Ein Auszug aus - kassiber 45 - Mai 2001

Interview mit Rechtsanwältin Bettina Scharrelmann zu Vergewaltigungsprozessen

Wie eine gegenseitige Anklage


Bettina Scharrelmann beschäftigt sich seit Beginn ihres Jurastudiums mit dem Thema sexualisierte Gewalt. Sie arbeitete bei entsprechenden Anwältinnen und absolvierte eine Ausbildungsstation im Sonderdezernat für Sexualdelikte der Staatsanwaltschaft. Seit dreieinhalb Jahren ist sie Rechtsanwältin in Bremen und vertritt seitdem betroffene Frauen. Das Interview wurde Mitte März von einer Frau aus der Redaktion geführt.

kassiber: Sie verfolgen Prozesse, die mit sexualisierter Gewalt zu tun haben, seit mehr als 12 Jahren. Wie viele von den Prozessen, in denen Sie selbst die Nebenklage vertreten haben, haben Sie gewonnen?

Bettina Scharrelmann: "Gewinnen" ist ein problematischer Begriff. Hat man "gewonnen", wenn es zu einer Verurteilung gekommen ist? Bei einem Prozeß kläre ich zunächst mit meiner Mandantin, was ihren Wünschen nach erreicht werden soll. Das versuche ich dann mit den juristischen Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen. Der Maßstab für die Einschätzung des Prozesses ist dann, zu sehen, inwieweit wir unsere Vorstellungen umsetzen konnten.

kassiber: Die Frage war mehr statistisch: Kommt es der Erfahrung nach in der Mehrzahl der Fälle zu Freisprüchen oder zu vergleichbar sehr milden Strafen?

Bettina Scharrelmann: Die überwiegende Zahl der Fälle, die ich erlebt habe, führte schon zur Verurteilung. Die Strafhöhe ist eine andere Frage. Die Mandantinnen haben oft eine unrealistisch hohe Vorstellung von der Strafhöhe; da besteht dann Klärungsbedarf. Ich muß dazu sagen, daß ich nicht unbedingt viel von Gefängnisstrafen halte, auch wenn ich das in Fällen von Sexualdelikten fordere. Schon allein, damit das Verhältnis zu anderen Straftatbeständen gewährleistet ist. In Bezug auf Freiheitsstrafen ist Bremen darüber hinaus eine Besonderheit; hier werden nur sehr selten und ungern Freiheitsstrafen ohne Bewährung ausgesprochen. Das ist in anderen Bundesländern härter.

kassiber: Generell oder nur bei Vergewaltigungsfällen?

Bettina Scharrelmann: Ich denke, auch generell. Das wirkt sich eben auch auf diese Verfahren aus - sozusagen die Ausnahme, wo es vielleicht ab und zu angenehmer wäre, nicht in Bremen zu sein.

kassiber: Ist nicht schon die gesetzlich geforderte Mindeststrafe bei einer Vergewaltigung eine längere Freiheitsstrafe?

Bettina Scharrelmann: Eine Freiheitsstrafe, ja. Aber die Möglichkeit der Bewährung gibt es auch bei Vergewaltigung, weil die Mindeststrafe zwei Jahre beträgt. Und erst ab zwei Jahren und einem Tag wäre eine Aussetzung auf Bewährung nicht mehr zulässig. In manchen Verfahren wird allerdings so lange gerechnet, gebastelt und begründet, bis eine Freiheitsstrafe von exakt 2 Jahren herauskommt.

kassiber: Wie kommt eine konkretes Strafmaß zustande?

Bettina Scharrelmann: Bei der Strafzumessung müssen strafmildernde wie strafschwerende Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Zunächst wird der Schweregrad des Delikts festgestellt - z.B. nach der angewendeten Brutalität, der Dauer usw. Auch das Nachtatverhalten spielt eine große Rolle. Ganz wichtig ist die Frage, ob es ein Geständnis gibt. Angeklagte machen oftmals kein Geständnis, jedenfalls nicht im Ermittlungsverfahren. Aber es kommt vor, daß in der Hauptverhandlung ein Geständnis gemacht wird. Das wird dann extrem strafmildernd berücksichtigt - was auch richtig sein kann, wenn es der betroffenen Frau erspart, daß sie vor Gericht aussagen muß. Oftmals kommen aber die Geständnisse auch erst nach der Aussage zustande, wenn die Angeklagten und ihre Verteidiger sehen, daß die Aussage der Frau vom Gericht als überzeugend aufgenommen wurde. Aber auch das wirkt strafmildernd.

kassiber: Wie ist es mit Alkohol?

