kassiber 46 - Juli 2001

Die Atomindustrie denkt nicht an Ausstieg
Die Kernenergie und der Klimaschutz



Am Montag, dem 11. Juni 2001, haben in Berlin Vertreter der vier größten Energieversorgungsunternehmen E.ON, RWE, HEW, EnBW und der Bundesregierung den seit etwa einem Jahr auf dem Tisch liegenden sogenannten "Konsensvertrag", mit dem die zukünftige Nutzung der Atomenergie geregelt werden soll, unterzeichnet.
Die Bundesregierung stellt dies als großen Erfolg dar, mit dem der Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergieproduktion besiegelt und somit auch dem gesellschaftlichen Konflikt um die Atomkraft der Boden entzogen worden sei.

Bei der Atomindustrie ist selbst mit der Unterzeichnung des Vertrages kein Wille zum Ausstieg zu erkennen. "Wir glauben an eine Renaissance der Kernenergie", "dieser politisch gewollte Ausstieg ist nicht unumkehrbar", schließlich könne sich "das politische Klima ändern", und der sogenannte Kernenergie-Konsens sei "ein historischer Fehler", stellte der Vorstand der Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW), Manfred Timm, am Donnerstag letzter Woche auf der Bilanzpressekonferenz der HEW - der zukünftigen dritten Kraft auf dem deutschen Energiemarkt - in der Handelskammer in Hamburg fest. Noch fescher formulierte das Günter Marquis, Präsident des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft (VDEW), bei der Vorstellung des VDEW-Jahresberichts 2000 am Montag letzter Woche in Frankfurt: "Der politisch gewünschte Ausstieg aus der Kernenergie steht im Widerspruch zu den Klimaschutzzielen der Bundesregierung" (Financial Times Deutschland vom 29.5.2001). Und auch Gert Maichel, Präsident des Deutschen Atomforums, stellte kürzlich in Dresden fest: "Nach meiner Auffassung hat die Kernenergie auch in Deutschland trotz dieser Vereinbarung noch eine Zukunft", "über die Grundsatzfrage der friedlichen Nutzung der Kernenergie bestehen zwischen der Bundesregierung und der Industrie weiterhin unterschiedliche Auffassungen", in Deutschland werde es "in wenigen Jahren zu einer Neubewertung der Kernenergie mit dem Ergebnis einer weiteren Nutzung kommen".
Die Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz sieht sich im Einklang mit der Anti-AKW-Bewegung, wenn sie feststellt: Tatsächlich sichert der "Konsensvertrag" den Stromkonzernen durch Subventionen und politische Garantien auf Jahrzehnte kostengünstigen und ungestörten Weiterbetrieb der bestehenden Atomkraftwerke - gegen den Widerstand der Bevölkerung. Alle Druckmittel für einen Ausstieg - wie z.B. Auflagen in Sicherheitsfragen und deren Verschärfung, die Einhaltung des Entsorgungsnachweises, eine realistische Erhöhung der Deckungsvorsorge für den Fall einer Katastrophe oder die Besteuerung des Brennstoffs Uran und der milliardenschweren Entsorgungsrücklagen (z.B. haben die großen Energieversorger wie RWE oder E.ON für Entsorgung und Abriß von stillgelegten Atomanlagen geschätzte 70 Milliarden Mark angelegt) - hat die Regierung aus der Hand gegeben. Das wird von den VertreterInnen der Atomindustrie freudig begrüßt. Der Vertrag bildet so die Grundlage für das Weiterlaufen der Atommeiler, für die jetzt in großen Umfang stattfindenden CASTOR-Transporte und für den Neubau von Atomanlagen, den sogenannten "Zwischenlagern".
Dieser "Konsensvertrag" macht deutlich, daß die rot-grüne Regierung sich bei der Wahl zwischen ökonomisch-politischen Machtinteressen und unseren Lebensbedingungen zugunsten der Machtinteressen entschieden hat. Mit dieser Haltung sind weder ihre ehemals geäußerten Vorstellungen noch die Vorstellungen der Anti-AKW-Bewegung zu vereinbaren.
Mit der Liberalisierung des Energiemarktes zieht sich die Regierung also sukzessive aus der gesellschaftlichen Verantwortung für die Energieversorgung zurück und überläßt sie verstärkt dem Markt. Ohne die frühere und weitere Subventionierung des Atomstromes könnte dieser nicht als preisgünstigste Energieform angeboten werden und die Atomindustrie auf diesem Markt ökonomisch nicht überleben. Der "Konsensvertrag" hat also primär nicht etwas mit Ausstieg aus der Atomenergieproduktion zu tun, sondern macht die Atomenergiekonzerne fit für den liberalisierten Markt.
Die massenhaften und entschiedenen Protestäußerungen gegen die Atomtransporte und gegen die Genehmigungen von sogenannten "Zwischenlagern" lassen erkennen, daß die Anti-AKW-Bewegung sich durch die Ausstiegsinszenierung der Bundesregierung nicht hat irreführen lassen. Die gemeinsame Forderung ist nach wie vor: Sofortiger Ausstieg, und das weltweit! Nur das kann die Grundlage sein, über die Probleme, die durch die Atomenergieproduktion hinterlassen werden, gemeinsam und verantwortlich nachzudenken. Bis dahin werden wir nicht umhin kommen, den Betrieb der Atomanlagen auch praktisch zu behindern und zu versuchen, ihre Stilllegung zu erreichen. Dazu bieten sich in nächster Zeit eine große Anzahl von Atomtransporten in die Wiederaufbereitungsanlagen La Hague und Sellafield sowie in die Atomlager Gorleben, Ahaus und Greifswald, die Hexafluorid-Transporte nach Gronau zur Herstellung des Atombrennstoffes und die vielen Erörterungstermine zur Genehmigung der "Zwischenlager" an.
Anstelle weiterer guter Argumente wollen wir hier einige im Jahre 1976 aus dem Erörterungsverfahren zum AKW Brokdorf gezogenen Schlüsse zitieren (1):

