Ein Auszug aus - kassiber 45 - Mai 2001

Ein Zwischenbericht

Ein ganz 'normaler' Vergewaltigungsprozeß?


In Bremen findet seit Mitte Januar 2001 vor dem Landgericht ein Vergewaltigungsprozeß statt, der viel Beachtung in der Öffentlichkeit findet. Angeklagt sind zwei Angestellte eines Imbisses, die im Sommer 2000 im Keller desselben eine Frau mehrfach vergewaltigt haben. Nach der Anzeige durch die Frau wurden die beiden Täter aufgrund des dringenden Tatverdachts und der schweren Beweislast (unter anderem aufgrund einer DNA-Analyse eines Täters) direkt in Untersuchungshaft genommen.

Die Frau tritt im Prozeß als Nebenklägerin auf. Ende Februar 2001 wurden die beiden Täter nach gut sieben Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Einer der beiden ist seitdem nicht mehr zum Prozeß erschienen, sein Aufenthaltsort ist unbekannt.


Die Stimmung im Gerichtssaal

Der Verlauf des Prozesses erscheint vor dem Hintergrund der relativ klaren Sachlage, die sich aus den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ergibt, auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar. Jeder Prozeßbesucherin wird jedoch innerhalb kürzester Zeit klar, welche Stimmung durch Richter und Verteidigung im Gerichtssaal erzeugt wird und wie dies konkret den Verlauf der Verhandlung bestimmt. Während der Beisitzende Richter Harms herablassend, albern und hämisch agiert, zeichnet sich der Vorsitzende Richter Oetken zusätzlich dadurch aus, daß er unaufmerksam, sachlich meist inkompetent und intellektuell äußerst wenig eindrucksvoll ist. Eine solch miserable Verhandlungsführung ist an sich schon ein unerträglicher Zustand in einem Prozeß, in dem es um massive Gewalterfahrungen und die daraus resultierende schwere Traumatisierung einer Person geht.

Die tatsächlichen Verhandlungsleiter in diesem Vergewaltigungsprozeß sind jedoch die beiden Verteidiger Erich Joester und Stefan Jenkel. Mit ungebrochener Selbstgefälligkeit und Arroganz fallen sie der Staatsanwältin wie der Nebenklagevertreterin permanent ins Wort, machen sie aus ihrer sexistischen Grundhaltung heraus lächerlich und versuchen - subtil oder auch ganz offen -, ihnen ihre Kompetenz abzusprechen. Zwischen den beiden Richtern und den beiden Verteidigern besteht ein unausgesprochener, aber nichtsdestotrotz sehr offensichtlicher Männerbund, der sich in genervten Blicken, verständnisvollem oder beifallsheischendem Zugrinsen, gemeinsamem Lachen und mehr oder weniger gut inszenierter Empörung über die Fragen und Strategie der Staatsanwältin oder Nebenklagevertreterin äußert. Die Kommunikation und Verständigung im Gerichtssaal findet nahezu ausschließlich zwischen diesen vier Männern statt - Staatsanwältin und Nebenklagevertreterin werden nur beachtet, wenn sie sich das Wort erkämpft haben oder als Projektionsfläche hämischer und polemisierender Angriffe benutzt werden können. Die Aggressionsbereitschaft der männlichen Prozeßteilnehmer ist außerordentlich hoch und kommt in quasi jeder Interaktion mit den anwesenden Frauen zum Ausdruck. Diese Stimmung wird hier so ausführlich beschrieben, weil sie weit über das hinaus geht, was aus manchen anderen Vergewaltigungsverfahren schon bekannt ist. Die Richter versagen hier nicht nur gänzlich an ihrer Aufgabe, einen unparteilichen und zumindest nach rechtsstaatlichen Spielregeln fairen Prozeß zu gewährleisten, sondern schlagen sich immer deutlicher auf die Seite der Verteidigung und damit auf die der Täter.

Die junge Staatsanwältin Piontkowski erscheint in diesem Szenario in einigermaßen schlechtem Licht. Das tut sie einerseits aufgrund der frauenfeindlichen Grundstimmung im Gerichtssaal und weil sie persönlich den souverän vorgetragenen Unverschämtheiten der Verteidiger nicht gewachsen ist. Andererseits wirkt sie aber dafür, daß sie immerhin Staatsanwältin in einem Sonderdezernat für Sexualdelikte ist und ausschließlich solche Anklagen vertritt, inhaltlich häufig blank, juristisch schlecht vorbereitet und ohne erkennbare Strategie. Auch sind von ihr keine qualifizierten Aussagen über die Traumatisierung von Vergewaltigungsopfern zu hören. Und schon gar nicht über die Auswirkungen dieses Traumas auf das Erinnerungsvermögen einer vergewaltigten Frau, die vor allem damit beschäftigt ist, den schweren Angriff auf ihre Integrität zu überleben. Die unwürdigen Befragungen der betroffenen Frau läßt sie meist unkommentiert geschehen und reagiert nur dann scharf, wenn ihre eigene Behörde und Ermittlungsbeamten in die Kritik geraten.