Bettina Scharrelmann: Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, daß der Angeklagte nach §21 vermindert schuldfähig ist, dann muß gemildert werden.

kassiber: Wenn die Frau Alkohol getrunken hat, gilt das dann aber eher andersherum - als Indiz für ihre Unglaubwürdigkeit?

Bettina Scharrelmann: Bisweilen wird die Verteidigung in einem solchen Fall behaupten, die Erinnerungs- oder die Wahrnehmungsfähigkeit der Frau sei durch den Alkoholeinfluß gestört. Die Frage ist dann aber, wie das Gericht damit umgeht.

kassiber: Ist es aber letztlich nicht immer so, daß der Genuß von Alkohol oder anderen Drogen, oder z.B. ein psychiatrisches Gutachten, sich beim Angeklagten stets als entlastend auswirkt, während es die Frau eher belastet - schon einfach durch die Verteilung der Positionen im Prozeß?

Bettina Scharrelmann: Es kommt darauf an, wie man das wahrnimmt. Ich habe das Gefühl - so wie Sie jetzt fragen -, daß die Frau als Gegenüber des Angeklagtem wahrgenommen wird. So wird es auch oft in Verhandlungen aufgebaut: wie eine gegenseitige Anklage. Das schlägt sich auch in gewissen Sprachunsicherheiten nieder, z.B. daß die Geschädigte als "Angeklagte" bezeichnet wird usw. Sie ist aber kein Gegenüber. Wenn es so wäre, käme man leicht dazu, von der Behandlung der einen Seite darauf zu schließen, daß auch die andere Seite so behandelt werden darf. Man sollte dazu kommen, den Prozeß und die Rollen im Prozeß anders zu verstehen: Wenn es im Prozeß ein Gegenüber gibt, dann ist es die Gesellschaft, vertreten durch die Staatsanwaltschaft. Damit wird die Frau auch entlastet, z.B. von dem oft von der Verteidigung vorgebrachten Argument, sie wolle nur Rache nehmen für irgendetwas anderes.

kassiber: Bei der Beobachtung des TOROS-Prozesses hatte ich das Gefühl, die Frau sei eigentlich die Angeklagte, mal ganz abgesehen von dem Versprecher des Richters. Ist das oft so?

Bettina Scharrelmann: Zum TOROS-Prozeß selbst kann ich nichts sagen - alles, was ich darüber weiß, habe ich nur aus der Tagespresse. Aber es gibt Verteidiger, deren Strategie genau das ist. Ich erlebe in letzter Zeit ganz häufig Prozesse, in denen die Angeklagten nichts sagen. Dann kommt es zu einer sehr starken Konzentration auf die Frau. Und in nicht wenigen Verfahren kommt da schon das Gefühl auf, die Frau sitze auf dem Prüfstuhl. Irgendwie tut sie das auch. Sie ist eben auch das wichtigste "Beweismittel" - diejenige, die das erlebt hat. So hat ihre Aussage sehr großes Gewicht.

kassiber: Ist das nicht die schlaueste Strategie aus Sicht der Verteidigung, ihren Mandanten schweigen zu lassen und zu versuchen, die Frau auseinanderzunehmen?

Bettina Scharrelmann: Diese Strategie kann schon sehr wirkungsvoll sein, muß aber nicht. Alles hängt sehr stark davon ab, wie das Gericht damit umgeht. Dieselbe Strategie kann auch genau das Gegenteil bewirken, denn das Gericht bekommt keinerlei Eindruck von dem Angeklagten, so daß es bisweilen auch gerade deshalb zu höheren Strafen kommt.

kassiber: Läuft die Art des bisherigen Umgangs mit Sexualdelikten aber nicht darauf hinaus, daß es in den meisten Fällen gar nicht erst zu einer Anklage kommt, und falls doch, so oft doch nicht bis zum Prozeß - z.B. weil Aussage gegen Aussage steht?