"Die Bevölkerung hat einerseits das Recht, gegen den Bau ... Einspruch zu erheben, andererseits ist mit den Bauvorhaben ... bereits begonnen [heute heißt es: mit der im Konsensvertrag zugesicherten Genehmigung der Zwischenlager, die Autoren] und damit versucht worden, vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Erörterung dient nur dazu, der Bevölkerung ein demokratisches Mitentscheidungsrecht vorzutäuschen, obwohl der Bau schon lange beschlossen ist."

"Die Vertreter der Behörde waren ... von dem Interesse her, das sie vertraten, nicht in der Lage, im Interesse der Bevölkerung zu erörtern. Da es nicht ihr Interesse war, sich wirklich ernsthaft mit den Einwendern auseinderzusetzen, versuchten sie, Termine so reibungslos und so lautlos wie möglich abzuziehen."

"Die Vertreter der Atomindustrie ... versteckten sich hauptsächlich hinter dem Strahlenschutzgesetz und dahinter, daß sie mit dem Bau von Atomanlagen nicht gegen ´demokratische Gesetze' verstoßen."

"Weiter haben wir gelernt, uns nicht allein auf Gesetze, Gerichte, Behörden, auf richtige Argumente, auf gute Anwälte, auf ´offene Ohren' bei einzelnen Richtern oder auf Versprechungen von Politikern zu verlassen ... - sondern hauptsächlich auf die Kraft, die hinter der Geschlossenheit und Entschiedenheit vieler Menschen steht."


Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz, Bremen (MAUS e.V.)
Tel./Fax: 0421-342974 * mausev@t-online.de * http://home.t-online.de/home/mausev Bankverbindung: Postbank Hamburg, BLZ: 200 100 20, Konto-Nr.: 443331-209 Postadresse: MAUS, Richard Wagner Straße 22, 28209 Bremen


Anmerkung:
(1) Aus der Erklärung zum Erörterungstermin in Wilster vom 16.3.1976 in dem Buch der BI Umweltschutz Unterelbe: "Brokdorf: Der Bauplatz muß wieder zur Wiese werden" (ISBN 3-88032-047-0)


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kombo(p) - 24.10.2001