Ein Auszug aus - kassiber 45 - Mai 2001

Kein Stammheim am Bosporus!

Die Türkei übernimmt die europäische Gefängnisnorm


Sicherlich, nach wie vor gibt es Mißstände, auf die man energisch hinweisen muß, aber: Die Türkei demokratisiert sich. Politiker sagen es und die Zeitungen schreiben es fast täglich. Mit einem "konkreten EU-Beitrittsprozeß", "starken demokratischen Anreizen" und der "Abgleichung des Rechtssystems", so Kanzler Schröder, will Deutschland die Europäische Union in der Türkei Realität werden lassen. Auch in den Gefängnissen. 71.000 Gefangene gibt es in der Türkei. 46.000 sind aus politischen Gründen verurteilt, davon ca. 13.000 als Mitglieder linker türkischer und kurdischer Organisationen. Die immer wieder blutige und tödliche türkische Gefängnisrealität entspricht nicht dem europäischen Standard. Alle wissen das. Das soll jetzt anders werden: sauberer, ziviler - weg von dem in der Türkei bislang üblichen System der Großzelle, hin zur europäischen Gefängnisnorm. Dafür gibt es eine neue Sprache, neue Haftprogramme, neue Gefängnisse. Die politischen Gefangenen in der Türkei erwartet damit jetzt das, was die "wehrhafte Demokratie" in Deutschland, aber auch in Frankreich oder Spanien, schon länger praktiziert: Hochsicherheitstrakte, Isolationsflügel und Einzelhaft - den Zustand einer Gesellschaft erkennt man an ihren Gefängnissen. [...]


Das Gesetz

Seit dem Militärputsch 1980 sind die Gefängnisse der Türkei Schauplätze grausamster Folter, aber auch Orte unzähliger Widerstandsaktionen und Hungerstreikkämpfe gegen den alltäglichen Terror. Nach dem Putsch wurden 650.000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet. Gegen 210.000 von ihnen wurde Anklage erhoben und 65.000 wurden verurteilt. Von über 500 Todesurteilen wurden 50 vollstreckt. Mehr als 460 Gefangene starben in Folge von Mißhandlungen, Folter und Hungerstreiks.

1991 antwortete der Staat auf den Überlebenskampf der Gefangenen, auf ihre kollektive Selbstorganisation in den Gefängnisblöcken mit einem neuen Gesetz. Aber nicht die Überbelegung, die katastrophalen hygienischen Verhältnisse, der vollständige Mangel an medizinischer Versorgung, die Übergriffe der Wärter und Soldaten sollten beendet werden. Der Angriff auf die Selbstorganisation in den Großzellen, den letzten Schutz der sozialen und politischen Identität der Gefangenen, war eines der Ziele des neuen Anti-Terror-Gesetzes: "Diejenigen, welche gemäß diesem Gesetz verurteilt sind, haben ihre Strafe in speziellen Gefängnissen zu verbüßen, deren Zellensystem für Einzelhaft oder maximal drei Personen vorgesehen ist. Verurteilten Gefangenen soll jeglicher Kontakt und die Kommunikation mit anderen Verurteilten untersagt bleiben."

Im Sommer 1991 wurden über hundert Gefangene mit Gewalt in das umgebaute Hochsicherheitsgefängnis von Eskisehir verschleppt. Die Presse zeigte Bilder blutig geschlagener Gefangener, die Angehörigen protestierten. "Weiße Särge" nannten die Gefangenen nach den ersten Wochen in Eskisehir die neuen Isolationszellen und antworteten mit Hungerstreiks und Barrikadenbau. Ein erster kurzer Sieg wurde errungen: Eskisehir wurde vorerst für politische Gefangene wieder geschlossen.