Bettina Scharrelmann: Meiner Meinung nach kommt es heutezutage in der Mehrzahl der Fälle schon zu einer Anklage. Zu dem sogenannten "Aussage-gegen-Aussage"-Delikt möchte ich aber gern etwas sagen. Ich höre das momentan von der Verteidigung ganz häufig, und so ist auch teilweise die Rechtsprechung. Als gäbe es nur zwei einander widersprechende Aussagen und sonst nichts. Das stimmt aber oftmals nicht. Mal abgesehen davon, daß Frauen oftmals Verletzungen haben - es gibt Kriterien, nach denen man für sich überprüfen kann, was von den Aussagen wahr ist und was nicht. Der Wortlaut der Aussagen, die Logik des Handlungsablaufs, die Art des Erzählens, auch der persönliche Eindruck, den man sich macht von dem Angeklagten. Meist spricht auch die Geschichte selber für sich.

kassiber: Letztlich hängt aber alles davon ab, was der Richter für eine Vorstellung von "normal" und "nicht normal" hat, was er für glaubwürdig hält und was nicht?

Bettina Scharrelmann: Von seinem Fachwissen, würde ich mal sagen. Ja.

kassiber: Na, das ist ja nicht nur Fachwissen. Ein Richter urteilt ja auch vor dem Hintergrund seiner in dieser Gesellschaft erworbenen Wertmaßstäbe. Schon allein bei der Beurteilung der Fähigkeit von Frauen, über solche Erlebnisse überhaupt zu reden, und dann in welcher Form. Bestimmte, in dieser Gesellschaft weit verbreitete Klischees üben doch sicher auch auf den einen oder anderen Richter ihren Einfluß aus: das Klischee vom "normalen Vergewaltiger" als fremdem Mann, der eine Frau in einsamer Dunkelheit plötzlich überfällt und sie dabei möglichst noch (fast) umbringt. Oder von der "normalen Frau", die sich wahnsinnig stark wehrt, wenn ein Mann sie sexuell belästigt, aber unfähig ist, Zeichen sexueller Zuneigung von sich zu geben - so daß es für den Mann letztlich nur die Probe auf's Exempel geben kann, um herauszufinden, ob die Frau will oder nicht ...

Bettina Scharrelmann: Es gibt schon auch ein Fachwissen, das z.B. aus der Beratungs- und Therapiearbeit mit betroffenen Frauen kommt oder aus Forschungsarbeiten zum Bereich der Traumatisierung. Allgemein habe ich leider den Eindruck, daß es bei Richtern oft keine große Bereitschaft gibt, sich im Bereich sexuelle Gewalt fortzubilden - im Vergleich zu anderen Bereichen. Zwar spielen nach meiner Erfahrung die Klischees, die Sie gerade genannt haben, heute keine Rolle mehr. Aber manchmal werden Auffassungen vertreten, die längst veraltet und vor dem heutigen Wissen gar nicht mehr haltbar sind. Zum Beispiel höre ich immer noch ganz häufig die Frage an die Frau, warum sie die Vergewaltigung denn erst so spät angezeigt hätte, als würde in einer verspäteten Anzeige ein Indiz gegen den Wahrheitsgehalt der Aussage der Frau gesehen. Dabei fühlen sich die wenigsten Frauen in der Lage, direkt nach der Tat die Polizei zu rufen und alles zu erzählen.

kassiber: Früher hat man den Frauen oft empfohlen, sich möglichst nicht zu wehren, um das eigene Leben zu retten. Wird jetzt von den Frauen verlangt, sich mit allen nur zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren, wenn sie nicht später vor Gericht unglaubwürdig wirken wollen?

