KonsumentInnen zu AktivistInnen zu ProduzentInnen! Ohne sich dem Aktualitätswahn der Tempogesellschaft anzuschließen, kann Indymedia doch eine zeitgenaue Berichterstattung liefern, wo es zur Mobilisierung sinnvoll ist - z.B. beim Castor-Transport. Indymedia kennt keine modischen Themen, nur wichtige. Wo Menschen ohne Lobby und ohne medial konstruierte "Wichtigkeit" von Repression betroffen sind, wird Indymedia zu ihrer einzigen Verbindung, zu einer großen Öffentlichkeit. Dies hat das Beispiel der Gefangenen von Prag gezeigt. Weil die Infrastruktur von Indymedia von freiwilligen AktivistInnen aufrechterhalten wird, gibt es keine kommerziellen Auswahlkriterien für Nachrichten. Weil die Aktivistin vor Ort ihre Nachricht nicht verkaufen muß, kann sie die reine Wahrheit schreiben - so subjektiv sie sein mag.

In Zeiten der globalen Ausweitung der Kapitalmärkte muß sich Widerstand dagegen auf globaler Ebene organisieren. Das Nachrichtennetzwerk Indymedia ist ein wichtiges Werkzeug dieses Widerstands, da es mit der Definitionsmacht der kommerziellen Medien einen zentralen Machtbereich dieses Systems angreift. Gleichzeitig antizipiert es in seiner Produktionsstruktur die bessere Gesellschaft, für die es kämpft.


Kostja, Indymedia.de, 24.5.2001


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