Das Jahr der Toten

Der 4. Januar 1996: Die politischen Gefangenen im Istanbuler Ümraniye-Gefängnis verweigerten den morgendlichen Zählappell. Ihr Protest richtete sich gegen ständige Provokationen und tägliches Schlagen und Schikanieren durch Polizei- und Militärkräfte. Ein paramilitärisches Sonderkommando der Gendarmerie, Polizei und Gefängniswärter stürmten daraufhin die Zellenflügel; erst mit Wasserwerfern, dann mit Ketten, Eisenstangen und Knüppeln. Drei Gefangene wurden totgeschlagen, mindestens 65 weitere schwer verletzt. Der Protest weitete sich aus, Hungerstreiks begannen, Knasthöfe wurden besetzt. Im Bayrampasa-Gefängnis und in Buca setzten Gefangene Justizbeamte und Wärter fest. In Stadtvierteln von Istanbul begannen Solidaritätsaktionen. Spezialeinheiten der Polizei verhafteten mehr als 300 Angehörige der Gefangenen von Ümraniye und griffen die Beerdigungen der getöteten Gefangenen an. Metin Göktepe, Journalist der Zeitung Evrensel, wurde solange geprügelt, bis er bewußtlos am Boden lag. Polizisten schleppten ihn weg. Nachts wurde er in einem Park tot aufgefunden. Der spätere Autopsiebericht nannte als Todesursache Blutgerinnsel im Kopf und eine gebrochene Rippe in Folge von Schlägen. Der Polizeichef erklärte, Metin Göktepe sei beim Verhör vom Stuhl gefallen. Der Justizminister erließ kurz darauf die neue Richtlinie über die "Verhinderung unvorhersehbarer Ereignisse" in den Gefängnissen. Die Verordnung sah Isolationshaft für politische Gefangene sowie eine Kontaktsperre für "führende Persönlichkeiten verbotener Organisationen" vor. Das Besuchsrecht für die Gefangenen in den 47 Sondergefängnissen ("E-Typ") wurde eingeschränkt oder völlig abgeschafft. Am 21. Mai antworteten Tausende Gefangene nahezu aller linken Organisationen mit einem Hungerstreik. Zentrale Forderungen: Keine neuen Verlegungen, Schließung der Isolationstrakte, Verbesserung der Lebens- und Versorgungsverhältnisse, Anerkennung der Gefangenenräte in der Kommunikation zwischen Knast und Gefangenen, keine Übergriffe gegen Angehörige. Zwischen dem 63. und 69. Tag des Hungerstreiks starben 12 Gefangene. Der verlustreichste Kampf politischer Gefangener in der Türkei endete nach 70 Tagen mit der Unterschrift staatlicher Vertreter unter ein Zwei-Punkte-Papier: Zugesichert wurde die Einschränkung der Verlegungen, der zweite Punkt lautete: "Bezüglich der berechtigten menschlichen und rechtlichen Forderungen der Gefangenen werden in kürzester Zeit die erforderlichen Maßnahmen zu deren Umsetzung in die Praxis ergriffen."

Das Jahr der Toten: Am 24. September wurden 37 PKK-Gefangene im Pausenraum des Militärgefängnisses Nr. 5 von Diyarbakir eingeschlossen. Stunden später ermordete ein Spezialkommando der Gendarmerie und Polizei zehn Gefangene und verletzte weitere 27 schwer. Wieder wurden mit Eisenstangen die Schädel zertrümmert.


Das Isolationsregime

Im Handbuch der türkischen Gefängnisverwaltung steht: "Terroristen sollen nicht miteinander kommunizieren. Denn wenn ein Terrorist nicht kommuniziert, dann stirbt er wie ein Fisch an Land. ...Wird ein Terrorist ausgetrocknet, indem seine geistigen und ideologischen Quellen abgeschnitten werden, dann stirbt seine revolutionäre, das heißt zerstörerische Seite."

Am 28. Februar 1997 begann das Justizministerium auf Anordnung des Nationalen Sicherheitsrates (MGK) den Bau von weiteren Isolations- und Einzelzellen. Im offiziellen Bericht an die 12. Konferenz der Gefängnisdirektoren Europas (Straßburg, 26.-28.11.1997) bedauerte die Türkei die Existenz des Großzellensystems, da es "ein förderliches Klima für Straftaten politischer Gefangener biete".

Auf einer anschließenden Pressekonferenz am 29. September 1997 gab das Justizministerium zynisch-abwiegelnd bekannt, die Isolationszellen seien "...ausschließlich für Homosexuelle, Bisexuelle, Personen deren Leben gefährdet sei, Personen, die das Alleinsein bevorzugen, Gefangene mit ansteckenden Krankheiten wie Hepatitis, Tuberkulose und Aids, durch andere Insassen abgelehnte Gefangene, Psychopathen, Geisteskranke, 'Zellenbosse' und deren Mafia-Mitglieder vorgesehen". Zusätzlich kündigte das Justizministerium die Ausarbeitung "spezieller psychologischer Erziehungsprogramme" an.

Am 6. Januar 2000 kündigte das Justizministerium mit dem "F-Typ"-Dekret an, binnen der nächsten Monate die Verlegung der politischen Gefangenen in die bereits fertiggestellten Einzelzellen zu vollziehen.