Bettina Scharrelmann: Es gab 1997/98 eine Reform des sogenannten Sexualstrafrechts. Damals gab es die Diskussion, ob man das Tatbestandsmerkmal "mit Gewalt" herausnehmen sollte. Es ist dann zwar doch dringeblieben, aber die früher sehr hohe Anforderung an den Gewaltbegriff ist heruntergesetzt worden. Früher gab es z.B. einerseits die Debatten um Sitzblockaden, die als Gewalt definiert wurden, während es bei Vergewaltigung erst zu Körperverletzungen kommen mußte, ehe man von Gewalt sprach. Diese Diskrepanzen sind nicht mehr so stark. Nach wie vor wird aber ein Kraftaufwand seitens des Täters oder eine Bedrohung vorausgesetzt. Das bekannte "Nein heißt nein!" reicht also vor Gericht nicht aus. Wenn die Frau nur "nein" gesagt hat, aber nicht festgehalten wurde, dann gilt das juristisch nicht als Vergewaltigung. Die Frau muß sich aber nicht körperlich wehren. Zwar taucht trotzdem immer mal wieder die Frage auf, warum die Betroffene sich nicht gewehrt hat. Aber das führt nach meiner Erfahrung nicht dazu, daß ein Täter nicht verurteilt wird. Bei Erfahrungen aus Prozeßbeobachtungen während meiner Ausbildung hatte ich eher noch das Gefühl, daß es so war. Jetzt aber meine ich, hat sich das geändert: es gibt heute ein höheres Bewußtsein dafür, daß das unter Umständen nicht so leicht ist.

kassiber: Eine Frau, die vergewaltigt wurde, hat im Prozeß die Rolle einer Zeugin und ggf. Nebenklägerin. Als solche wird sie vernommen und hat kein Aussageverweigerungsrecht. Sie muß den Tathergang noch einmal schildern. Sie muß dem Täter gegenübersitzen und womöglich noch zusätzlich einem früheren Vergewaltiger, weil der als Zeuge im Prozeß geladen wurde. Sie wird psychisch begutachtet, ihr Lebenslauf wird nach "pikanten" Details durchforstet, und es wird öffentlich ausgewalzt, welche sexuellen Neigungen sie hat oder nicht hat. Selbst ihr Körper wird nicht selten Gegenstand von Kommentaren und Bewertungen. Und das alles auch noch im Beisein des Täters... Betroffene Frauen beschreiben das häufig wie eine weitere Vergewaltigung. Wäre es da nicht sinnvoll, die Position der betroffenen Frau im Prozeß grundlegend zu stärken?

Bettina Scharrelmann: Ich bin zunächst davon überzeugt, daß das Prinzip richtig ist, einem Angeklagten seine Schuld beweisen zu müssen, statt von ihm den Beweis seiner Unschuld zu fordern. Aber ich habe vorhin schon gesagt, daß ich mir bei den Gerichten manchmal mehr Fachwissen in Bezug auf sexualisierte Gewalt wünsche. Genauso ist es in Hinsicht auf die Rechte der Nebenklägerin: Sie sind den Gerichten oft wenig bekannt, obwohl sie in der StPO verankert sind. Das ist ein Gebiet, das noch relativ neu ist gegenüber den Rechten des Angeklagten. Ich habe oft erlebt, daß diese grundlegenden Rechte der Nebenklage im Prozeßverlauf, sozusagen im Eifer des Gefechts, einfach vergessen werden. Dann ist es wichtig, daß die Nebenklagevertretung eingreift und sagt, halt, so geht das nicht: Daß z.B. Fragen gestellt werden, die den persönlichen Lebensbereich betreffen und mit der Tat eigentlich überhaupt nichts zu tun haben. Ich habe oft das Gefühl, daß das Gericht erst anfängt, über seine Fragen nachzudenken, nachdem ich eingegriffen habe.
Also auch in diesem Bereich ist Fortbildung wichtig. In Bezug darauf, daß es diese Rechte gibt, und daß die auch begründet sind. Daß überhaupt jede Zeugin Rechte hat, und daß die mindestens genauso stark sein müssen wie die des Angeklagten in bestimmten Bereichen. Denn die betroffene Frau hat eh schon Schweres erlebt, und von ihr wird ohnehin schon ein sogenanntes "Sonderopfer" verlangt, daß sie nämlich aussagen muß. Von daher müssen ihre Schutzrechte besonders stark sein und mindestens so groß wie die des Angeklagten.

kassiber: In Bremen ist durchgesetzt worden, daß die Staatsanwaltschaft in solchen Prozessen von Frauen vertreten wird.

Bettina Scharrelmann: Das stimmt so nicht: In Bremen gibt es zwar das Sonderdezernat für Sexualdelikte, das die Akten bearbeitet. In den Verhandlungen erscheinen dann aber oft andere Anwälte als Sitzungsvertreter.

kassiber: Würde es Ihnen denn sinnvoll erscheinen, generell ein aus Frauen bestehendes Gericht für solche Prozesse zu fordern? Oder zumindest, daß der Vorsitz von einer Frau geführt wird?