Die Nebenklagevertreterin, also die Anwältin der betroffenen Frau, verfügt formaljuristisch in dem Prozeß über die wenigsten Rechte. Auch sie tut sich angesichts der beschriebenen Konstellation im Gerichtssaal schwer. Es bleibt jedoch zu hoffen, daß sie sich über die Vorgänge im Prozeß eher radikalisiert als zurückzieht.


Die Zerstörung der Glaubwürdigkeit

Die Strategie der Verteidigung ist es, die Glaubwürdigkeit der Frau komplett zu demontieren. Dafür ist ihnen schlichtweg jedes Mittel recht. In ihren Befragungen der betroffenen Frau als Hauptbelastungszeugin wird die Respektlosigkeit und Verachtung der Verteidiger gegenüber Opfern sexualisierter Gewalt offensichtlich. Sie wird über ihre Gewohnheiten befragt, über eventuelle Gewalterfahrungen, über ihre Familie und Vergangenheit im allgemeinen, über ihre Beziehungen und ihre lesbische Lebensentscheidung im besonderen. Ohne Ende ergehen sich die beiden Inquisiteure in Unterstellungen, interpretieren Aussagen um oder ergänzen sie unzulässig durch subjektive Bewertungen. Erinnerungslücken der Zeugin bezüglich des konkreten Tathergangs, deren Gründe in der Traumatisierung liegen, werden zu Widersprüchen umdefiniert.

Hier können in aller Kürze nur einige wenige der vielen Beispiele aufgezeigt werden.

Von Beginn des Prozesses an stand im Mittelpunkt, daß die Frau in der Tatnacht Alkohol konsumiert hatte. Die diesbezüglichen Aussagen der Frau nehmen die Verteidigung und mittlerweile auch das Gericht zum Anlaß, die Glaubwürdigkeit der Frau in Bezug auf ihre Aussagen über den konkreten Tathergang der Vergewaltigung grundsätzlich anzuzweifeln. Aufgrund ihres vermuteten Blutalkoholwertes zum Tatzeitpunkt unterstellen sie ihr zudem Wahrnehmungsstörungen.

Knapp einen Monat nach Verhandlungsbeginn 'bescheinigte' der - senile und medizinisch inkompetente - gerichtliche Alkoholgutachter Jobst von Karger der betroffenen Frau aufgrund der Nebennierenerkrankung AGS eine Hormonstörung. Diese sogenannte Hormonstörung führt seiner Behauptung nach zu "groben psycho-physischen Auffälligkeiten" und - insbesondere nach Alkoholeinfluß - zu Wahrnehmungsstörungen. In der Folge, so der Gutachter, empfände die Frau alles als Vergewaltigung, wobei sie aber selbst "triebhaft" und "sexuell pervers" sei.

Das Adreno-Genital-Syndrom (AGS) ist eine gängige Diagnose der Schulmedizin für Menschen, die nicht in die herrschenden Definitionsmuster von den zwei Geschlechtern passen und die damit die Konstruiertheit der Zweigeschlechtlichkeit offensichtlich machen.

Der 76jährige von Karger, der vor Jahrzehnten auch Schädelvermessungen und die entsprechenden 'Forschungen' bei sogenannten Straftätern durchführte, nahm in seiner Einlassung bereits die Verurteilung der betroffenen Frau wegen Falschaussage vorweg. Gleichzeitig regte er an, sie nach § 20 StGB für schuldunfähig aufgrund "krankhafter seelischer Störungen und Abartigkeiten" zu erklären. (Dieser Paragraph würde bei einer gerichtlichen Feststellung einer Psychiatrisierung Tür und Tor öffnen.)

Daß von Karger auf Antrag der Staatsanwältin und der Nebenklagevertreterin wegen Befangenheit drei Wochen später (!) vom Prozeß ausgeschlossen wurde, ist zwar mehr als angemessen, liegt aber nicht am Inhalt seiner Unterstellungen, sondern daran, daß er so ungeschickt war, sie als "Fakten" statt als Thesen darzustellen. Sein Ausschluß vom Verfahren wird nichts an der Tatsache ändern, daß sich seine abstrusen Behauptungen in den Köpfen der Richter und der beiden SchöffInnen festgesetzt haben.