Um die Öffentlichkeit gegen das neue Isolationsregime und dessen Folgen für die Gefangenen zu mobilisieren, legte im Mai der IHD-Menschenrechtsverein seinen Report "Lautlose Schreie: Zellen" vor. Danach stehen von den geplanten elf Isolationsgefängnissen ("F-Typ") bereits sechs in Sincan (Ankara), Bolu, Edirne, Izmir, Kocaeli und Tekirdag für jeweils 386 Gefangene kurz vor der Inbetriebnahme und sind ausschließlich für Verurteilte nach dem Anti-Terror-Gesetz vorgesehen. Weiter wurden bislang in insgesamt 37 "E-Typ"-Hochsicherheitsgefängnissen und in 17 Spezialgefängnissen Abteilungen in Einzelzellen umgewandelt. Laut Regierungsplänen sollen nach Beendigung aller Umbauten insgesamt 5.000 Gefangene in die neuen "F-Typ"-Zellen verlegt werden. [...]


Die Gefängniszivilisation

[...] Die geltende Exekutionsbestimmung der türkischen Rechtsordnung sieht vor, daß Abdullah Öcalan früh morgens beim ersten Sonnenstrahl barfuß und im weißen Hemd gehängt wird. Die offenen Faschisten in der Regierung, die MHP-Partei, wollen dafür noch immer eine Volksabstimmung und erst danach die Todesstrafe abschaffen. Der Sozialdemokrat Ecevit will das gleich, weil er weiß, daß ein toter Abdullah Öcalan die Waffen der Guerilla wieder sprechen lassen kann. Er will die soziale Hygiene: Einzelzellen, Amnestieangebote gegen Reue und Kollaboration, Wegschließen auf ewig statt dem Galgen, der rohen Gewalt aufgerissener Füße und gequetschter Gelenke am "Palästinenserhaken". Der letzte Gesetzentwurf sieht vor, daß Todesstrafen generell durch lebenslanges Zuchthaus ersetzt werden: ausdrücklich für den Rest des Lebens, ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne Chance auf Entlassung oder Gnade. "Schlimmer als der Tod" muß es sein, betonte der Regierungsbeauftragte Anfang Juli. Damit scheinen dann auch alle einverstanden: "In europäischen Diplomatenkreisen in Ankara ... überwog die Befriedigung darüber, daß der Reformprozeß zur Abschaffung der Todesstrafe endlich begonnen hat." (Tagesspiegel, 6.7.2000)


Imrali

Ein einziger Gefangener, 13 Quadratmeter-Zelle, künstliches Licht, weiße Wände, 24-stündige Kameraüberwachung, Dauereinschluß, täglich eine Stunde Hof auf 40 Quadratmetern im Betonkäfig, militärisches Wachpersonal, eine Stunde pro Woche Anwaltsbesuche bei vollständiger akustischer und optischer Überwachung, Angehörigenbesuch eine Stunde im Monat, Kopie aller Gesprächsnotizen vor und nach Besuchen, Postzensur und streng limitierter Zugang zu Radio und Zeitungen: das ist Imrali, militärischer Sperrbezirk. Patrouillenboote der Kieler HDW-Werft sichern die Gefängnisinsel im Marmarameer.

Das Programm der Sonderhaft gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan lautet systematischer Reizentzug, genannt: sensorische Deprivation, durch Totalisolation. Erste Ergebnisse sind der Verlust des Geschmacks- und Farbempfindens, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, dazu chronisches Asthma, erklärten seine Anwälte im Juni.

Der US-Psychologe und CIA-Berater McConnell 1970 über den Sinn solcher Maßnahmen: "Wir haben nur zwei Möglichkeiten, wenn wir Menschen, Ratten oder Flachwürmer erziehen - wir können sie entweder belohnen oder bestrafen. Sensorische Deprivation, mit einem ausgeklügelten System von Belohnung und Strafe kombiniert, läßt uns eine fast absolute Kontrolle über das Verhalten eines Individuums errichten. Die Techniken der Verhaltenskontrolle lassen selbst Wasserstoffbomben wie ein Kinderspielzeug aussehen."

Zuvor trainierte McConnell zwei Jahrzehnte Plattwürmer, in einem Labyrinth nur auf weißen Strichen entlang zu kriechen und - entgegen ihrem natürlichen Verhalten - nicht in dunkle Zonen auszuweichen. Für jede Abweichung wurden die Würmer mit Elektroschocks bestraft. Die Strafe war nicht zu früh und nicht zu spät zu verabreichen, sonst prägten die Würmer sich nicht ein, wofür sie bestraft wurden. [...]