Bettina Scharrelmann: Ob ein ausschließich von Frauen besetztes Gericht verfassungsrechtlich zulässig wäre, ist fraglich. Ganz zu schweigen von der Durchsetzbarkeit. Was von manchen Frauen als unangenehm empfunden wird, ist, von einem Mann befragt zu werden - das könnte dafürsprechen, vorsitzende Frauen zu haben oder zumindest eine weibliche Befragungsperson. Wobei das in der Hauptverhandlung in der Regel nicht mehr so wichtig ist wie bei der ersten Aussage bei der Polizei. Dort ist es extrem wichtig. Im Gericht sind die Frauen einfach nicht mehr so alleine. Aber eine paritätische Besetzung des Gerichtes fände ich nicht schlecht. Nur Frauen im Gericht - da muß bedacht werden, daß auch Männer (zumindest als Angeklagte) am Prozeß mit teilnehmen, mit denen auch umgegangen werden muß. Und daß Männer damit auch aus der Verantwortung genommen werden.

kassiber: Ist es vorstellbar, daß eine Frau unter den heutigen Umständen gar nicht erst eine Anzeige macht - oder eine gemachte Anzeige später zurückzieht, weil sie Angst hat vor so einem Prozeß?

Bettina Scharrelmann: Mit Sicherheit. Die meisten Frauen haben zunächst ganz große Angst vor der Verhandlung, auch ganz große Angst vor dem Verteidiger, daß der sie auseinandernimmt. Und ganz oft wird das, was es an rechtlichen Schutzmöglichkeiten schon gibt, gar nicht ausgenutzt, ja es ist überhaupt nicht bekannt. Dazu kommt dieser Mythos vom "Aussage-gegen-Aussage-Delikt", der weit verbreitet ist und die Frau oft davon abhält, eine Anzeige zu machen, weil sie denkt, es gibt doch keine weiteren Zeugen, und wer soll mir denn da glauben. Und es gibt noch weitere solcher Mythen. Natürlich beruhen sie auch teilweise auf Erfahrungen, aber sie spiegeln doch nicht hundertprozentig die Realität wider. Deshalb habe ich den Presserummel um das TOROS-Verfahren auch sehr zwiespältig beobachtet. Da war so eine Angstmache dabei: "Frau, laß dich bloß auf kein Verfahren ein!". So was finde ich schlimm. Natürlich ist so ein Verfahren für jede Frau eine Belastung. Aber wenn einzelne Verfahren dazu führen, daß ganz grundsätzlich so reagiert wird, finde ich das schlimm. Man kann nicht von vornherein sagen, das ist der absolute Horror, so ein Strafverfahren.

kassiber: Der TOROS-Prozeß fällt da aber ganz offensichtlich aus der Reihe.

Bettina Scharrelmann: Ich denke, daß er schon deswegen aus der Reihe fällt, weil dort viele Frauen sitzen und sich das angucken, und weil der Prozeß als abschreckendes Exempel verallgemeinert wird. Und da bin ich sehr skeptisch, ob das so richtig ist.

kassiber: Wie sind denn Ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit?

Bettina Scharrelmann: Bei Teilen einer Gerichtsverhandlung ist es möglich, die Öffentlichkeit ausschließen zu lassen, also auch die Presse. Ich nutze oftmals in Absprache mit meiner Mandantin diese Möglichkeit für die Zeit ihrer Aussage. Warum? Zum einen ist die Frage, wer da eigentlich im Zuschauerbereich sitzt - oft sind das ja auch Freunde oder Verwandte des Angeklagten, und entsprechend kann die Frau Angst haben vor Repressionen. Zum anderen ist es überhaupt eine Belastung, vor so vielen Menschen erzählen zu müssen - egal, wer das ist. Oft ist das meiner Meinung nach um so leichter, je weniger hinten sitzen. Zum Beispiel das TOROS-Verfahren: Ich würde mir persönlich nicht wünschen, daß solche Sachen über mich in der Zeitung stehen. Ich weiß nicht, wie die betroffene Frau dazu steht, aber es scheint mir schon eine schwierige Situation.

kassiber: Beim TOROS-Prozeß scheint die Öffentlichkeit, und auch die Presse, von der Frau aber eher als Schutz vor dem Gericht und vor dem Charakter des gegenwärtigen Verfahrens empfunden zu werden.