An diesem Tag offenbarte sich die ganze heterosexistische und lesbenfeindliche Dimension des Prozesses bisher am deutlichsten - sie ist jedoch jeden Verhandlungstag in ihrer Grundsätzlichkeit spürbar.


Eine weiterer Vergewaltiger

Im weiteren Prozeßverlauf setzte die Verteidigung Joester/Jenkel durch, daß als Entlastungszeuge im Sinne der Anklage der ehemalige Taxifahrer X aus Bremerhaven geladen wurde, der die betroffene Frau vor neun Jahren vergewaltigt hatte. Die Frau hatte ihn damals angezeigt, das Verfahren war aber eingestellt worden, weil Aussage gegen Aussage stand. Weder dem Einwand der Staatsanwältin noch der Nebenklagevertreterin gegen die Zeugenvorladung von X wurde von den Richtern stattgegeben. Und so sah sich die betroffene Frau in der unerträglichen Situation, nicht nur den beiden aktuellen Tätern auf der Anklagebank, sondern zusätzlich einem früheren Vergewaltiger im Zeugenstand gegenüber sitzen zu müssen. Der Täter bestreitet die Vergewaltigung nach wie vor und versucht, sie in einen Akt gegenseitigen Einverständnisses umzulügen. Ziel der Verteidigung war es, durch die Aussage dieses Vergewaltigers die Glaubwürdigkeit der Zeugin weiter zu erschüttern und das Bild einer Frau entstehen zu lassen, die Männer 'verführt', um sie dann hinterher der Vergewaltigung zu beschuldigen. Der Täter, der von den Richtern und den Verteidigern mit großer Sorgfalt behandelt wurde und sich weinend als Opfer präsentieren konnte, wurde vom Gericht als glaubwürdig eingestuft. Daß die betroffene Frau in allen Punkten seiner Aussage widerspricht, wurde nicht dem Täter, sondern ihr zur Last gelegt.

Unmittelbar nach der Aussage des ehemaligen Vergewaltigers X beantragten die Verteidiger die Aufhebung der Untersuchungshaft für ihre beiden Mandanten, da insgesamt erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin aufgekommen seien und damit der "dringende Tatverdacht" gegen die Anklagten hinfällig sei.


Die Freilassung der Angeklagten

Am 28. Februar entspricht das Gericht dem Antrag der Verteidiger und hebt die Haftbefehle der beiden Täter auf. In ihrer Begründung formulieren die Richtern immer wieder die ihrer Auffassung nach zunehmende Unglaubwürdigkeit der Zeugin. Sie sehen Widersprüchlichkeiten zwischen ihren Aussagen und verschiedenen Entlastungszeugen der Verteidigung, die alle Kontakt zu den Tätern hatten oder haben. Dennoch werden deren Aussagen als wahr unterstellt. Keine einzige Aussage anderer Belastungszeugen im Sinne der Anklage wird gewürdigt. Dem angenommenen Blutalkoholwert der betroffenen Frau zur Tatzeit und ihren diesbezüglich angeblich falschen Aussagen messen die Richter in der Freilassungsbegründung große Bedeutung zu. Zudem äußern sie Zweifel hinsichtlich der "Nachhaltigkeit und Erkennbarkeit ihres Abwehrverhaltens". Auch die Aussage des Vergewaltigers aus Bremerhaven wird in der Freilassungsbegründung besonders gewürdigt. Da sich die betroffene Frau in den wesentlichen Angaben zum Tathergang kein einziges Mal widersprochen hat, müssen die Richter in ihrer Begründung etliche Nebenschauplätze eröffnen, die mit der Tat nichts zu tun haben, um die Unglaubwürdigkeit der Zeugin behaupten zu können. Vor diesem Hintergrund kann die Freilassung der beiden Täter aus der Untersuchungshaft als Vorentscheidung der Richter in Bezug auf das von ihnen zu fällende Urteil gesehen werden.

Bereits zum nächsten Verhandlungstag erscheint der durch die DNA-Analyse schwerer belastete Angeklagte nicht mehr. Der Antrag der Staatsanwältin Piontkowski auf Erlaß eines Haftbefehls gegen diesen Täter, gegen den in der Zwischenzeit auch ein neues Verfahren wegen Vergewaltigung und Körperverletzung eingeleitet wurde, wird vom Gericht abgelehnt.