Die "Luxuszellen"

"Seht her!" schreit das Massenblatt Sabah am 24. Juni auf Seite 1: "Luxushotel im Gefängnis: Wandteppiche, Handys, 30-Kanal-Fernseher, Kühlschrank, parfümierte Klimaanlage" und zeigt Fotos der Mafiazellen im Gefängnis von Kartal. Die Öffentlichkeit soll glauben, daß Kartal das Paradies ist. Die Propaganda soll konditionieren: Die Knäste sind außer Kontrolle, die harte Hand muß durchgreifen und: reformieren. Kartal ist ein Reformknast. 1986 gebaut, war er ein sogenannter "E-Typ": Sondergefängnis, höchste Sicherheitsstufe. Nach dem Umbau lautet die Chiffre "F-Typ": Isolations- und Einzelzellen-"Reform". Der Istanbuler IHD-Menschenrechtsverein legte im Frühjahr 2000 eine Studie über Kartal vor: Einzelzellen, 24-Stunden Einschluß, Klo auf der Zelle, Essen durch ein Loch in der Stahltür, kein Tageslicht, keine Sichtmöglichkeit nach draußen, kein Kontakt zu Mitgefangenen, Hofgang unter Stacheldraht, Verwandtenbesuch eine halbe Stunde pro Woche, Verbot von Lebensmittelpaketen. [...]

Die Mafia-Gefangenen in Kartal wickeln ihre Kommunikation mit der Anstaltsleitung über Zimmerboys und Handys ab. Die Gefangenen der islamistischen IBDA-C (Kämpfer des großen islamischen Osten) - eine frühe Abspaltung der Hizbullah-Organisation, die sich der staatlichen Funktionalisierung als Todesschwadron gegen Kurden und die PKK verweigerte - sind dagegen in der Totalisolation. Sie sind die Testratten für das "Labor" Kartal, wie nach dem Selbstmordversuch des IBDA-C-Führers Salih Mirzabeyoglu sein Verteidiger erklärte: "Seit fünf Monaten war er ununterbrochen eingeschlossen. Zuletzt berichtete er über Stimmen im Kopf, über Halluzinationen und ein permanentes Rauschen. Er vermutet, um die Wirkung der Isolation zu potenzieren, wurden seinem Essen möglicherweise Chemikalien oder Drogen zugesetzt." (Yeni Gündem, 30.6.2000)

Auch die Gefangenen der 2. Friedensdelegation der PKK sind in Kartal. Ihr Weg für den Frieden aus dem europäischen Exil in die Türkei endete in den neuen "Europa-Zellen" (Justizminister Turk). Kartal-F-Typ, das ist die türkische Chiffre für Stammheim, den Toten Trakt in Köln-Ossendorf, Frankenthal, Moabit oder Celle. [...]


Tote Trakte

Isolationshaft in Deutschland fand gegen Gefangene aus den Stadtguerillaorganisationen RAF und Bewegung 2. Juni, später auch aus Widerstandsgruppen, in "Toten Trakten" oder isolierten Knastabteilungen statt. Ab Mitte der 70er Jahre in Hochsicherheitstrakten. Kennzeichen dieser Trakte: ständige Beleuchtung, fast völlige Stille, weiße Einrichtung und Zellenwände, Verbot, etwas an die Wand zu hängen, und nahezu ununterbrochene Überwachung. Dazu Kommunikationsverbot, Postzensur, Besuchsüberwachung, Kontaktverbot und Trennscheibe bei Besuchen. Andere Gefangene sollten weder visuell noch akustisch wahrgenommen werden. [...]

Isolationshaft ist auch ein deutsches Exportprodukt. In Spanien wurden die "Europa-Zellen" 1987 gegen den Widerstand der politischen Gefangenenkollektive eingeführt. Auch Spanien war damals - wie die Türkei heute - ein EU-Kandidat. Die Bundesregierung bestätigte unlängst, daß bereits 1990 türkische Beamte die JVA Stammheim besichtigten, um sich über die europäische Gefängnisnorm zu informieren.