Bettina Scharrelmann: Ich habe nicht den Eindruck, daß das in diesem Verfahren irgendetwas bringt.

kassiber: Das kann ja auch an dem Verfahren liegen. Die UnterstützerInnen bieten nach meinem Eindruck der Frau eine - auch gewünschte - Sicherheit. Ihre Anwesenheit soll zeigen, daß sie nicht allein ist.

Bettina Scharrelmann: Natürlich ist das die individuelle Entscheidung jeder einzelnen Frau. Aber ich habe da Bedenken. Was die Presse angeht, ist die Frage, was da alles abgedruckt wird, und in Bezug auf die Öffentlichkeit, ob sie wirklich einen Schutz bietet. Von der Presse wünsche ich mir auf jeden Fall mehr Informiertheit, auch wenn man nicht erwarten kann, daß sich Journalisten ständig über alles Juristische auf dem Laufenden halten. Aber wenn jemand einen Bericht schreiben und auch politische Einschätzungen usw. liefern will, kann man auch ein gewisses Hintergrundwissen verlangen. Das kann man sich ja auch erfragen.

kassiber: Da wir jetzt doch beim TOROS-Prozeß angelangt sind, frag ich noch ein bißchen weiter dazu: Meinen Informationen nach ist die erste Vernehmung der betroffenen Frau im TOROS-Prozeß fünf bis sechs Stunden lang gelaufen, und die Betroffene mußte sich erst ein ärztliches Attest holen, um eine kürzere Vernehmungsdauer zu erwirken.

Bettina Scharrelmann: Das ist vollkommen ungewöhnlich, muß ich sagen. Es gibt bisweilen Vernehmungen, die länger als eine Stunde dauern, aber Vernehmungen einer Geschädigten von fünf Stunden Dauer habe ich noch nicht erlebt.

kassiber: Darüber hinaus ist es der Verteidigung gelungen zu erzwingen, daß die betroffene Frau zu jedem Prozeßtermin erscheinen muß. Selbst während der sog. "Zeugen"aussage des Mannes, den sie vor Jahren wegen Vergewaltigung angezeigt hatte, mußte sie dabeisein.

Bettina Scharrelmann (lacht leicht entsetzt): Fürchterlich ist das, wenn ich das so höre. Es gibt den Grundsatz, daß das Gericht die Fürsorgepflicht hat - und damit die Verantwortung für die Wahrung der Rechte aller Verfahrensbeteiligten. Also auch für die Wahrung der Rechte der betroffenen Frau. Es ist nicht der Regelfall, daß die Frau während des ganzen Verfahrens dabei ist - von so etwas höre ich jetzt zum ersten Mal. Es ist so, daß die Frau als Nebenklageberechtigte das Recht hat, die ganze Zeit dabei zu sein. Die meisten Frauen nehmen das aber nicht in Anspruch, sondern es gibt in der Regel ein bis zwei Vernehmungen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist es auch möglich, in der Hauptverhandlung den Angeklagten für die Zeit der Vernehmung der Geschädigten auszuschließen, so daß sie ihm nicht gegenübersitzen muß. Was die Dauer einer Vernehmung betrifft, so ist ganz klar, daß wenn die Frau sagt "Ich kann jetzt nicht mehr" auch eine Pause eingelegt wird. Das Gericht ist dazu verpflichtet.

kassiber: Möchten Sie zusammenfassend zu diesem Thema noch etwas sagen?

Bettina Scharrelmann: Es gibt mittlerweile Zeugenschutzrechte und auch aktive Beteiligungsrechte für die Geschädigten. Aber es muß da noch einiges verbessert werden, ehe diese Rechte wirklich so erstarkt sind, daß es nicht mehr zufällig ist, ob sie in einem Verfahren angewandt werden oder nicht. Zumal die Verfahren gerade dadurch angstbesetzt bleiben - wenn auch bisweilen über ein realistisches Maß hinaus. Es darf einfach nicht dem Zufall überlassen werden, wie so ein Verfahren abläuft.


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kombo(p) - 16.05.2001