Die Geschädigte in diesem neuen Verfahren ist die Ex-Lebensgefährtin des Angeklagten, die von ihm geschlagen und vergewaltigt wurde. Sie wird als Zeugin geladen. Mittlerweile will sie jedoch nicht mehr aussagen - vermutlich hat sie große Angst vor dem Täter. Die Staatsanwältin versucht diese für sie sehr wichtige Zeugin unter Druck zu setzen, um sie zur Aussage zu bewegen. Prozeßtaktisch ist dies nachvollziehbar, jedoch funktionalisiert auch sie damit die betreffende Frau und beweist einmal mehr ihr äußerst mangelndes Einfühlungsvermögen in die Lebensrealität einer Person mit Gewalterfahrungen. Der Verteidiger Joester ist logischerweise äußerst daran interessiert, daß die Ex-Lebensgefährtin über die Gewalttaten seines Mandanten schweigt und ihr ein Aussageverweigerungsrecht zugestanden wird. Die Richter sind im Gegensatz zu anderen Verfahren, in denen ZeugInnen ihr Recht auf Aussageverweigerung in Anspruch nehmen wollen, sehr bemüht, der Frau die Möglichkeit zu eröffnen, nicht aussagen zu müssen. Endgültig wird darüber nach der Fortsetzung des Prozesses Mitte April entschieden.

Dieser Vergewaltigungsprozeß ist ein grausames Erlebnis und er ist es zuallererst für die betroffene Frau. Nicht nur, daß im Gerichtssaal der Traumatisierung durch die erlittene Gewalttat weder menschlich noch juristisch Beachtung verliehen wird. Die Frau muß zusätzlich erneut die Erfahrung machen, daß ihr ihre Wahrnehmung abgesprochen, ihre Grenzen übertreten, ihre Intimsphäre verletzt, ihren Aussagen nicht geglaubt wird. Selbst auf den Zuhörerinnenbänken ist diese Situation kaum zu ertragen.

Dennoch ist dieser Prozeß nur ein - wenn auch extrem komprimierter - Ausdruck der (hetero)sexistischen Gewaltverhältnisse. Er ist ein Ausdruck davon, wie sehr Gewalt tabuisiert wird, wie parteilich diese Gesellschaft gegenüber den Tätern und wie verletzend sie gegenüber den Opfern ist.

Die US-amerikanische Psychiaterin Judith Lewis Herman, die jahrzehntelang mit den Überlebenden häuslicher, sexualisierter und politischer Gewalt gearbeitet hat, drückt diese Situation so aus: "Die Versuchung, sich auf die Seite des Täters zu schlagen, ist groß. Der Täter erwartet vom Zuschauer lediglich Untätigkeit. Er appelliert an den allgemein verbreiteten Wunsch, das Böse nicht zu sehen, nicht zu hören und nicht darüber zu sprechen. Das Opfer hingegen erwartet vom Zuschauer, daß er die Last des Schmerzes mitträgt. Das Opfer verlangt Handeln, Engagement und Erinnerungsfähigkeit. (...)

Die ersten Verteidigungstaktiken des Täters sind Geheimhaltung und Schweigen. Wenn Geheimhaltung nicht mehr möglich ist, greift der Täter die Glaubwürdigkeit des Opfers an. Wenn er das Opfer ganz und gar nicht zum Schweigen bringen kann, sorgt er soweit wie möglich dafür, daß dem Opfer niemand zuhört. Zu diesem Zweck bietet er ein erstaunliches Arsenal an Argumenten auf, von offenkundiger Ableugnung der Tat bis hin zu ausgefeilten und feinsinnigen Rationalisierungen. Nach jeder Gewalttat sind die gleichen Ausreden zu erwarten: Es ist nie geschehen; das Opfer lügt; das Opfer übertreibt; das Opfer ist selber schuld (...)."

In ein juristisches Verfahren die Hoffnung zu legen, daß hier den Opfern zugehört und geglaubt wird und die Täter zum Reden gezwungen und angemessen sanktioniert werden, mag emotional verständlich sein. Realistisch ist es nicht.

Dafür, daß die Täter sich nicht mehr sicher fühlen können und die Opfer nicht mehr schweigen müssen, sondern gehört werden und ihnen geglaubt wird - dafür werden wir selbst sorgen müssen. Wo und auf welche Weise auch immer.


Xenia Toledo, eine Prozeßbeobachterin


Anmerkung
(1) Judith Lewis Herman: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, München 1998, S.18.

Infos zum Prozeß
FrauenLesbenladen Mafalda, Kreuzstraße 29, Tel./Fax: 0421-702781 (donnerstags 18-20 Uhr)
www.uni-bremen.de/~femref
e-mail: prozessinfo@gmx.de

Spendenkonto für Prozeßkosten und Öffentlichkeitsarbeit
Verein zur Förderung der Kommunikation unter Frauen e.V., Kontonummer 1681873, Sparkasse Bremen (BLZ 290 501 01)



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kombo(p) - 16.05.2001