Die Kampagne Libertad! fordert alle fortschrittlichen, demokratischen, linken Initiativen und Menschen auf, mit ihren Ideen und Möglichkeiten für den Schutz der Gefangenen und gegen die Isolationsgefängnisse einzutreten: von der Faxkette bis zur Protestaktion, von eigenen Aufrufen für Bündnisse und Initiativen bis zur Teilnahme an Solidaritätsdelegationen ...


Libertad!, 28. Juli 2000


[Redaktionell stark gekürzt; Überschrift von der kassiber-Redaktion. Die vollständige Fassung des libertad!-Aufrufs (im Original: "Kein Stammheim am Bosporus - 11 Argumente gegen die Einführung der Isolations- und Einzelhaftgefängnisse in der Türkei") findet sich unter www.libertad.de/projekte/spezial/tuerkei bzw. ist bei Libertad!, Falkstraße 74, 60487 Frankfurt, Fax: 069-79201774, eMail: kampagne@libertad.de, zu erhalten.]


Weitere Informationen finden sich unter:
Libertad!, Internet: http://www.libertad.de/projekte/spezial/tuerkei
So oder So - Zeitung der Kampagne Libertad!, Internet: http://www.sooderso.de
Informationsstelle Kurdistan e.V. (IsKu), Internet: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku
Komitee gegen die Isolationshaft (IKM - Izolasyon Iskencesine Karsi Mücadele Komitesi), Internet: http://www.noisolation.de
Özgür Politika, Tageszeitung, (engl. News), Internet: http://www.kurdishobserver.com
IHD-Menschenrechtsvereine in der Türkei (Sektion Istanbul, Gefängniskommission), Internet: http://www.ihd.org.tr

 


Die Wissenschaft der Isolation

Unter sensorischer Deprivation verstehen wir eine drastische Einschränkung - Deprivation - der sinnlichen Wahrnehmung - des Sensoriums -, durch die der Mensch sich in seiner Umwelt orientiert, also Isolation von der Umwelt durch Aushungerung der Seh-, Hör-, Riech-, Geschmacks- und Tastorgane. ... Sensorische Deprivation ist - weil sie nur unter von Menschen arbeitsteilig produzierten Bedingungen durchgeführt werden kann - zugleich die menschlichste und unmenschlichste Methode der verzögerten Auslöschung von Leben. Über Monate und Jahre angewendet, ist sie der sprichwörtliche "perfekte Mord", für den keiner - oder alle, außer den Opfern - verantwortlich sind.

Die rein wissenschaftliche Erforschung der Auswirkungen der sensorischen Deprivation wurde erst vor etwa 20 Jahren systematisch in Angriff genommen. Vorläufer der Isolierzellen, in denen sensorische Deprivation durchgeführt wird, sind nicht nur die Tigerkäfige, die Isolierabteilungen psychiatrischer Krankenhäuser, Gefängnisse und Konzentrationslager, sondern schon viel früher die Felshöhlen und Kellerräume, in denen Menschen eingemauert wurden, die sogenannten "oubliettes". Aus dem vorigen Jahrhundert stammt ein reiches Arsenal von Zellen-Einrichtungen, auf dem unser heutiges Gefängniswesen noch immer aufbaut. ... In derartigen (Isolier)Zellen wurden zu Beginn der fünfziger Jahre mit Menschen in Absonderungssituationen Beobachtungen angestellt und Versuche durchgeführt. Gegen Ende der fünfziger Jahre wurden für diese Zwecke besondere Experimentierzellen gebaut, vor allem in den USA und in Kanada, die sogenannten "silent rooms". Viel später wurden derartige Forschungen in Deutschland aufgenommen, wo sich momentan die am meisten perfektionierte "stille Zelle" befindet: im "Laboratorium für klinische Verhaltensforschung" an der Universität Hamburg. Hier werden nicht nur körperliche Reaktionen von Versuchspersonen beobachtet und gemessen, sondern auch psychologische Testmaßstäbe erarbeitet an Versuchspersonen, die sich für einige Zeit in die "camera silenta" begeben. ... Es wird behauptet, daß die Reaktionen von Menschen eine Indikation des "wesentlichen Kerns der Persönlichkeit" seien. Dem Richter wird so ein Freibrief ausgestellt, die verhafteten, "ihm anvertrauten" Personen unter den Folterdruck der sensorischen Deprivation zu setzen, um mit der "eigentlichen" Person sprechen zu können.

[Sjen Teuns, Facharzt für Psychiatrie, auf einer Veranstaltung gegen die Folter an den politischen Gefangenen 1973 in Frankfurt/Main]


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kombo(p) - 16.05.2001