Ein Auszug aus - kassiber 45 - Mai 2001

Rezensionen


NS-Zwangsarbeit und (verweigerte) Entschädigung


"Stiften gehen" ist ein Sammelband, der die Thematik veranschaulicht darstellt und die rechtlichen Aspekte der Entschädigung begreiflich macht. Die Auswahl der Aufsätze ist gut aufeinander abgestimmt. Der Band enthält sieben Aufsätze zu Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und sechs Texte zur sog. Entschädigung von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen.

Zwei einführende Artikel machen die Dimension des Einsatzes von ausländischen ZwangsarbeiterInnen während des NS deutlich: Im August/September 1944 gibt es auf dem Boden des "Grossdeutschen Reiches" 1,9 Millionen Kriegsgefangene im "Arbeitseinsatz" sowie 5,9 Millionen zivile ZwangsarbeiterInnen. Von den insgesamt 7,8 Millionen Menschen arbeiten ca. 45 Prozent in der Landwirtschaft, der Rest in der Industrie, vor allem im Bergbau und in der Metallindustrie. Mit den Kriegsjahren steigt die Bedeutung, die die Sklavenarbeiterinnen für die Aufrechterhaltung der deutschen Kriegswirtschaft haben, immer weiter an. 1941 betrug der Anteil ausländischer Beschäftigter 8,5 Prozent aller Beschäftigten inne, 1944 ein Fünftel aller Arbeitskräfte in Deutschland ZwangsarbeiterInnen.

Weitere Beiträge stellen das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) vor oder gehen auf das Verhältnis von Zwangsarbeit und Arbeitsverwaltung, sprich die Arbeitsämter und die konkrete Organisation des Einsatzes der ZwangsarbeiterInnen ein. Drei speziellere Beiträge behandeln detaillierter die Zwangsarbeit in der Landwirtschaft, in deutschen Haushalten (sog. hauswirtschaftliche Ostarbeiterinnen) und die Kommunen als Nutznießer von Zwangsarbeit. In den Beiträgen werden die schlechten Lebensbedingungen, die rassistische Unterwerfungspraxis und die NutznießerInnen geschildert. Das System der Lager und der Zwangsarbeit war in sich nochmals gestaffelt: Am unteren Ende der oftmals über Leben und Tod entscheidenden Hierarchie standen sowjetische Kriegsgefangene und JüdInnen aller Nationalitäten.

Im zweiten Teil stellt Thomas Kuczynski zusammenfassend seine Untersuchung über die aus der Zwangsarbeit resultierenden Entschädigungsansprüche vor, als deren heutigen Wert er 180 Milliarden DM errechnet - zum Vergleich: Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft und der Bundesregierung sieht 10 Milliarden vor. Rolf Surmann zeichnet die Geschichte der (verweigerten) Entschädigung in den ersten vierzig Jahren der Bundesrepublik nach. Zum Beispiel konnten und durften nach deutschem Recht bis 1989 Zwangsarbeiterinnen aus den Staaten des Warschauer Paktes keine Ansprüche geltend machen. Lothar Evers, der Sprecher des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte (www.nsberatung.de), berichtet von den Ausflüchten der Wirtschaft bei den Verhandlungen und ihrem Willen sich um fast jeden Preis vor Leistungen zu drücken. Sie war der Meinung, sie zahle besser gar nichts, da das "begangene Unrecht mit Geld eh nicht mehr wieder gut zu machen" und Entschädigungszahlungen doch ein unzumutbarer bürokratischer Aufwand sei. Die PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke, die Berichterstatterin ihrer Fraktion bei den Beratungen über das Stiftungsgesetz im Bundestag war, gibt einen guten Überblick über den skandalösen und doch so normal-deutschen Verlauf der Verhandlungen über die Entschädigung und die Stiftungsinitiative in den Jahren 1998-2000. Ziel der am Ende dann zustandegekommenen Stiftung ist der Schutz deutscher Unternehmen vor weiteren Forderungen, nicht etwa ein Ausgleich der geleisteten Arbeit, geschweige denn der physischen und psychischen Schäden. Den letzten Beitrag liefert die antideutsche "Gruppe 3" aus Frankfurt (www.antide.org), in dem antisemitische Stereotype in der öffentlichen Debatte um Entschädigung untersucht werden.

Als Quintessenz lässt sich festhalten: Die Zwangsarbeit war für die Aufrechterhaltung der nazistischen Kriegswirtschaft während des Krieges von grosser Bedeutung. Durch ZwangsarbeiterInnen waren ab 1943/44 die Verlagerungen von Industrieanlagen möglich, die dazu führten, dass das hohe Produktionspotential der deutschen Industrie über das Kriegsende hinweg gerettet wurde - ein Umstand, der dann wiederum das bundesdeutsche Wirtschaftwunder der 50er Jahre mit ermöglichte. Entschädigung oder Wiedergutmachung gibt es nur, das lässt sich die deutsche Wirtschaft nicht nehmen, aus moralischen Gründen, nicht etwa aus einer rechtlichen Verpflichtung.

Die seit 1985 erscheinenden "Dachauer Hefte" widmen sich in ihrer neuesten Ausgabe von November 2000 ebenfalls der Zwangsarbeit. Sie enthalten - im Gegensatz zu "Stiften gehen" - auch Berichte von ZwangsarbeiterInnen. Dies gehört zum Konzept dieser Buchreihe zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager,die im Auftrag des Comité International de Dachau herausgegeben wird. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, gibt einen Überblick über die Geschichte, die Dimension und die Organisation der Zwangsarbeit. In weiteren Aufsätzen berichten Wolf Gruner über den Arbeitseinsatz von österreichischen JüdInnen, Anette Eberle über Zwangsfürsorge gegenüber "Asozialen" und Bernd Wagner über Häftlingsarbeit für die IG-Farben in Auschwitz-Monowitz. Christa Schikorra untersucht die Zwangsprostitution weiblicher KZ-Häftlinge, die in vielen Berichten von Überlebenden oder auch in wissenschaftlichen Werken fälschlicherweise, so Schikorra, nicht als Zwangsarbeit angesehen wird. Neben vier Berichten von Überlebenden findet sich noch ein Text zu den juristischen Aspekten der "Wiedergutmachung" und zur diskriminierenden Behandlung sowjetischer ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangener nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion: Vielen von ihnen wurde absurderweise unterstellt, sie hätten mit dem Feind kollaboriert, ein Vorwurf der nach Jahren im Lager in Deutschland besonders perfide war.


Oliver Winkel


* Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, PapyRossa Verlag, Köln 2000, 274 S., 29,80 DM (www.papyrossa.de)
* Dachauer Hefte Nr. 16: Zwangsarbeit, Verlag Dachauer Hefte, Alte Römerstr. 75, 85221 Dachau, 226 S., 22 DM



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kombo(p) - 16.05.2001